Andere Erfahrungen
Ich habe mich verschätzt. Ich hatte gedacht, kein Problem, 660 km bis Dortmund, und am anderen Tag mal eben schnell in die Niederlande, nach De Bilt. Von wegen, mal eben schnell. Das war wohl nichts! 190 km! Seid wann sind die Niederlande denn so groß? Wachsen die etwa?
Egal. Erstens habe ich es versprochen, und zweitens freue ich mich darauf. Aus zwei Gründen. Ich kenne seine Kunst bisher ja nur von Facebook-Abbildungen, und ich freue mich darauf, den Exponaten gegenüber zu stehen. Und dann: Der Künstler selbst. Wir haben ja schon viel schriftlich ausgetauscht, als Post oder Personal Message. Manchmal sogar in seinem guten und meinem grauenvollen Niederländisch. Aber ihm jetzt gegenüberzustehen - das ist schon was ganz Besonderes. Finde ich, wenigstens.
Die A 12 nimmt kein Ende. ( Warum schreibt man so einen Quatsch? Natürlich nimmt sie ein Ende! ) Die Navigation kommandiert mich jetzt nämlich in Richtung Utrecht, und nun soll ich nach Zeist abfahren. Donnerwetter! Lekker Huisjes stehen da rum! Villen? Paläste! Den ganzen Utrechtse Weg lang! Gepflegte Gärten, Springbrunnen, hohe Gitterzäune drumherum. Botschaften? Firmensitze? Gar die Wochenendhäuschen der königlichen Familie? Nein, ganz normale Menschen leben hier, was auch immer in den Niederlanden „normal“ bedeuten mag!
So, da steht ein Schild mit „De Bilt" drauf. Erst rechts, dann links in die Dorpsstraat. Wo ist Nr. 42? Vermutlich da, wo er steht. Der Mann in dem bunten Pullover und der Kappe. Der, als ich vorbeifahre, mich sofort erkennt und fröhlich winkt. Dem ich dann um den Hals falle. Nicht nur, weil ich endlich angekommen bin. Sondern weil er unglaublich viel Freundlichkeit und Wärme ausstrahlt. Und weil er, das spüre ich unmittelbar, mein Freund ist. Jeroen Kuiper.
Wir helfen der hübschen jungen Frau, Fachkraft für das niederländische Schankwesen, Bänke und Biertisch vor die Tür zu stellen. Es handelt sich um ein kleines Café, in dessen hinterem Raum und auch am Fenster zur Straße die Ausstellung zu betrachten ist.
Ich habe versucht, einige Objekte zu fotografieren, was aber höllisch schwierig ist. Mein Liebling ist der kleine Kerl aus Glas, der das Sektglas absägt. Und die Kugel, auf der ein anderer Glasmann sein Spiegelbild betrachtet - das aber kein Spiegelbild, sondern ein anderer kleiner Mann ist. Ein Samurai-Schwert, überdimensionale Knöpfe, Schrauben, Nadeln und Sicherheitsnadeln, versunkene U-Boote, Bohrinseln, Tiere ... eine wunderschöne, kleine, feine Ausstellung. Ich bin so stolz, Jeroen zu kennen. So unglaublich stolz.
Wir vernichten schnell noch ein paar kopjes koffie. Zu diesen serviert die junge Frau kleine Pralinés, auf deren schokoladig-glattem Deckel Jeroens Objekte abgebildet sind. Er lacht. Als er die gesehen hat, meint er, wusste er, dass er es geschafft habe ...
Und dann ist die Zeit auch schon wieder vorbei. Aber er kommt. Im August. Er hat in der Nähe von Regensburg zu tun, und ich habe angekündigt, ihm die Gegend zu zeigen, bis Salzburg und Innsbruck. Das kennt er nämlich noch nicht.
„Eine neue Studie der University of Pittsburgh will herausgefunden haben, dass dieses Gefühl Einsamkeit ist. Ihre These: Wer mehr Zeit mit sozialen Medien verbringt, fühlt sich einsamer .
Zur Motivation hinter der Studie sagt Hauptautor und Leiter des Pitt's Center for Research on Media, Technology and Health, Brian A. Primack:
Es ist ein wichtiges Problem, das wir hier erforschen, denn psychische Probleme und soziale Isolation verbreiten sich wie eine Epidemie unter jungen Erwachsenen.“
War im ‚Stern‘ zu lesen. Aha.
