Heile Welt gesucht. Dringend.

Eine Freundin hat im Fach Touristik eine wunderbare Bachelor-Arbeit geschrieben, zum Thema Food-Touristik - also, wenn jemand wo hinfährt, um sich dort durch kulinarische, regionale Spezialitäten verwöhnen zu lassen. Außerdem ging es in dieser Arbeit um „künstliche“ Destinationen, z.B. Freizeitparks. 

Diese Arbeit war Anlass für mich, über meine Reisegewohnheiten nachzudenken. Kulinarisch? Naja. Wenn man in Stuttgart weilt, kann man sich ja mal was mit Spätzle, oder eine Maultasche gönnen. Oder in Köln den rheinischen Sauerbraten. In Cuxhaven die fangfrische Seezunge, oder in Berlin eine Currywurst ... Aber so wichtig, wie Nahrungsaufnahme auch ist, soziologisch, existenziell, emotional betrachtet - beim Reisen stellt sie nicht mein Hauptmotiv dar. 

Ich habe eine Vorliebe für die umschriebenen, gern auch künstlichen Ziele. Das rührt von meiner Praxiszeit her. Der Zeit, an die ich mit Schrecken zurückdenke. In der ich ununterbrochen graue Umschläge vom Finanzamt, der HypoVereinsbank, der HASPA, der Kassenärztlichen Vereinigung und Ärztekammer in meinem Briefkasten vorfand, mit Inhalten, die mir den Schlaf raubten, mir Angst machten, drohten, meine Zukunft zu zerstören. Diese Briefe erreichten mich stets freitags. Wie machen die das bloß? Sitzt da jemand und achtet mit deutscher Gründlichkeit darauf, einem verzweifelten Menschen auch noch das Wochenende zu ruinieren? Oder gibt es dafür ein Computerprogramm? 

Am schlimmsten empfand ich den Verlust der Kontrolle. Das Denkschema, wenn ich mich soundso verhalte, ist Dasunddas die Konsequenz, war außer Kraft gesetzt. Die logische Formel, sei anständig, arbeite fleißig, dann geht’s dir auch gut, ging nicht mehr auf. Ich verlor den Überblick, die Ordnung zerbröselte wie ein dröger Keks. 

Auf der Suche nach einem Gegengewicht entdeckte ich für mich Mikrokosmen. Es begann mit großen Einkaufszentren, dem AEZ in Hamburg, der Centro in Oberhausen, den Potsdamer-Platz-Arkaden in Berlin. Letztere verhalfen mir zu der Erkenntnis, dass auch Architektur und Geografie einen umschriebenen Bereich darstellen können. Das Arrangement Potsdamer Platz/Marlene-Dietrich-Platz, von den Berlinern zunächst als „Cyber City“ verspottet, ist heute ein attraktiver Anziehungspunkt mit eigenem Weihnachtsmarkt, Musical/Berlinale-Theater, Kino, Spielbank, Cafés, Restaurants, Bars, Hotels, Wohnungen und eben den Arkaden. 

Disneyfizierte Freizeitparks wie Sierksdorf, Soltau, Rust boten eine ordentliche, übersichtliche, umschriebene Welt. Das, was ich in meinem Leben vermisste. Aber nicht nur die künstlichen Welten boten mir Schutz. Sylt, Helgoland, Usedom, Rügen. Der neue Limbecker Platz in Essen mit Cinemaxx, Collosseum und Bowlingbahn. Kleine Städte wie Rothenburg o.d.T. oder Quedlinburg. Ja, sogar mein enges Heimatstädtchen Cuxhaven, auf das ich zu Studienzeiten mit der mitleidigen Arroganz des Weltbürgers herabgesehen hatte, war mir plötzlich wieder Heimat, und weit genug. 

Was will uns der Dichter hiermit sagen? Ach, nichts weiter. Wie schon gesagt: Ich bekam einen Gedankenanstoß, und habe ein wenig nachgedacht. Entschuldigt die Langeweile, die ich verbreitet habe. 
Ach ja: In meine Mikrokosmen reise ich immer noch gern. Blöd, oder? Dabei bekomme ich gar keine schlimmen Briefe mehr, seit ich die Praxis zugesperrt habe. Der bester Entschluss meines Lebens. 

Ich befürchte aber, dass wir bald alle auf der Suche sein werden, nach einer perfekten, heilen, geordneten Welt, in der wir uns beschützt fühlen, sicher, und gut aufgehoben. Wo werden wir hingehen? Wohin werden wir fliehen? Wird man uns dort so behandeln, wie wir die Geflüchteten? Werden wir uns integrieren können? Unsere Gaumen sind verwöhnt, die Ansprüche schwer zu befriedigen, die Erwartungen hoch. Wir wollen bespaßt werden, um jeden Preis. 

