"Wer spricht da bitte? Was sind sie? Agent? Was für ein Agent? Geheimagent? Hahaha! - Oh ...!"
Die Verbindung war wirklich lausig. Irgendwas schien mit dem Satelliten nicht zu stimmen, der das Gespräch von dem einen auf das andere Mobiltelefon leitete. So schlecht waren doch die
Verbindungen aus London sonst nicht!
Was der Anrufer zu sagen hatte, lag so weit entfernt von dem, was Florentin erwartet hatte, daß dieser vor lauter Überraschung keinen vernünftigen Satz zustande brachte. Irgendwie konnte er
es dem Herren am anderen Ende der Leitung begreiflich machen, daß er sich für Verpflichtungen und Angebote bitte an seine Künstleragentur wenden solle.
Nachdem das Gespräch beendet war, hielt Florentin sich an einer Straßenlaterne fest. Alles drehte sich. Er befürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Gab es hier eine Bank? Er hätte sich gern
gesetzt. Natürlich nicht. Da, die Treppe. Er ließ sich auf den Stufen nieder. Mit zitternder Hand tippte er auf die 1, unter der sein Agent abgespeichert war.
"Haben die sich schon bei euch gemeldet? Nein? Dann kommt das noch. Ich habe es geschafft, Stefan. Endlich. Eine Rolle in einem Film. Eine Nebenrolle. Aber das ist ein Anfang! Hollywood, ich
komme!"
Er dachte an Demeter und ihre Zurückweisung. Das würde sie bereuen. Aber an der Spitze war man eben einsam. Da war nur Platz für einen. Tja, mein Kind! Das Leben, das ich dir nun hätte bieten
können, hast du nicht gewollt! Wieviel andere mochte es geben, die sich nach seiner Bekanntschaft drängten!
"Ich muß darauf bestehen. Ich möchte die Frau Doktor sprechen!"
Schwester Friedel Kipp ließ sich nicht abweisen. Sie hielt eine CD in der rechten Hand, und trommelte ungeduldig mit den Fingern der Linken auf dem Tresen herum.
"Ich frag die Frau Doktor, Frau Kipp. Seien sie doch so lieb, setzen sie sich kurz ins Wartezimmer!"
Friederike Kipp hatte sich nicht mit der erneuten Verordnung eines Antibiotikums zufrieden gegeben. Sie war auf eigene Faust zum Facharzt gegangen, der mit Ultraschall und Blasenspiegelung
einen kirschgroßen Tumor an der Blasenhinterwand ausgemacht hatte. Der Urologe hatte sie noch zur Computertomografie geschickt, um Auskunft darüber zu bekommen, ob der Tumor sich bereits
ausgebreitet hatte. Danach allerdings sah es nicht aus.
"Das ist ein Kunstfehler, Frau Dr. In den Birken. Sie haben mich zweimal behandelt, als hätte ich einen Harnwegsinfekt. Aber ich hatte keine Schmerzen. Nur Blut. Der Urologe sagt, daß ich den
Blasenkrebs mindestens seit einem halben Jahr habe."
Heide In den Birkens Gesicht brannte. Die Patientin hatte recht. Sie hatte eine Fehldiagnose gestellt. Schmerzlose Blutabgänge aus der Blase! Das war immer Hinweis auf etwas Übles!
"Dabei hatte ich Ihnen schon beim ersten Mal gesagt, daß ich zum Röntgen möchte!"
"Naja, nicht ganz! Sie hatten gefragt, ob Röntgen nicht besser sei ... das ist ein Unterschied! Einfach so zu röntgen, auf Verdacht, das erlaubt die Kasse gar nicht! "
"Frau Doktor, wollen sie abstreiten, daß es den Tumor gezeigt hätte?"
"Nein, das will ich nicht. Aber ihnen, Frau Kipp, ist kein Schaden entstanden. Eine Verzögerung von 14 Tagen ist sicher zu verschmerzen. Wir wissen ja jetzt, was los ist. Ich schreibe ihnen
eine Einweisung... "
"Fräulein Kipp, bitte. Fräulein Kipp. Wenn ich nicht zum Urologen gegangen wäre, wären es mehr als nur 14 Tage geworden. Der Herr Doktor hat gesagt, sofort operieren, und keine Zeit
verlieren! Und danke, nicht nötig. Der Herr Doktor hat mir schon die Einweisung gegeben, und mir ein Bett besorgt. In vier Tagen werde ich operiert."
Die Ärztin warf den Kopf zurück und schüttelte den Kopf.
"Gedenken sie, etwas gegen mich zu unternehmen?"
"Das hängt vom Ergebnis der Operation ab. Ich war bisher immer sehr zufrieden hier, Frau Doktor. Aber wenn ich mich nicht mehr auf sie verlassen kann ..."