Naja. Brian A. Primack wird es wissen. Ich mache andere Erfahrungen.
Und ich freue mich auf den August.
Sehr sogar.
Väter und Söhne
Dass man das nicht tun soll, weiß ich. Aber diese verflixten kleinen Apparate, Smartphones, mit immer besseren Kameras verleiten ja förmlich zu diesem Grenzübertritt, zu dieser justiziablen Übertretung und Verletzung guter Sitten und Persönlichkeitsrechte.
Ich habe beide fotografiert. Die chinesische Familie, die indische Familie.
Sie werden fragen, was für Familien? Und wieso: Chinesisch und Indisch?
Kentucky Fried Chicken, Raststätte Geiselwind, A3. Ich knabbere froh an meinem Krautsalat und beobachte die mich umgebenden Leute. Die beiden englischen Truckfahrer hinter mir höre ich nur, einige junge Leute, ein älteres Ehepaar, von dem die Dame des Hauses versucht, den Chicken Wings mit Messer und Gabel zu Leibe zu rücken..
Mir schräg gegenüber die vierköpfige chinesische Familie. Ein etwas grobschlächtiger Vater, eine filigrane Mutter, zwei Kinder. Der Junge ist etwas älter, vielleicht 5 oder 6 Jahre alt. Auf seinem Kopf eine Basecap mit Bayern München-Emblem. Das Mädchen ist vielleicht 3 oder 4 und ähnelt in niedlicher Weise einer Mangazeichnung aus einem Online-Kurs.
Der Vater wirkt auf unerklärliche Weise schlecht gelaunt. Das einzig Heitere an ihm ist sein türkisblaues Brillengestell. In vermutlich lupenreinem Kantonesisch herrscht er seine zarte Gattin an. Oder hört sich Chinesisch eben einfach nur so an? Etwas schroff, kehlig, abgehackt? Ich sehe in sein Gesicht. Den Ausdruck seiner Augen fand ich zuletzt bei einem Mitarbeiter des Finanzamts Hamburg Hansa. Kein Zweifel. Er ist nur begrenzt entspannt.
Der Junge versucht, seinen Vater umzustimmen. Er piekt die Gabel in ein Pommes frites Stückchen und streckt diese mit einem schüchternen Lächeln seinem Vater entgegen. Angewidert dreht dieser den Kopf zur Seite. Sein Rücken beschreibt einen konkaven Bogen, der die Distanz zwischen seinem Gesicht mit den vor Ekel gekräuselten Lippen und dem dargebotenen Bissen vergrößert.
Das Kind zieht die Hand zurück und schaut unglücklich auf den Stapel Kartoffelstücken auf seinem Tablett.
Draußen, neben dem Spielgerät, sitzt eine dreiköpfige indische Familie in der Sonne. Der Junge ist sicher so alt wie der kleine Chinese. Alle drei wirken heiter und gut gelaunt. Während die Mutter mit pinkfarbener Bluse Fröhlichkeit ausstrahlt, wirkt der Vater sehr dunkel. Schwarze Haare, passend zu seiner Kleidung, schwarzes Brillengestell, dunkler Hautton. Einzig seine Zähne blitzen schneeweiß und überzeugend aus seinem lachenden Gesicht hervor. Er hat den Arm um seinen Sohn gelegt. Dessen strohgelbes T-Shirt leuchtet vor dem Schwarz seines Vaters. Die Schuhe hat er von den Füßen gestreift und strampelt mit den Beinen vor Vergnügen und Lachen, weil Papa ihm ganz offensichtlich eine lustige Geschichte erzählt. Ich mache heimlich meine Fotos von den so gegensätzlichen Familien, weil ich das aufschreiben möchte, und weil ich mich frage, warum mich dass berührt.
Zwei Söhne, zwei Väter. Leider hat's bei mir zum Vaterwerden nicht gereicht. Was wäre ich wohl für eine Art Vater geworden? Ich bin mir da gar nicht so sicher. Wie der nette, fröhliche Inder, natürlich? Komm! So nett, und so fröhlich, wie ich immer bin. Skandalös, dieser Chinese.
Nett und fröhlich? Ich rufe eine Hotline an und muss mehr als 20 Minuten warten. Die Mitarbeiterin der Firma, die mich abbekommt, freut sich sicher nicht über meinen Ärger, mit dem ich sie überziehe. Auch die Kassiererin im Supermarkt nicht, der ich achselzuckend einen 100-Euro-Schein zur Bezahlung meiner drei Äpfel hinlege. Oder der eigentlich doch ganz nette Mann auf Facebook, der das Pech hat, etwas anderes zu denken, als ich und von mir deswegen verspottet wird.