Die Sehnsucht nach Abgrenzung in einer heilen, perfekten Welt ist nicht neu. Neverland, Xanadu, Narnia, Eldorado, Rainbow's End. Das Paradies. Das Land, wo Milch und Honig fließen. Das Schlaraffenland. Alles Träume. Alles Fantasie. Aber es könnte wahr werden - oder? Man muss nur fest genug daran glauben. 
There's a place for us, a time and place for us. Hold my hand and we're half-way there, hold my hand and I'll take you there - somehow, someday, somewhere.“ 



[ Streit sollte man schlichten, oder? Besonders unter Freunden. Und wenn er sich gar zu entwickeln droht, weil man selbst unvorsichtigerweise etwas gepostet bzw. geteilt hat ... eine Freundin meinte auf den Post mit der Statistik, dass sich weniger Leute Urlaub leisten können, dann sollten sie halt sparen, und auf Rauchen und Böller zu Silvester verzichten. Woraufhin ein humorvoller Freund meinte, dass man sich, nähme man nur Wasser und Brot zu sich, sogar ein größeres Auto leisten könnte. 
Ich habe versucht, hiermit Baldrian auf die sich erhebenden Wogen zu gießen ... ]

Darf ich kurz eingreifen? Ich kann euch beide gut verstehen. Ich habe mich immer darüber gewundert, wenn ich am 1.1. eines Jahres mich hausbesuchender Weise durch die Max-Pechstein-Str. quälte. Da wohnten in Mümmelmannsberg die, die es eben nicht geschafft hatten. Für die das Sozialamt zahlte. Und was soll ich sagen? Meterhohe Schichten von Böllern und Feuerwerk. Bei mir gab es dann Diskussionen um die € 10 Praxisgebühr ... 

Ich gebe dir recht, T.. Wenn man die Wohnung kündigt und auf der Parkbank schläft, kann man sich von der eingesparten Miete eine Woche das Ritz, oder das Waldorf Astoria, Vollpension, leisten. Lustig. Irgendwie finde ich auch: Das muss doch wohl beides drin sein, oder? Ich will nicht nur Pommes Schranke. Ich will das Jägerschnitzel mit Beilagen und Nachtisch! Das steht mir zu! 

Ich weiß nicht, aus was für Verhältnissen du kommst. Ich aus sehr kleinen, relativ armen Verhältnissen. Meine Mutter hatte sich scheiden lassen, der Unterhalt, von dem wir lebten, waren die DM 20, die mein Vater monatlich überwies. Gottseidank konnten wir im Haus meiner Oma unterkommen. Ja, und wenn man was haben wollte, ein Gerät, oder den Sonntagsbraten, oder die Woche Harz - dann musste gespart werden. Und erst, wenn man das Geld in der großen Suppenterrine zusammenhatte, und nochmals überprüft worden war, ob man es nicht für Lebensnotwendiges aufbrauchen musste, dann wurde gekauft. Geld von der Bank leihen? Das Konto überziehen? Eine Kreditkarte benutzen? Das war unanständig, und leichtlebig. Das machte man nicht. Unsolide, leichtfertige Menschen taten das. Und man verzichtete mit Stolz auf das, was man sich nicht leisten konnte. 

Deswegen hat F. mit ihrer altmodischen Einlassung recht, findest du nicht? Andererseits, wenn man bedenkt, wir kurz das Leben ist - ach ja, die Karibik! Der neue 3er BMW! Die neue Wohnzimmer-Einrichtung! Und die Fluppen - Kinder, die brauche ich, die müsst ihr mir schon lassen! Ich hab doch sonst nichts an Lastern. Und ich rauch auch ganz leise! Wofür hab ich den Dispo? Und American Express bucht immer nur 10% ab! Und an der Sparkasse steht auf dem Plakat, worauf den warten? Nehmen Sie gern unseren Kredit in Anspruch, leben Sie jetzt! Der Tod kommt früh genug! 

Die Werbung für die schönen Dinge ist sehr effektiv. Wie können uns dem Lebensstil so schwer entziehen. Wir kaufen nicht, weil wir benötigen. Wir kaufen, weil wir sooo gern haben möchten. Und weil’s geil ausschaut, und unser trübsinniges Leben mit ein wenig Freude, und zweifelhaftem Sinn erfüllt. Und auch, um andere zu beeindrucken. Vielleicht sogar, neidisch zu machen. Es steht uns doch auch zu, oder? Wir ackern den ganzen Tag, zahlen pünktlich unsere Steuern und Abgaben - da werden wir doch auch mal an UNS denken dürfen! 

Was richtig ist, weiß ich nicht. Ich habe auch so meine Schwächen, und mein Konto war bestimmt öfter im Minus als im Plus. Aber glaubt mir: Oft habe ich gedacht, was hätte Oma wohl gesagt?! 

Wir sind alle sehr, sehr anspruchsvoll. Lieber ein bisschen mehr, aber dafür was Gutes. Und zwar sofort. Hier und jetzt. 
Die Lebensphilosophie hat sich geändert. Deutlich. Die Frage, die man sich stellen muss, lautet: Ist es denn besser geworden? Bedeutet es mehr Lebensqualität, sich alles zu leisten - ob man es nun kann, oder nicht? 