Die pensionierte Krankenschwester erhob sich und steuerte den Ausgang an.
"Fräulein Kipp?"
"Ja?"
"Ich bitte sie um Entschuldigung. In aller Form. Ich hoffe, daß sie mir vergeben können."
Friedel Kipp hielt kurz inne. Dann zeigte sich ein kaum merkliches Lächeln auf ihren Lippen.
"Danke, Frau Doktor."
Beate kam eine Viertelstunde später, als gedacht, von ihrer Station weg. Bei einer Privatpatientin vom Chef wurde die Medikation umgestellt, und der Professor hatte dies mit ihr umständlich
erörtert.
Jasper stand frierend in der Kälte.
"Entschuldige, daß du warten mußtest, aber Professor Haberland wurde und wurde nicht fertig!"
Statt einer Antwort nahm er sie in den Arm und drückte sie.
"Komm, laß uns gehen!"
Er führte sie aus. Ins beste Restaurant der Stadt.
"Jasper! Das ist doch viel zu teuer!"
Der Tisch war speziell dekoriert. Die Kellner aufmerksamer als sonst. Die Speisen delikat. Blumen und Kerzen verbreiteten Romantik. Dann kam der Chef aus der Küche, erkundigte sich, ob das
Menü gemundet hätte.
Nachdem Beate dies bestätigt hatte, kündigte der Maître noch einen besonderen Nachtisch an. Er schnipste mit den Fingern, woraufhin ein Junge mit einem Silbertablett hereinstolperte. Auf
diesem Tablett befand sich ein Umschlag.
"Jasper! Ich ... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!"
Beate hatte Tränen in den Augen. Was für eine wunderbare Überraschung. Wie hatte er das bloß hinbekommen? Er hatte ihr eine kleine Statistenrolle in ihrer Lieblingsserie, der 'Lindenstraße',
besorgt. Was kam jetzt? Er grub in seiner Jackettasche und förderte einen Zettel zutage, den er vorlas, mit leiser Stimme.
"Ich hab dich immer als selbstverständlich angesehen, Beate. Ich hab begriffen, daß du das nicht bist. Ich bin nicht so klug, und so aufmerksam, wie du es verdienst. Chips, Bier, Sportschau.
Das ist für mich zu Hause, Feierabend, Entspannung. Dabei bist du mein Zuhause, klar. Ich hab dich vernachlässigt. Das tut mir leid. Ich mach das jetzt besser, ich versprechs. Bitte bleib bei
mir."
So viel Wörter hatte er noch nie am Stück und hintereinander zu ihr gesagt. Noch nie. Dies Gefühl von Freude, Wärme, Nähe ... wann hatte sie das zuletzt gespürt?
Frau von Hayn saß an ihrem kleinen, zierlichen Sekretär aus Kirschbaumholz. Die Feder ihres Füllfederhalters kratzte über das Papier und hinterließ feine, blauschwarze Linien in ihrer
gestochenen Handschrift. Sie schrieb, als gelte es, etwas sehr Wichtiges zu Ende zu bringen, ohne zu wissen, ob die Zeit dafür noch ausreichte.
Sie hatte zwei Seiten ihres hellgelben Briefpapiers mit dem geprägten Familienwappen derer von Hayn beschrieben. Dann faltete sie die Bögen sorgfältig und ließ sie in ein Kuvert gleiten.
Gleich morgen früh würde sie dem Umschlag beim Notar hinterlegen.
Befriedigt schraubte sie die Kappe auf das Schreibgerät.
Jetzt eine Zigarette. Die hatte sie sich verdient. Und einen Sherry. Ja, das konnte sie jetzt gut vertragen.
Die Kirche war ziemlich voll. Die Glocken hatten die Gemeinde zur heiligen Messe gerufen, und die Gemeinde war erschienen.
Die Ordnung des Gottesdienstes, die altbekannten Worte der Lithurgie, die Lesung, die Orgelmusik, der Gesang der Gemeinde ... all das hatte etwas wunderbar Vertrautes, Heimeliges.
"Der Herr sei mit euch!"
"Und mit deinem Geist!"
Korbinian war in einer Art Harakiri-Stimmung. Er wußte, daß seine Predigt ihn seine Existenz kosten würde. Aber er hatte begriffen, daß seine Existenz mehr bedeutete, als sein Beruf, soziale
Absicherung, und sein Ansehen in der Öffentlichkeit. Das, was er tat, die Art, wie er lebte, mit Heimlichkeiten, Unaufrichtigkeiten, Ängsten davor, entdeckt zu werden, waren unwürdig und
alles andere als echt.