Nett und fröhlich? Ja, gut. Aber wehe, wenn ich nicht nett und fröhlich bin! Und vielleicht ist der Chinese im Grunde auch ein netter, fröhlicher Mensch. Ich wünsche es mir.
Nein. Ich wäre auch kein perfekter Vater. Nicht, wenn ich ärgerlich bin, nervös, sarkastisch.
Aber Mühe geben würde ich mir. Dessen bin ich mir sicher.
Diva
Hey, ich bin 'ne Diva! Das erkannte gestern ein ( inzwischen ehemaliger ) Freund. Der Duden weiß: Das ist an sich nichts Schlechtes. „Divus“ bedeutet immerhin göttlich. Also, damit könnte ich leben! Allerdings kommt dann doch noch ein G'schmäckle oben drauf: „Divenhaft“ heißt überspannt, empfindlich, inszeniert - und ist alles andere als göttlich, sondern, euphemistisch gesprochen, eher anstrengend.
Dabei ging es ganz harmlos mit einer vielleicht ungeschickt formulierten Frage zu einem heiklen Thema los. Wobei sich die Frage erhebt, ob Fragen immer geschickt gestellt sein müssen, um bloß nirgendwo anzuecken.
Ehrlich? Das ist mir scheißegal. War es schon immer. Ich verfolge keine Karriere im diplomatischen Dienst. Ich rede mit Menschen. Und wenn ich was nicht verstehe, dann frage ich. Ich kann auch nicht erkennen, dass eine Frage das Potential zu einer Verletzung in sich trägt. Es handelt sich um eine Frage, und keine in Stein gemeißelte Geisteshaltung.
Ja, und dann gibt es immer wieder diejenigen, die das lächerlich finden, unintelligent, völliger Quatsch, was Du da sagst, zu oberflächlich, uninformiert. Und die mir, in der nächsten Stufe, nach meinem Versuch der Richtigstellung, erklären, was ich gemeint habe, was ich stattdessen besser hätte meinen sollen, und dass ich eben leider nicht kritikfähig sei, immer gleich eingeschnappt und trotzig, und mich nur „künstlich aufrege“. Diva, eben.
Da ist was Wahres dran. Ich rege mich über zwei Reaktionen tatsächlich auf: Einmal darüber, dass, wenn ich weder eine Frage gestellt noch um Belehrung gebeten habe, man mir plötzlich wie einem dummen Jungen gute Ratschläge aufzwingt. Und darüber, dass, wenn ich eine Frage gestellt habe, man dies zum Anlass nimmt, mich wegen der Frage zu kritisieren, statt sie zu beantworten.
Und dazu kommt noch Verwunderung. Ich bin charakterlich nicht einwandfrei und habe meine Schattenseiten. Ich habe nie behauptet, ein Heiliger zu sein, oder ein philanthropisches Institut. Ich bin mit meinem IQ deutlich über ein halbes Jahrhundert durchs Leben gekommen, auch wenn meine Fähigkeit zu analytischen Denkweisen und insbesondere immer dann, wenn Zahlen im Spiel sind, etwas reduziert erscheint. Aber: Ich bin guten Willens. Ich verängstige niemanden, quäle niemanden, würdige niemanden herab. Ich begegne jedermann auf seiner Ebene. Ich blicke nur auf Menschen herab, die auf andere herabblicken. Ich bin froh, wenn meine Freunde sich untereinander verstehen. Ich bin niemals neidisch und gönne allen jedes Glück der Erde. Und ich würde nie willentlich oder wissentlich jemandem wehtun. Ich bin ein guter Freund und versuche alles, wenn wer mich um Hilfe oder Unterstützung bittet.
Wer behauptet, mich zu kennen, sollte das eigentlich wissen. Wer das nicht weiß, kennt mich nicht. Aber das eben erwarte ich. Mache ich ja auch so. Sogar, wenn ich glaube, etwas zu erkennen, was meiner Auffassung zuwider läuft. Nanu, denke ich ... wie hat er denn das gemeint? Eigentlich ist er doch ganz nett ... und dann frage ich nach. Oder man redet drüber. Bis man es versteht.
Divenhaft, oder? Unerträglich!