Als Jugendlicher wünschte ich mir brennend eine Super 8 Kamera. Eine NIZO S 8 musste es sein. Sie stand bei Ringfoto Schattke in der Deichstraße im Fenster, und ich besuchte sie regelmäßig. Knapp DM 600 sollte sie kosten. Unerreichbar. Ich gab Nachhilfestunden, in Latein und Deutsch. 5 Mark für 60 Minuten. Abends schichtete ich die Münzen in Türmchen auf, und freute mich, wie es mehr und mehr wurden. 
Mama fragte mich eines Tages, „Wieviel hast du denn schon?“ Und mit Stolz verkündete ich, dass es nunmehr DM 450 seien. 
Mama zog ihr Portemonnaie heraus, entnahm diesem DM 150, und gab sie mir mit den Worten, „Hier. Sag aber Papa ( meinem Stiefvater ) nichts davon!“

Das Glück, das silberfarbene Prachtstück endlich heimholen zu dürfen, war unbeschreiblich.


Glaubenskriege(r)

Trinkst du Kaffee oder Tee?, habe ich gerade meinen Besucher gefragt. Also, wenn ihr mich fragt, lieber Tee. Mit ganz viel Zitrone. Er wollte lieber Kaffee. Gern, den habe ich da. Alles Ansichtssache, oder Geschmacksfrage. 

Vielleicht sogar, Glaubensfrage? Mir fällt auf, dass sich plötzlich alles in Glaubensfragen verwandelt. Ich meine damit nicht nur die Religionszugehörigkeit, und die damit verbundene Tendenz zur Missionierung, weil ja jeweils meine Religion die Bestmögliche ist. Viel besser als Deine. Oder den alten Klassenkampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus ( gibt’s Kommunismus überhaupt noch? ).

Nein. Das gesamte Leben wird zur Glaubensfrage. Hausgeburt, oder doch lieber Kreißsaal in einer Klinik? Wie erziehen wir das Kind - autoritär oder antiautoritär? Wie essen wir? Low Carb, Paleo, Clean Eating, Detox, Intervallfasten? Vegetarisch, Vegan? Besuche ich ein Fitnessstudio, oder lasse ich es bleiben? Liest du gern normale Bücher, oder benutzt du einen E-book-Reader? Welche Philosophie des Nationaltrainers hat uns bei der Fußball-WM ins Abseits geführt? Darf man den Frauen Rechte über ihren eigenen Körper zugestehen - hinsichtlich eines Schwangerschaftsabbruchs? Was sagen die katholischen Bischöfe zur Stammzellforschung? Zur Ehe für alle? Darf man überall und jederzeit rauchen, oder ist es angebracht, auf Nichtraucher Rücksicht zu nehmen? Darf man über sein Lebensende selbst bestimmen, oder muss man ärztliche Assistenz unter Strafe stellen? 

Von der Wiege bis zur Bahre - ununterbrochen trifft man auf Befürworter und Gegner. Das wäre ja auch nicht schlimm. Jeder kann doch nach seiner Fasson selig werden, oder? 

Nein, leider nicht. In dem Maße, in dem die Vielfalt der Möglichkeiten zunimmt, nimmt die Toleranz gegenüber Andersdenkenden ab. Und selbst, wenn man sich mal zu einem gönnerhaften „Na ja, meinetwegen!“ hinreißen läßt, in einem Anfall von Rücksicht und Güte, dann schwebt da trotzdem das große ‚Aber‘ über den Kontrahenten. 

Ich habe es kürzlich beim Thema „Rauchen“ bemerkt. Niemand interessierte sich wirklich für die Situation. Die meisten fanden, dass ich mich nur anstelle, und etwas spießig bin, und anderen nichts gönne, weil ich eben intolerant bin.

Gestern befand ich mich in einer ähnlichen Situation. Ein Artikel von ‚Spiegel Online‘ behauptete in der Überschrift, dass Carcinompatienten, die zusätzlich zur schulmedizinischen Behandlung noch alternative Heilverfahren wie z.B. Homöopathie anwendeten, schneller sterben. Erst im letzten Absatz stand, dass die, die alternative Heilverfahren fordern, sich von der schulmedizinischen Behandlung entfernen und deswegen schneller sterben. 

Ich habe mir erlaubt, auf die mangelnde Seriosität des Artikel hinzuweisen. Und sofort gab es zwei Lager. Ich wurde angegriffen von denen, die mich für einen Befürworter alternativer Heilmethoden hielten, und gelobt von denen, die sich die Mühe gemacht hatten, meinen Post zu lesen. Da war sie wieder, die Glaubensfrage. Schulmedizin gegen alternative Heilbehandlung. Ein Allgemeinmediziner behauptete gar, ich verhielte mich eines Mediziners „unwürdig“. Soso. Interessant. Zuhören und Lesen kommen aus der Mode.

