Prolog:
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Gottseidank ist der Weg ins Ruhrgebiet von Hamburg aus nicht so weit. Besonders, wenn bei 30 Grad die Klimaanlage plötzlich streikt. Trotzdem erreichen wir das NH-Hotel Oberhausen fast exakt
um 18 Uhr, allerdings etwas erschöpft und deutlich verschwitzt. Egal, schnell aufs Zimmer, duschen, und dann hinein ins volle Menschenleben!
Während ich noch den Koffer aus dem Auto schäle, betritt eine kleine, blasse, mittelalte Frau in kariertem Flanellhemd, Anorak, Jeans und praktischen Wanderschuhen das Hotel und begibt sich
zur Rezeption. Dort wird sie von einer freundlich lächelnden Mitarbeiterin willkommengeheißen.
Ich stelle mich erwartungsvoll an den Arbeitsplatz daneben, immerhin, es gibt vier Positionen. Schade. Die zweite Mitarbeiterin scheint heute frei zu haben, oder - es ist ja nichts los, ich
geh schon mal nach Haus, dafür bleib ich morgen länger - schon im Frei.
Naja. Geduld. Einfach ein wenig Geduld.
"Wenn Sie dies hier einmal ausfüllen möchten?"
Die karierte Frau mit der praktischen Kurzhaarfrisur schaut erst erwartungsvoll auf den dargebotenen Zettel, dann hebt sie den Kopf zur Mitarbeiterin.
"Womit?"
Die uniformierte Rezeptionistin reicht ihr einen Kugelschreiber.
"Alles?"
"Ja, alles."
"Na, dann wollen wir mal ... "
Nach 5 Minuten stehen immerhin der Name und der Vorname auf dem Papier, nachdem noch eine Diskussion, ob man statt Druckbuchstaben auch Schreibschrift verwenden dürfe, stattgefunden hatte.
Ich überbrücke die kurze Wartezeit mit dem lokalen Hotelprospekt, auch denen von Düsseldorf und Berlin, und schlage dann Marcel Proust's "À la recherche du temps perdu" auf. Kurz vor dem Ende
des ersten Kapitels höre ich meine großkarierte Nachbarin erneut.
"Die Postleitzahl? Was Sie alles wissen wollen! Ich kann mich nicht erinnern!" und bückt sich nach ihrem Rucksack, den sie beginnt, nach etwas zu durchforsten, was ihr eventuell einen Hinweis
auf die gewünschte Information geben könnte.
Ich habe ja auch noch mein iPad. Beim vierten Level von "World of Warcraft" entscheidet sich die Dame in Flanell nach ausführlicher Beratung durch die freundlich lächelnde Mitarbeiterin, eine
Zahl hinzuschreiben, von der sie glaubt, daß sie richtig ist. Aber genau wissen täte sie es nicht. Leider.
Ich entschließe mich, schnell die Tagesschau zu sehen, und vielleicht anschließend im Restaurant noch eine warme Mahlzeit zu mir zu nehmen.
"Mitreisende Personen? Was meinen Sie mit 'Mitreisende Personen'? Ich reise allein!"
Ich unterdrücke nur mit Mühe das Bedürfnis, ihr ein aufmunterndes 'Das glaube ich Ihnen gern!' entgegenzurufen.
Nein. Eine Kreditkarte habe sie nicht.
Dann müsse sie bar und im Voraus bezahlen, meint streng die geschulte Fachkraft. Die Suche nach der Geldbörse - Marke Aquapack wasserfest von Globetrotter - beginnt.
"Das war nämlich ein Sonderangebot. Und so praktisch!"
Ich habe inzwischen einen alternativen Wirtschaftsplan für Griechenland erstellt, ein Mittel gegen Krebs entwickelt und das Bernsteinzimmer gefunden.
Endlich bin ich dran. Endlich.
Das Goretex der Wanderschuhe quietscht auf dem Fußboden der Halle, der Anorak raschelt heran.
"Wo war noch mal der Lift?"
Das Thema:
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Das Zimmer entspricht dem eines leicht in die Jahre gekommenen Hotels. Die unvermeidliche Wanne im Bad, die kein Mensch braucht und die das Duschen erschwert. Ein leider nur schlecht
funktionierender Dunstabzug , der das Bad in etwas zwischen "The Fog" und türkischem Hamam verwandelt. Ein Fernseher, dessen Fernbedienung nicht funktioniert und der kaum Sender speichert,
nur die italienischen, französischen und - besonders wichtig! - chinesischen empfängt man klar.
Aber: Steckdosen, so viel man will, sehr gute Matratzen, allerdings miese, lange Jahre benutzte Bettdecken und Kissen, eine erfreulich eiskalte Klimaanlage, und auch der Wasserdruck der
Dusche stimmt. Warum allerdings der Spiegel im Bad so wellig wie auf dem Jahrmarkt sein muß, weswegen ich bei längerem Hineinsehen seekrank werde, ist mir völlig unerfindlich.
Das Frühstück allerdings erweist sich fast sensationell, wobei das fast sich mal wieder auf die gummiartigen Teigerzeugnisse bezieht, die man auch als Semmeln, Rundstücke, Weckle oder
Schrippen kennt. Sonst ist alles perfekt, das Personal ist fast liebevoll aufmerksam. Ein Beispiel? Ich balanciere einen Teller, noch einen Teller und eine Tasse zu meinem Platz, den Tee habe
ich im Kännchen zubereitet und muß ihn mangels dritter Hand zunächst am Buffet stehen lassen. Sofort eilt die nette junge Frau mit dem Namen Melanie Scholz herbei und trägt die Kanne an
meinen Tisch. Donnerwetter!