Ist in Ordnung. Damit kann, damit muss ich eben leben. Und meine Freunde auch. Sorry. So bin ich leider. Ich sagte ja: Ich hab meine Schattenseiten! Also, Freunde, noch ist es Zeit! Flieht, so lange Ihr noch könnt! Oder denkt mal über eigene Empfindlichkeiten nach. Die Diva in Euch, gewissermaßen. Dann habe wir alle was davon.
Ich kann kein Türkisch!
Wenn man älter wird, ist man kaum noch attraktiv. Das ist nun mal so. Ausgenommen vielleicht die Bond-Darsteller. Oder Johannes Heesters. Das geht Männern nicht anders als Ihnen, meine Damen! Das Eine-Frau-wird-alt-ein-Mann-wird-interessant ist längst überholt. Warum haben Fitnessstudios und plastische Chirurgen Hochkonjunktur? Na also.
Man(n) lernt Bescheidenheit. Ja, man ist eben nicht mehr 20 und zauberhaft jugendlich. Aber man kann wenigstens versuchen, aus dem alten Kerl, der einem verschwiemelt und fett morgens im Spiegel ungläubig entgegenstarrt, alles herauszuholen, was er noch hergibt.
Die Behaarung ist spärlich. Und an völlig sinnlosen Stellen. Immer da, wo man sie nicht haben will. Und geschnitten werden müssten sie auch mal wieder … bloß wann?
Ein Blick auf den Kalender verrät mir, dass ich eigentlich gar keine Zeit für derlei Extravaganzen habe. ( ‚Eigentlich‘ gibt's eigentlich gar nicht, höre ich aus der Ferne die Stimme meines Deutschlehrers. )
Na gut. Ich schwöre mir, beim nächsten Friseur, der am Straßenrand liegt, anzuhalten. Ha! Da ist schon einer. „Haydar Berber“, steht dran. Daneben ein Döner-Imbiß, zur anderen Seite ordnet ein beleibter Gemüsehöker gerade Auberginen um. Haydar selbst steht rauchend vor der Tür, in der Hand einen roten Kaffeebecher mit Halbmond und Morgenstern, auf dem überflüssigerweise noch „Türkiye“ zu lesen ist. Darf man einen Menschen von derartig wichtigen Tätigkeiten abhalten? Andererseits: Ich habe mir geschworen …
„Merhaba!“ Nicht, dass Sie denken, dass ich Türkisch kann. Ich kann kein Türkisch. Ich beherrsche nur Grüß Gott, Danke, und alles Gute zum Bayram. Aber das ist doch schon schön, oder? Haydar sieht mich skeptisch an. Mit einer Kopfbewegung bedeutet er mir, mich auf die Bank für die Wartenden zu setzen. Seine beiden Stühle sind besetzt, mit Jungs um die 20, die stylisch hinten und an den Seiten superkurz geschoren sind, und oben drauf ist so ein kleines, schwarzes, gegeltes Käppchen. Undercut nennt man das, glaube ich.
Der Laden ist kaum größer als ein Badelaken. Aus einem Lautsprecher dröhnt exotische Musik. Eine Sängerin mit rauchiger, tiefer Stimme beklagt das vorzeitige Ableben ihres Geliebten - so hört es sich wenigstens an. Ich kann ja kein Türkisch. Die Jungs sind gerade fertig. Und ich bereue in dieser Sekunde, mich Haydar ausgeliefert zu haben. Was wird er daraufhin mit mir machen? Und wenn ja: Wie kann ich das verhindern? Fluchtgedanken beherrschen mich. Aber zu spät. Haydars knappe, herrische Kopfbewegung zeigt mir, dass ich meinen Arsch gefälligst zum Behandlungsstuhl zu bewegen habe. Ich halte es für gefährlich, ihn zu reizen, zumal er jetzt noch hinzufügt, „Du da sitzen!“
Er wechselt noch einige Worte mit dem Jungen, der den Sitz gerade freigemacht hat, und nimmt zwei Schluck aus der Kaffeetasse. Er redet über mich. Ich meine, ich verstehe kein Türkisch. Aber er redet über mich, das fühle ich. Deutlich. Da! Jetzt lacht er sogar! Das kann ja heiter werden!