Es war nicht meine Absicht, über Behandlungsmethoden zu diskutieren. Es war meine Absicht, mangelnde Seriosität der Presse zugunsten reißerischer Aufmacher, leider sogar schon beim ‚Spiegel‘, zu beklagen. Und was kam mir in die Quere? Eine Glaubensfrage.

Ich weiß nicht, wer gesagt hat, dass die Kriege unserer Zeit Glaubenskriege sein werden. Dieser kluge Mensch liegt ganz auf der Linie von André Malraux und Carl Friedrich von Weizsäcker. Wir hören nicht mehr zu, agieren vorschnell, ohne zu überlegen. Wir sind intolerant und gewalttätig. Wir sind anmaßend und selbstverliebt. Wir ziehen niemals in Zweifel, ob das, was wir vertreten, richtig ist. Bis hin zu unseren politischen Führern zeigt sich das, ich verweise hierzu auf jede beliebige Nachrichtensendung.

Diese Geisteshaltung wird uns ins Aus manövrieren. Angesichts der besorgten Bürger, die in Dresden ihr Glaubensbekenntnis, „Absaufen, Absaufen!“ skandieren, angesichts der Politiker, die ihren christlichen Glauben mit Kruzifixen plakatieren, und von „Asyltourismus“ und „Antiabschiebeindustrie“ sprechen, angesichts der Holocaust-Leugner, die ungestraft und ungelöscht ihren Schmutz auf Facebook veröffentlichen dürfen, bin ich nicht mal so sicher, ob wir uns nicht schon mitten im 3. Weltkrieg befinden. 

Kriege verändern ihr Gesicht. Im 1. Weltkrieg ging es noch dreckig zu, man sah dem ‚Gegner‘ in die Augen, bevor man ihn abknallte. Hiroshima und Nagasaki brachten eine Wende. Im Vietnam-Krieg schüttete man einfach Agent Orange und Napalm von Dow Chemicals über dem Land aus, wie praktisch. Das ersparte einem den häßlichen Anblick. Und im Irakkrieg? Erinnert ihr euch? Das sah doch aus wie ein Spiel am PC, oder? Hoch hoch hoch rechts rechts etwas runter Knopfdruck. Treffer. Steril, und unaufgeregt. 

Ich glaube, das hier ist unser Krieg. Über Twitter, Facebook, Presse und Fernsehen. Medien bestimmen, was und wie wir denken und handeln. Die Waffen sind die hasserfüllten Worte, Bilder, Videos, Memes. Ihr Einsatz bedeutet (Ab-)Wertung, und Mobbing, mit dem Ziel der Vernichtung des Gegners. 

Komisch. Ich bin mir nie sicher. Ich finde die Themen viel zu komplex, als dass man eine abschließende, allgemein gültige Meinung zu den Dingen gewinnen könnte. Leider stehe ich mit meinen Zweifeln allein. Ich werde aber auch weiter Position beziehen, und mir wird völlig egal sein, ob es jemandem passt, oder nicht. 

Seid nicht so sicher, dass ihr den Krieg gewinnt.


MESUT 1:

[ Ich habe unter der ARD-Meldung zum Rücktritt von Özil einen Kommentar meines Freundes Ossama ( nicht Bin Laden! ) entdeckt, und ihm geantwortet. Ich hatte ohnehin vor, das Ereignis zu kommentieren, deswegen veröffentliche es mal so, wenn’s recht ist. Ossama ist ein gebildeter, freundlicher, kluger, sensibler Mensch, der aus Syrien stammt. Ich bin froh, dass er hier ist, denn sonst hätte ich ihn vielleicht nie kennengelernt. ]

O.:
Leider gibt's bis jetzt nen Rassismus in Deutschland und manche sagen zu uns "Kanaken oder biste Ausländer, fremd ..
Man kann das überhaupt nicht ertragen und wir sollten etwas als Ausländer wissen und diese Lektion lernen.
Wenn wir was schaffen, loben diese Leute uns und wenn wir scheitern,werden wir rausgeworfen ...
Sogar wenn wir Deutschen werden.

P.:
Du irrst Dich, Ossama. Du weißt, dass ich Dich sehr gern habe, und dass Du für mich Familie, und ein wunderbarer, liebenswerter Mensch bist. Leider ist die Politik in diesem Land zur Zeit idiotisch. Du wirst sogar rausgeworfen, wenn Du es geschafft hast. Das ist schrecklich, und es tut mir weh. 

Bei Özil werden zwei Dinge verquickt, die eigentlich nicht zusammen gehören: Sein Erdogan-Foto, und seine Leistung bei der WM. Stell Dir vor, DU würdest „aus Respekt vor dem Amt des Staatspräsidenten“ ein Foto mit Baschar Hafiz al-Assad machen und veröffentlichen. 