Die Gläser beim Saft haben nicht nur Fingerhut-Format, sondern eine vernünftige Größe, alles ist im Überfluß da, abwechslungsreich, frisch, nett angerichtet. Sogar eine Kinderecke mit
Leckereien, die Eltern, die auf Vollwert-Kost für die Nachkommen reflektiert, Sorgenfalten auf die Stirn zaubert ... Macht Euch mal locker, Leute. Ein Schokolade-Riegel oder ein paar
Gummibärchen haben noch kein Kind getötet.
Aber bitte, Freunde: Nicht diese Brötchen! Die machen alles kaputt!
Fazit:
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Nerviger, langsamer Check-in, ansonsten eine gute Zeit.
Epilog:
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Vor mir, am Tee, ein großkarierte Rücken. Mittelgroß, praktische Kurzhaarfrisur ... das wird doch nicht ...
"Was nehme ich bloß, was nehme ich bloß!?"
Natürlich. Madame Goretex, die Unentschlossene.
Sie zieht ein Beutelchen mit Lapsang Souchong heraus und studiert aufmerksam das Kleingedruckte auf der Rückseite, vermutlich sogar in allen dargebotenen Sprachen. Das Ergebnis scheint sie
negativ zu berühren, weil sie versucht, das Beutelchen in die Umverpackung aus Pappe zurückzustecken, aber wo war die noch gleich? English Breakfast, Earl Grey, Chamomile, Green Gunpowder
.... Sie setzt zu einem zweiten Versuch an. Diesmal produziert sie ein Tütchen Darjeeling Second Flush.
Ich habe Durst.
Ich erfahre Interessantes, denn auch hier studiert sie sorgfältig den Text, den sie murmelnd zum Besten gibt.
- [ ] "Die Sommerernte ist der Höhepunkt im Erntejahr in Darjeeling. Durch die längere Wachstumsphase nach der Winterruhe, die kräftigere und längere Sonneneinstrahlung, und durch die höheren
Temperaturen haben die Teebüsche mehr Kraft und Aroma entwickelt. Second flush Darjeeling-Tee ist ausgereifter und gehaltvoller im Geschmack, der sich bei Spitzensorten als Muscatell-Flavour
ausbildet. Der Tee-Aufguß ist dunkler als bei first flush-Darjeeling...."
Wer sagt denn, das Reisen nicht bildet?
Aber ich habe immer noch Durst.
Darf man in diesen Situationen schubsen? Oder sich mit einem genervten "entSCHULDIGUNG ...!" an einer Dame vorbeidrängeln?
Ich entschließe mich zur vornehmen Zurückhaltung. Meine biologisch abbaubare Mitbewohnerin wählt den Pfefferminztee, der
ihr immer Verstopfung bereitet, na, da steht uns ja noch was bevor.
Ich habe mich für einen Caffé latte entschieden. Der Automat war gerade frei.
Sie ist weg.
Bei Nacht und Nebel verschwand sie, in ihrer umständlichen, bescheidenen Art.
War ich schuld? Lag es an mir?
An meinem genervten Blick, dem hörbaren Seufzen, dem irritierten Ein- und Ausatmen?
Habe ich ihr das Gefühl vermittelt, zu stören? Überflüssig zu sein?
Man kennt das doch: Jede Frau hat ihre kleinen Capricen. Jede Frau findet den Autoschlüssel erst nach stundenlangem Wühlen in der Handtasche. Jede Frau hat nichts anzuziehen, auch wenn
ihre drei Kleiderschränke sich biegen. Jede Frau braucht dringend genau dies Paar Schuhe, weil es zu der Handtasche paßt, die Dir doch auch so gut gefallen hat, letztes Jahr in Mailand,
und für die sie noch kein passendes Paar besitzt, und weil ihr die Farbe so gut steht, und weil es einfach wunder-, wunderschön ist. Basta. Jede Frau kann nur mit ihrer besten Freundin,
am besten mit der kompletten Entourage, auf die Toilette. Jede Frau kann wunderbar einparken.
Klischees, meint Ihr? Ha! Alles wahr!
Und jetzt ist sie weg.
Ich frage mich: Ist ihr die Postleitzahl wieder eingefallen? Wie bei E.T., nur daß der nach Hause telefonieren wollte. Oder hatte sie kein frisches kariertes Flanellhemd mehr? Oder hat
ihr, Gott bewahre, doch der Pfefferminztee ein behandlungsbedürftiges Verdauungsproblem beschert? Nicht auszudenken!
Das Leben schreitet fort, und auch die praktische Kurzhaarfrisur. Ich bin sicher, daß sie gerade eine Kreditkarte beantragt, Druckbuchstaben übt oder vielleicht sogar nach einer
Partnerschaft Ausschau hält, damit sie nicht immer allein reisen muß. Eine Partnerschaft, die sie erblühen läßt, in der sie ganz Frau sein darf, sich der Befriedigung ihrer sinnlichen
Begierden nicht schämend. Kurz, aus ihrem Alltag ausbricht. Noch einmal durchstartet. Sich neu erfindet.
Bestimmt hat sie entdeckt, daß das Leben mehr für sie bereithält als eine Übernachtung mit Frühstück, das sie sich dann mit Pfefferminztee versaut, und pflegeleichte, wasserdichte,
praktische Kleidung, auch wenn's ein Sonderangebot ist.
Und ganz weg ist sie dann ja auch nicht. Ich trage sie in meiner Erinnerung bei mir, und durch meine Posts ist sie sozusagen unsterblich geworden. Das Internet vergißt eben nie, und
Facebook schon gleich gar nicht.
Alles Gute!