Er nähert sich mir. „Wie schneiden?“
Mit einer vagen Bewegung greife ich in die Rolle im Nacken. „Das muss weg“, behaupte ich. Er nähert seinen Mund meinem Ohr. „Undercut, Bruder?“, fragt er, und kichert etwas. Und er kichert noch mehr, als er in meinen Augen Entsetzen entdeckt.
Haydar schnappt sich seinen Kamm und die Schere. Was dann folgt, ist mit dem Wort ‚furios‘ nur unzureichend charakterisiert. Haydar mit den Scherenhänden. Ich höre nur das metallisch klappernde Stakkato der Scherenschläge. Ich bekomme eine Ahnung davon, wie ein Schaf sich bei der Schur fühlt. Der Berg weißer Haare um mich herum wächst bedenklich.
Haydar braucht erstmal eine Pause. Er nimmt seine Zigaretten und geht kurz vor die Tür. Im Spiegel sehe ich, dass mein Vorgänger noch dort steht, eine Dose mit einem Energy-Drink in der Hand. Hoffentlich läßt er Haydar nicht probieren. Sie unterhalten sich angeregt. Klar. Sie sprechen über mich. Bestimmt. Ja, jetzt lachen sie wieder. Sie machen sich lustig über mich. Ganz sicher. Ich kann zwar kein Türkisch, aber so viel ist klar. Ich bin ja nicht blöd! Ich bin …
Haydar kommt zurück. Wortlos setzt er zum zweiten Angriff an. Blitzartig greift er korrgierend auch bei Bart und Augenbrauen ein. Und dann greift er erneut sein Feuerzeug. Was ist jetzt? Schon wieder rauchen?
Mitnichten. Er richtet die Flamme auf mich. Auf mich - gegen mich? Nase, Ohren. Und er kichert schon wieder. Ich sehe im Spiegel meinen Gesichtsausdruck und verstehe ihn. „Haare weg!“ Ohren Gottseidank noch dran, denke ich. Etwas heiß, aber dran. Er löscht mich ab, mit einer alkoholisch-zitronigen Flüssigkeit, die angenehm duftet. Er scheint in diesem Moment 7 Hände zu haben. Es riecht gut, und es fühlt sich gut an. Ich beginne, Haydar zu vertrauen. Und das Ergebnis läßt sich sehen. „Zufrieden?“ Ich sehe ihm gerade in die Augen. „Sehr zufrieden!“ Haydar strahlt, und äußert ein langgezogenes „Niiiice!“
Ich strahle zurück. Glücklich, und erleichtert. Ich versuche eins von den wenigen türkischen Worten, die ich kenne. Ich kann ja kein Türkisch, aber dafür sollte es reichen. „Teşekkür!“ Haydar klopft mir auf die Schulter. „Alles klar, Bruder!“
Ich weiß genau, dass ich Haydar nicht zu letzten Mal gesehen habe. Hat schon meine Oma gesagt. „Man sieht sich immer zweimal im Leben!“ Ob sie dabei an Haydar gedacht hat, weiß ich nicht. Aber das tut nichts zur Sache. Ich freu mich drauf!
Entscheidung des Gewissens
Meine Mutter starb am Brustkrebs. Am 15.11.1992. Sie war am 6. Oktober gerade 59 Jahre alt geworden.
Sie starb, mit medizinisch-lebensverlängernden Maßnahmen, ein Jahr lang. Die Bestrahlung geschah auf ihren ausdrücklichen Wunsch. Sie hatte so viel Hoffnung in ihre eigene Stärke gelegt und immer wieder gesagt: „Ich schaffe das. Ich schaffe alles.“
Irgendwann, ich war nach Cuxhaven gefahren, um sie zu besuchen, sah sie mir in die Augen und fragte. Ich hatte mich vor dieser Frage, die da unweigerlich gestellt werden würde, gefürchtet. Aber ich konnte ihr nicht mehr ausweichen.
„Junge, du bist doch Arzt. Ich habe Metastasen in der Lunge und im Gehirn. Kann ich das schaffen? Glaubst du, dass ich es schaffen kann?“
Diese Worte, keuchend und verzweifelt hervorgestoßen, haben sich bis heute in meine Seele eingebrannt.
Und was tat der Herr Doktor? Er belog seine Mutter. Ich konnte es nicht. Ich konnte es einfach nicht. Ich habe in meinem Leben so viele Patienten gesehen. Niemals habe ich auch nur eine Lüge erzählt. Aber bei meiner Mutter? Es ging nicht. Ich log, dass sich die Balken bogen. Und die Lüge hatte zumindest den Erfolg, dass sie kurze Zeit später friedlich einschlief.