Özil hat das getan, und zu recht gab es Empörung. Dieser „Präsident“ hat Soldaten, Richter, Journalisten, Lehrer, Professoren, die ihm missliebig waren, ins Gefängnis geworfen, kritische Fernsehsender und Zeitungen kaputtgemacht. Über das, was in und mit der Türkei passiert, steht mir kein Urteil zu. Leider gibt es mit den DITIB-Moscheen, Schulen und den Verhaftungen deutscher Staatsbürger wie Deniz Yücel nicht zu tolerierende Aktionen, die uns unmittelbar betreffen. Özils Kollege, Emre Can, wusste das, und hat die Einladung abgelehnt. 

Der Shitstorm gegen Özil ( und Gündogan, der allerdings vor der WM eine ziemlich billige Erklärung abgab ) führte - so würde ich das mal interpretieren - zu einer Trotzreaktion und Lustlosigkeit in seinem Spiel. Allerdings hat nicht nur er sich nur mäßig beteiligt. Außer Reus habe ich kaum gute Aktionen gesehen. Egal. 

Özil bzw. seine Berater machen etwas sehr Geschicktes: Sie mischen die Kritik an seiner Person und verbinden den politischen Fehlgriff mit der schwachen Leistung. Und plötzlich sind es die rassistischen Deutschen, die den armen, in Gelsenkirchen geborenen, deutschen Türken angreifen. Er musste gar nicht Deutscher werden, er ist es längst. Das ist klug, weil das Foto mit dem Diktator langsam in den Hintergrund rückt, und alle sofort beginnen, sich für etwaigen Rassismus zu rechtfertigen.

Schau Dir die Bundesliga an, und frage Dich, ob wir wirklich so rassistisch sind. Ich muss nicht die Namen und die Länder aufzählen, aus denen die Spieler stammen. Und völlig wurscht, welche Hautfarbe, welche Religion, welche Nationalität sie haben: Sie werden geliebt, und sie werden kritisiert, wenn sie Scheiße spielen - genau wir „die deutschen“ Spieler. 

Niemand ist so beliebt, Ossama, dass er ewig Kredit hat, für seine Aktionen. Diesen Rassismus-Müll lassen wir mal außen vor, weil er nicht stimmt, zumindest nicht für Özil. Was bleibt dann? 
Ein Mann, der einen Beruf ausübt, und ihn desinteressiert und schlecht ausübt, verdient Kritik. Und wenn ein Mann, ohne Ansehen seiner Person, einen Diktator mit einem Werbefoto unterstützt, verdient das Kritik. 

Dieser Kritik hätte Özil sich stellen können, statt nach nunmehr 2 Monaten (!) die beleidigte Sucuk-Wurst zu spielen. Seinen Fans hätte er das geschuldet, denkst Du nicht? Hat er nicht. Er hat beleidigt geschwiegen, und dreht jetzt den Spieß um: Weil ich Türke bin, mag mich keiner von diesen Rassisten. Quatsch. Hätten Neuer, Kroos oder Reus Werbefotos mit Assad, Erdogan oder Kim gemacht, hätte die Öffentlichkeit nicht anders reagiert. 

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, Ossama, dass Du für mich kein „Kanacke, Ausländer“, Fremder bist. Du gehörst zu mir und meinem Leben.


MESUT 2:

Liebe Berater von Mesut Özil, da habt ihr ja einen wunderbaren, manipulativen Text geschrieben, ein wenig positive Emotion, ein wenig Negative, und das ganze noch, wie ein klassisches Drama, in drei Akten, mit retardierendem Moment und Katastrophe, ganz, wie wir es in der Schule gelernt haben. 

Ihr habt allerdings etwas übersehen. Ihr habt gehofft, dass alle den Ursprung des Ganzen vergessen, weil die Strahlkraft bewusst eingesetzter Reizworte wie „Rassismus“, „Islamophobie“, „Migrant“ diesen eigentlich übertönen sollte. Und sogar die Bundesjustizministerin ist darauf hereingefallen.

Deswegen würde ich gern die Frage nach dem „WARUM?“ in Erinnerung rufen. Warum haben sich denn alle über das Erdogan-Foto so aufgeregt? 

Hätte ICH mich mit dem hochverehrten Herrn Präsidenten ablichten lassen, hätten ein paar Freunde gesagt, ey Alter, tickst du noch richtig? Was soll der Quatsch denn? Und das wär’s gewesen. Nach zwei Tagen wäre das gnädigem Vergessen anheim gefallen. 

Das liegt daran, dass ich uninteressant bin. Unbekannt. Unwichtig. Im Gegensatz zu Özil. Ein Star in der Nationalmannschaft. Ein international bekannter, geachteter Fußballer. Ein Vorbild für die Jugend, im Lande, und drumherum. Wichtig. Ein Beispiel dafür, dass man selbst bei ungünstigen Startvoraussetzungen im Leben es zu etwas bringen kann, wenn man sich bemüht, wenn man Talent hat, wenn man kämpft und nicht aufgibt. 