Verdiente er es nicht, authentisch zu leben? Glücklich zu sein? Was war so verwerflich daran, sich nach Liebe und Geborgenheit zu sehnen? Standen ihm diese Bedürfnisse nicht zu?
Er hatte die Stola wie immer geküßt, bevor er sie umlegte. Den Meßdienern hatte er gesagt, "Los, Männer, packen wir's!", was von diesen mit vorsichtigem Gelächter quittiert wurde.
Und nun stand er auf der Kanzel und verkündete das Lukas-Evangelium, die Vergebung der Schuld. Eindringlich sah er seine Gemeindemitglieder an. In seiner Anfangszeit, als er noch ängstlich
und aufgeregt vor jeder Predigt war, konnte er einzelne Gesichter nicht unterscheiden, sie zerflossen vor seinen Augen zu einer gestaltlosen Masse.
Inzwischen hatte er gelernt, einzelne Gemeindemitglieder zu erkennen und anzusehen. Schon während der Predigt, nicht nur beim obligatorischen Verabschieden am Ende des Gottesdienstes vor der
Kirche.
"Dies hier wird meine letzte Predigt", verkündete er.
Ein Raunen ging durch die Gemeinde.
"Ich habe Ihnen diese Ankündigung zu machen. Ich muß Ihnen sagen, daß ich einen Menschen gefunden habe, schon vor mehr als zehn Jahren, mit dem ich mein Leben bisher geteilt habe. Dies ist
von der heiligen Mutter Kirche nicht erlaubt. Wir Priester haben im Zölibat zu leben. Und hinter dieser Vorschrift habe ich mich versteckt, weil ich damit glaubte, den Fragen nach Heirat und
Kindern entgehen zu können.
Ich habe meinen Lebensgefährten ..." - ein abermaliges Raunen erfüllte das Kirchenschiff - "... meinen Lebensgefährten verleugnet, statt voll Stolz zu ihm zu stehen. Ich habe ihn verborgen,
und ich habe ihm, in einem Moment der Schwäche, unendlich wehgetan. Jetzt ist dieses Spiel beendet. Endgültig.
Ich habe zwei Halte-, zwei Bezugspunkte in meinem Leben verloren. Meine beiden Mütter. Meine leibliche Mutter, und die Mutter Kirche. Aber das alles ist mir nicht wichtig.
Ich habe diesen Mann vor 12 Jahren kennengelernt, auf einer privaten Feier.
Ich hatte nur Augen für ihn, und er lächelte, als lächelte er nur für mich. Seither war er mein wichtigster Halt im Leben. Ich hoffe und bete, daß er sich an dies erinnert, und mir vergibt."
Plötzlich sah er Lukas, in der letzten Reihe sitzend. Er hatte offenbar dem Gottesdienst beigewohnt. Er sah ganz blaß aus, mit weit aufgerissenen Augen.
"Liebe Gemeinde, ich danke Ihnen allen für ihre Treue, und ich wünsche ihnen von Herzen Gottes Segen."
Er trat vor den Altar.
"Es segne euch und es behüte euch der dreieinige Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist."
Mit dem Kreuzzeichen entließ er die Gemeinde.
Etwas Unerhörtes geschah. Irgendwo begann jemand, in die Hände zu klatschen. Ein Zweiter, ein Dritter folgte, dann applaudierten alle ihrem Pfarrer. Der Organist intonierte das Postludium.
Korbinian Heydenreich schritt durch den Mittelgang, unter dem Beifall seiner Gemeinde, zur Pforte. Plötzlich stand Lukas vor ihm.
Sie umarmten sich und hielten sich. Lukas nutzte die Gelegenheit, etwas in sein Ohr zu flüstern.
"Du Drama-Queen! Du bist ein Idiot! Und was sollte jetzt dies Bekenntnis? Jetzt müssen wir eine Wohnung suchen. Und Arbeit für dich. Kannst du überhaupt was Sinnvolles - außer klug
daherzureden?"
Geschichten gehen zu Ende. Diese hier auch.
Es bleibt noch einiges nachzutragen. Zum Beispiel der Blasenkrebs bei Fräulein Kipp. Gottlob war er nur oberflächlich und konnte mühelos entfernt werden. Frau Dr. In den Birken schreibt jedes
Quartal eine Überweisung zum Urologen. So etwas kann wiederkommen.
Heide In den Birken hat leider nichts aus ihrem Kunstfehler gelernt. Etwas Demut hätte sie empfinden können, oder? Na gut, sie ist vielleicht etwas verbindlicher geworden, aber sie ist nach
wie vor kühl, gefaßt, perfekt. Und sie tobt sich gelegentlich im Club aus.