Gewissensentscheidungen … dieses Wort hab ich gestern im Bundestag gehört, und auf Facebook gelesen. Sogar von Freunden. Also, von Menschen, die ich bisher für meine Freunde hielt. Ja, die Abgeordneten seien ihrem Gewissen gefolgt. Schön, dass Frau Merkel den Weg für die „Gewissensentscheidung“ freigemacht habe.
Nein. Es ging nicht um Sterbehilfe, Todesstrafe. Oder von mir aus sogar um Schwangerschaftsabbrüche. Um die Reihenfolge der Rettung mehrerer traumatisierter Personen an einem Unfallort. Nein. Es ging um Abschaffung von Diskriminierung einer Bevölkerungsgruppe. Es ging darum, eine Ungleichbehandlung auf der Basis eines Persönlichkeitsmerkmals abzuschaffen. Eines Merkmals, das man sich nicht ausgesucht hat, mit dem man ausgezeichnet und zu etwas Besonderem wurde.
Wo, bitte, lag die besondere Belastung des Gewissens?
Eine solche Vokabel zu verwenden, halte ich für dumm, ekelhaft und anmaßend. Und ich hoffe, dass die, denen diese Floskel so leicht über die Lippen geht und aus der Feder fließt, niemals in die Lage kommen, eine Gewissensentscheidung treffen zu müssen.
Ermüdende Diskussionen
Es ist unglaublich anstrengend. Es mag notwendig sein, aber glaubt es mir: Es macht einen müde.
Gab es denn früher auch schon so viel dumme Menschen? Hat man einfach nicht darauf geachtet? Oder waren sie gerade eben bloß so dumm, dass sie nicht weiter auffielen? Also, mit einem Quentchen Rest-Klugheit ausgestattet, gewissermaßen?
Kann es sein, dass sich die Dummheit verstärkt hat, weil man den Dummen mehr Plattformen gibt, auf denen sie bei völliger Anonymität endlich einmal zeigen können, zu welch brutalen Glanzleistungen, zu welch unintelligenten Sarkasmen, zu welch menschenverachtenden Überlegungen Sie fähig sind? Es gibt ja sogar schon Maschinen bzw. Humanoide, die gegen eine geringe Gebühr derlei Tiraden ins Netz furzen, egal zu welchem Thema. Hauptsache, rassistisch, feindlich, hass- und neiderfüllt, antisemitisch, getragen von Phobien gegen alles und alle, die an der großen, bitteren Misere dieser ewig Unzufriedenen vermutlich schuld sind. Also, außer ihnen selbst, versteht sich. Denn dass sie wegen persönlicher Defizite vielleicht einen Teil des eigenen Elends selbst zu verantworten haben, kann nicht sein, weil’s nicht sein darf.
Und so verbreitern sich die Dummen im Netz, mit kruden Ansichten über Dinge, von denen sie nichts verstehen, mit Informationen, die fehlerhaft sind, aus Quellen, die unsauberer Recherche entstammen … aber die Nachbarin hat erzählt, und in der BILD und im Focus stand kürzlich auch zu lesen, und RTL hat darüber berichtet, und der nette Herr von der AfD, der gesagt hat, so könne es doch nicht weitergehen. Auf dem Wochenmarkt. Sogar samstags, beim Einkaufen.
Nein, SO kann es wirklich nicht weitergehen. Es ist so entsetzlich ermüdend. Es ist so langweilig, mit immer den gleichen Argumenten auf immer dieselben Anwürfe reagieren zu müssen. Immer wieder die gleichen Diskussionen zu führen. Es wird nur dann spannend, wenn man mal auf jemanden trifft, der WIRKLICH ein Anliegen hat, der TATSÄCHLICH besorgt ist, und bei dem man durch berechtigte Frustration und Enttäuschung hindurch das Bemühen um Verständnis spürt.
Solche gibt es nämlich auch.
Das sind die, bei denen ein humanistisch-humanitäres Restverständnis vorhanden ist. Die man nur immer wieder daran erinnern muss, dass sie Menschen sind, lebende, liebende, atmende, denkende Menschen, genau wie die, denen sie feindlich und misstrauisch gegenüberstehen.