DESWEGEN war das Foto, das durch so einen wichtigen, bedeutenden, berühmten Menschen mit Vorbildfunktion einem Diktator zur Legitimation verhalf, so ein schlimmer Fauxpas. Nix mit Moslem, nix mit Migrant, nix mit Rassismus. Ich besitze nicht die Kompetenz, die Arbeit von Herrn Grindel zu beurteilen. Aber selbst, wenn er der mieseste DFB-Funktionär wäre - nein, es geht nicht um das durch seine Inkompetenz verursachte frühe Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft ( ich hätte auch eher angenommen, dass das zum Aufgabenbereich des Bundestrainers gehört ), sondern um die Wahlkampfhilfe eines prominenten deutschen (!) Sportlers für einen fragwürdigen Führer. 

Euer Trick haut nicht hin. Noch nicht mal auf Englisch. Lustig, eigentlich. Habt ihr geglaubt, dass sich der Quatsch dann besser anhört, wie der Text eines Schlagers? Too late, Freunde, too late! Ihr seid keine guten Berater. 

Hey, Mesut! Soll ich Dich aus der Scheiße reden? Melde Dich, wenn Du Hilfe brauchst!


Sucht 

„Die krankhafte Abhängigkeit von einem bestimmten Genuss- oder Rauschmittel oder das übersteigerte Verlangen nach etwas, einem bestimmten Tun; Manie.“ 

Erklärt mir das Lexikon. 

Ach, jetzt komm schon. Irgendwie sind wir doch alle ein wenig süchtig, oder? Schau dich gern mal selbst an, und spiel hier nicht den Heiligen! Was? Du rauchst nicht, trinkst nicht, nimmst keine Drogen? Na herzlichen Glückwunsch! Du Heuchler! Und was war das neulich in der Spielbank? Und was passiert, wenn man dir Schokolade und Marzipan vor die Nase hält? Oder wenn die der Newsletter verkündet, dass es neue PEZ-Bonbon-Spender gibt, oder Ü-Ei-Figuren? Und erinnere dich freundlicherweise an deine hormongesteuerten Umtriebe, auch, wenn’s etwas her ist! Was? Das war, als du jung warst? 

Sucht ist ein schier unendliches Forschungsgebiet. Die empfundene Belohnung funktioniert über die Ausschüttung von Endorphinen, Endocannabinoiden, Dopamin im mesocortikolimbischen dopaminergen Belohnungssystem und diversen Rezeptoren. Aha. Geil. Fühlt sich einfach super an. Nicht nur die bereits erwähnten Süchte. Nein. Fressen, zum Beispiel. Oder die Nahrungsaufnahme verweigern, weil man sich für zu dick hält. Körperkultur im Studio, Piercings, Brandings, Tattoos. Laufen, bis der Arzt kommt. Illegale Autorennen - Rausch der Geschwindigkeit. 

Schwierig, zu bestimmen, wo die Grenze liegt, zwischen Vergnügen und Sucht. Vermutlich wird sie in dem Moment überschritten, wenn man nicht mehr anders kann, wenn alle Gedanken um das eine Thema kreisen. Und wenn die „Dosis“, wie auch immer das aussehen mag, immer höher werden muss, um das Glücksgefühl zu erzeugen. 

Sucht macht mir Angst. Ich habe immer Angst vor Kontrollverlust. Ich mag wissen, wo ich bin, wo ich war, mit wem. Welcher Monat ist, welches Jahr, wer ich bin. In der Psychiatrie nennt man das „in allen Dimensionen orientiert“, glaube ich. Ich mag nicht, das etwas etwas mit mir macht. Ich mag Selbstbestimmung. Ich mag auch einmal nein sagen können, zu mir selbst. Und zu meinem mesocortikolimbischen Belohnungssymstem. Scheiß auf Dopamin. Ich trink lieber meinen Zitronentee, und lasse alle Verlockungen an mir vorübergleiten. 

Und nun erfahre ich, dass ein mir mehr als nahestehender Mensch, auf dessen Werdung ich Einfluss hatte, mit Beschaffung und Vertrieb von Drogen einen Teil seines Lebensunterhalts bestreitet. Er hatte reichlich Pech, in seinem Leben, unbestritten. Aber darf das ein Grund sein für ein solches Handeln? 

Ich habe gearbeitet. Schon während dem Studium, als Dauernachtwache in einem kleinen Berliner Krankenhaus. Von 22-7 Uhr. Sieben Nächte, sechs Nächte frei. Dann sechs Nächte, sieben Nächte frei. Zwischendurch studieren. Nicht, dass ich kein Geld von Zuhause bekam. Aber das deckte gerade die Miete, und den Einkauf bei Aldi. Kino, Disco, Oper/Theater, Café oder die Lebensmittelabteilung im KaDeWe oder bei Wertheim waren nicht drin. Und wehe, man musste Bücher anschaffen. Da bin ich schon nach Ostberlin gefahren, aber umsonst waren die dort auch nicht zu haben. Und Hassan, meinen besten Freund, konnte ich auch nicht immer anschnorren. 