Florentin Forchheimer erhielt eine Rolle, allerdings nicht, wie erhofft, in Hollywood, sondern in Mumbai. In Bollywood. Er spielte einen Polizei-Offizier. Nach drei Drehtagen trank er in
seinem Hotelzimmer ein Glas Wasser auf der Leitung, was ihm eine scheußliche Durchfallerkrankung einbrachte. Völlig frustriert kehrte er nach Deutschland zurück. Im Augenblick sieht man ihn
überwiegend in der Fernsehwerbung.
Beate und Jasper Thormählen haben es geschafft. Die Aussicht, seine Frau zu verlieren, hatte ihn derartig erschreckt, daß er buchstäblich in letzter Sekunde das Ruder herumriß. Die beiden
gehen sogar zu einer Partnertherapie. Und der kleine Auftritt in der Lindenstraße fiel zwar der Schere der Cutterin zum Opfer, aber trotzdem gehörte das Drum und Dran am Set zu den
aufregenden Momenten in Beates Leben.
Tristan Richter ist inzwischen ein liebevoller und sehr aufmerksamer Großvater geworden. Der Krümel ist zauberhaft, schokoladenbraun, weil sein Vater aus Gambia stammt, und mit seinen
riesigen Augen wickelt er alle um die speckigen kleinen Finger und wird von allen Seiten verwöhnt.
Demeter Frei hat ihre Brustkrebserkrankung nicht überlebt. Zunächst sah alles gut aus, aber die Tumormarker wollten nicht fallen, trotz Chemotherapie. Bei einer Nachsorgeuntersuchung fand man
in einer computertomografischen Untersuchung des Kopfes Töchtergeschwülste im Gehirn. Die Ärzte versuchten, diese mit einer Bestrahlung in Grenzen zu halten, was aber nur einen kurzen
Aufschub einbrachte. Demeter verlor bald ihr Bewußtsein und starb, ohne es wiedererlangt zu haben.
Lukas und Korbinian eröffneten eine Kneipe. Das Ding ist immer bis unter den Rand voll, die Laune ist blendend, und jeder fühlt sich dort wohl. Es hatte ein wenig gedauert, aber irgendwann
meldete sich seine Mutter. Korbinian wollte zuerst nicht darauf reagieren, aber Lukas hatte ihn auf das Thema seiner letzten Predigt hingewiesen. Trotzdem, die ehemalige Vertrautheit stellte
sich nur schwer wieder ein. Es ist sehr kompliziert, einmal abgerissene Brücken wieder aufzubauen.
Spiridon hatte nach Beendigung der Therapie nicht zuerst seine Eltern, sondern das weiße Haus aufgesucht, um Frau von Hayn zu sehen. Voll Stolz wollte er ihr sagen, daß er es geschafft hatte,
seinem Versprechen gemäß.
Ihre Tür war abgeschlossen, das Namensschild entfernt.
Er rannte zum Büro der Leiterin.
Frau von Hayn war vor einer Woche verstorben. Er möge dringend den Notar aufsuchen.
Bei diesem erfuhr Spiridon, daß sie ihn zum Alleinerben eines bescheidenen Vermögens eingesetzt hatte. Ihre beiden Töchter erhielten lediglich den Pflichtteil.
Außerdem übergab ihm der Notar eine kleine Schatulle, in der neben der Brosche und der Zigarettenspitze der Verstorbenen auch ein Brief lag.
"Mein lieber Junge, wenn du diesen Brief liest, ist mein Leben beendet. Das ist etwas ärgerlich, denn ich hätte gern noch mit dir deinen Sieg über die Drogensucht gefeiert.
Der Notar wird dir meinen letzten Willen schon verkündet haben. Ich möchte, daß du die Schule beendest, studierst und ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft wirst. Dabei wird
dir der kleine Geldbetrag vielleicht etwas helfen.
Um alles zu verstehen, muß ich dir ein Geheimnis anvertrauen. Vor meiner Ehe mit dem Freiherren empfing ich von einem leichtfertigen Menschen, in den ich mich als junges, unerfahrenes Ding
verliebt hatte, ein Kind, einen Knaben. Heribert wußte das, und er ließ mein Vorleben keinen Einwand gegen unsere Ehe sein. Das Kind allerdings mußte ich zur Adoption freigeben.
Mein lieber Junge, ich danke dir für die kurze, aufregende Zeit mit dir. Ich habe dich als Geschenk, vielleicht als Abschiedsgeschenk vom Schicksal, wahrgenommen. Vielleicht verstehst du, was
ich meine.
Deine dich liebende
EvH"
Es lag diesem Brief ein altes Schwarz-weiß-Foto bei, daß einen Säugling zeigte. Einen Säugling, erwartungsvoll, mit schwarzen Locken und dunklen Augen, und sehr, sehr hübsch.