Das sind die, die Schwulen und Lesben gern das Recht auf Gleichbehandlung absprechen möchten, aber die Schwulen, die oben im Haus wohnen, sind eigentlich ganz nett - also, sie riechen gut, und sind immer höflich, und rauchen nicht. Ist mir doch egal, was die machen, so lange sie mich nicht …
Das sind die, die sich nicht grämen, wenn eine Tragödie im Mittelmeer passiert, die aber neulich bei ihrem Autohändler einen afghanischen Praktikanten kennengelernt haben, der sehr nett war, und der schwarze Junge, der mit der Reinigungsfirma das Treppenhaus putzt, war so freundlich, dass sie ihm sogar ein kleines Trinkgeld …
Das sind die, die sich nur noch von der falschen Partei verstanden fühlen, die so wohltuend gegen das Establishment pöbelt, was man sich selbst nicht zu tun wagt, die Dinge anspricht, die so wunderbar befreiend bösartig wirken, weil sie auf Minderheiten einprügeln, die sich nicht wehren ( können ) und damit zum Blitzableiter für die eigene Frustration werden. Und wenn die das tun, ja, dann darf ich das doch auch, oder? Mal so schön rechte Parolen rausschreien, auf Facebook passiert schon nichts …
Bitte, denkt nach. Ich glaube Euch, dass Ihr Euch wirklich im Recht fühlt. Und ich unterstelle Euch, dass Ihr Zweifel habt. Zweifel, die auch mich gelegentlich umtreiben.
Ach! Das wusstet Ihr nicht? Dass auch ich gelegentlich sehr, sehr nachdenklich bin?
Doch, bin ich. Zum Beispiel, nachdem ich kürzlich gelesen hatte, was einige muslimische Freunde zum Thema Gleichstellung gesagt haben. Das war für mich so unerträglich, dass ich mich - besonders, als sich einige als Religions-Sachverständige aufspielten - umgehend von Ihnen befreit habe.
Aber das hat nichts mit meiner grundsätzlichen Haltung zu tun. Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch.
Ihr, die, und wir.
Bitte, vergesst das nicht.
Dann werden unsere Diskussionen nicht so anstrengend, und weniger ermüdend.
Verzweifelte Lage
Heute im Supermarkt. ( Ich weiß, es wird mir keiner glauben, aber .... es ist wahr! Ich schwöre! ) Hinter mir steht eine Dame in ihren Fünfzigern mit Ihrem Einkaufswagen. Ihr Gatte hetzt heran, mit einer großen Packung Toilettenpapier. „Was ist denn das? DREIlagig?“
An dieser Stelle drehe ich mich um. Ich möchte die anspruchsvolle Dame, deren Tonfall zunehmend eine leichte Schärfe gewinnt, genauer in Augenschein nehmen. Er sieht sie an, mit dieser attraktiven Mischung aus Demut und Verzweiflung. „Ja. Dreilagig.“
Kleine Funken sprühen aus ihren jetzt kobaltblauen Augen. Voll Verachtung und Emphase schleudert sie ihm entgegen: „WIR benutzen nur VIERlagiges Toilettenpapier!“
Kalter Schweiß steht auf seiner Stirn, hektische, rote Flecken überziehen sein Gesicht. Er trägt die Packung, die es gar nicht in ihren Einkaufswagen geschafft hat, fort, auf der Suche, seine Lage, zumindest die vierte Lage, zu verbessern. Ah, da kommt er. Zögernd.
„Schatz, das Vierlagige ist aus!“
Ach, so Vieles liegt in ihrem Blick! Warum hat sie ihn bloß geheiratet! Ihr Vater hat ganz recht gehabt, als er sie vor ihm warnte, damals, als sie noch jung waren, voller Leichtsinn und Optimismus. Aber dann war der Kleine unterwegs, und Mama befand, es sei besser, in den sauren Apfel zu beißen - was würden die Nachbarn sagen!?
Gewiss, er hat Ihr vieles geboten im Leben. Ein schnelles Auto. Diverse Hochkaräter. Urlaube in exotischen Ländern, die sie noch nicht einmal auf der Landkarte gefunden hätte. Aber er versagte zunehmend. In jeder Beziehung. Und jetzt sogar beim Klopapier.
Mit kalter Verachtung stößt sie ein „Leg es weg! Wir versuchen es noch bei Rossmann!“ hervor. Er gehorcht aufs Wort.
Und mit boshaftem, genüßlichem Lächeln lege ich die letzte Packung des vierlagigen Toilettenpapiers auf das Laufband ...