Mit Drogen handeln wäre natürlich bequemer gewesen. Zeitsparender, effektiver. Und sicher auch einträglicher. Aber auch gegen meine Ehre. Ehre? Ja, das ist das richtige Wort. Ehre. So pathetisch, wie es sich anhört. 

Ich hätte Sorge, durch den Vertrieb meiner Produkte anderen zu schaden. Und ich würde befürchten, durch mein Tun in Kreise hineingezogen zu werden, es mit Personen zu tun zu bekommen, die meiner Lebensphilosophie nicht entsprechen. Irgendwann würde ich auch sicher ein Funkeln im Auge des Gesetzes sein. Und wohlmöglich bald in meinem eigenen Netz zappeln, unfähig, die Geister, die ich rief, zu verbannen. 

Ich bin froh über Dein Vertrauen. Danke, dass du es mir erzählt hast. Ich werde dir weder zu- noch abraten. Du bist klug genug, um selbst Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. Es macht mich traurig, das verhehle ich nicht. Aber ich werde weder dich aufgeben, noch die Hoffnung, dass du begreifst, dass dein Handeln irrig und moralisch verwerflich ist. 
Ich werde immer für dich da sein. Auch, wenn’s schwerfällt. Dennoch. 


Kleines, ärgerliches, und letztlich viel zu langes Resümee

Kürzlich hat sich jemand über mich beklagt. Was ich aber auch immer für Scheiß poste. Es handelte sich hier um Meldungen der Frühprogramme der Privatsender RTL und SAT1, das Schicksal Prominenter betreffend. 

Ich hätte ja wohl zu viel Zeit, meinte mein Kritiker. Ja, habe ich. Nicht zu viel, sondern exakt so viel, wie mir zusteht. Ich fand es witzig, den Kram zu parodieren. Denn es handelte sich hierbei um nicht mehr und nicht weniger als eine Parodie. Wer mich kennt, hat das erkannt. Und wer mich nicht kennt - naja, bei dem ist es mir eh wurscht. 

Ich bin stets überrascht, in welcher sachkundigen Weise sich die sogenannten „Society-Experten“ sich über die Society äußern. Wenn man Sybille Weischenberg, Vanessa Blumhagen und Benjamin Bieneck so zuhört, kann man sicher davon ausgehen, dass sie beim letzten Streit des Ehepaars Jolie/Pitt unter dem Tisch gesessen haben, und in der Hochzeitsnacht von Meghan und Harry auf dem Baldachin der Lagerstatt. Formulierungen wie „Und da hat der Pierce zu seiner Keely gesagt ...“ implizieren einen hohen Grad der Vertrautheit und Intimität, ganz so, als sei man gut mit Jan Ullrich und Boris Becker befreundet und zugegen gewesen, als ‚der Boris‘ ‚den Jan‘ - naja. 

Kürzlich hat sich jemand über mich beklagt. Was ich für Filme sehe, mit Schauspielern, die fragwürdigen Gruppierungen angehören. Lustig. Was mich ehrlich amüsiert, ist, dass sich inzwischen alle möglichen Leute als Experten empfinden. Eben gestern beispielsweise, als ich den neuen Mission Impossible-Film besuchte, und dies leichtsinnigerweise (mit)teilte. Ich erhielt umgehend Belehrungen hinsichtlich der weltanschaulichen Ausrichtung des Hauptdarstellers und eine präzise und fundierte Charakteristik desselben: Er verhielte sich „menschenverachtend“. 

Ich habe heute die erste Tageshälfte damit verbracht, Belege dafür zu sammeln. Ich habe ja die Zeit. Die Zugrunde gelegte Gleichung ist sehr schlicht, und mir etwas zu schlicht: Scientology - Menschenverachtung - > Tom Cruises Charakter. 

Um es kurz zu machen: ICH weiß es nicht. Ich bin ja kein Society-Experte. Ich hab nicht mit ‚dem Tom‘ gesprochen, sag mal, mein Alter, was soll das, mit dieser Organisation? Bist du denn wirklich ein Menschenverächter? Ich hatte keine Gelegenheit, ihn nach seiner Weltanschauung zu fragen. Er hat mir gegenüber keine Lebensbeichte abgelegt. Ich habe meine Weisheiten, wie vermutlich alle „Experten“, aus der Tagespresse. 

Wo ich nun gerade dabei war: Ich hab mich mal umgeschaut, unter den Promis und ihren Religionen. Die Zeit hab ich mir gern genommen. Wer mich kennt, weiß, dass ich keinem dieser Vereine angehöre, mehr noch, Religionen und ihre hässlichen Töchter, die Sekten, ablehne. Boykottierte ich diese entsprechend meiner Einstellung, wären Film, Funk und Fernsehen für mich tabu. In Hollywood laufen ja nur so Spinner herum. Ich will nicht alle aufzählen, die könnt ihr selber bei Google finden. Wenn ihr die Zeit habt, heißt das. [ http://www.religionfacts.com/celebrity ]

[ ( Kleiner Nachtrag, den man nicht unbedingt gelesen haben muss, weil mein Geschreibsel für den Facebook-Konsumenten sowieso wieder zu lang ist: ) Mir fällt das Schicksal von Ferdinand Marian ein. Ein wunderbarer, begnadeter Schauspieler der UFA. Er gab meist den dämonischen, unwiderstehlichen Liebhaber. Und wurde, von Goebbels' gezwungen, mit der Titelrolle in „Jud Süß“ betraut, obwohl er sich zunächst geweigert hatte. Ich habe den Film gesehen. Ein künstlerisch hochwertiges, perfektes, manipulatives, perfides, ekelerregendes Machwerk, mit den größten Stars, George, Söderbaum, Krauß, Kloepfer, Florath - bis in die kleinste Rolle. Und eben Marian, der nach dem Krieg wegen dieses Films mit lebenslangem Berufsverbot belegt wurde, und unter nie ganz geklärten, vielleicht suizidalen Gründen, 1946 bei einem Autounfall starb. 

Marian war unpolitisch, und eher gegen die Nazi-Brut eingestellt. Genützt hat ihm das nichts. Der Makel dieses Film haftet an ihm, über seinen Tod hinaus. 

War es richtig, den Schauspieler aufgrund eines Films abzulehnen? Muss man im aktuellen Fall den Film wegen des Schauspielers ablehnen? Ich weiß es nicht. Ich schaue auch weiter Marian-Filme wie ‚Romanze in Moll‘ oder ‚Münchhausen‘. Ohne schlechtes Gewissen. Und ich schaue weiter Tom Cruise Filme. Ich muss ‚Jud Süß’ nicht mögen. Und ich muss Scientology nicht mögen.
 Ich bedauere zutiefst, wenn ich damit jemandes Gefühle verletze. Aber damit muss und kann man gut leben. Macht euch nicht so viel Sorgen um mich. Ich kann gut differenzieren. Sorgt euch gern um euch selbst. ]



Ich halte an. Sogar die Luft.

Ich bin ein soziales Wesen. Also, zumindest tu' ich gern so. Ich spreche gern mit der Kassiererin im Supermarkt, oder der gastronomischen Fachkraft im Restaurant. Wenn der Postbote zweimal klingelt, erkundige ich mich nach den gesundheitlichen Problemen seiner Gattin, helfe der Nachbarin beim Verschieben der Blumenkübel, und bringe ihr gern die Einkäufe mit, besonders im Winter, dann muss sie nicht extra raus, weil sie doch so unsicher fährt, wenn es glatt ist. 

Heute habe ich es wieder mal unter Beweis gestellt. Ein junges Mädchen stand, Daumen nach oben, am Straßenrand. Na klar nehme ich jemanden mit. Neulich erst eine schwangere junge Frau mit ihren beiden Supermarkt-Tüten. Und vor einiger Zeit einen Jungen, der durch den strömenden Regen lief. Kein Problem. „Dazs izst aber nett,“ lispelte sie. „Mir izst gerade der Buzs vor der Nazse weggefahren, und der nächzste kommt erzst in dreizsig Minuten!“ 

Das bedauere ich. Und beginne eine kleine Konversation, indem ich frage, womit sie so ihre freie Zeit totschlägt. „Gazstronomie“, erklärt sie. Und entwickelt eine ziemlich perfekte Typologie der Trinkgeldgeber, in der sie auf Euro und Cent genau vorhersagen kann, wer wieviel seiner Rechnung zuschlägt. Sie beendet ihre Ausführungen mit einem kleinen, beinahe schüchternen „Brrrp“ aus den unteren Körperregionen. Donnerwetter. „Die Leisen stinken am meisten!“, weiß der Volksmund. Uraltes, weises, fundiertes Volkswissen, das sich in diesem Fall leider bestätigt. 

Nonchalant versuche ich, von dem kleinen Missgeschick abzulenken. „Heiß heute, oder? Ich lass' mal das Fenster herunter?“, und drücke auf die entsprechende Taste. „Oh, bitte nicht, ich hab so Halzsschmerzsen!“, lispelt sie. „Zsugluft izst mir nicht angenehm!“

Na gut. Der Moment hat eigentlich auch schon zum Luftaustausch gereicht. Kaum ist das Fenster oben, ertönt erneut ein „Brrrp“. Und abermals umwabern typische Aromen meine Nase. Aber ich möchte meinem Fahrgast Peinlichkeiten ersparen. „Ich glaube“, stelle ich, um Fassung ringend, fest, „auf den Feldern wird schon wieder mit Jauche gedüngt, meinen Sie nicht?“
„Ich verzsteh nixzs von Landwirtschaft“, behauptet sie mit anmutigem Lächeln. „Nur von Gazstronomie! Ach - könnten Zsie dazs Gebläzse auzsmachen? Mein Halzs - ich glaube, die Schmerzsen werden schlimmer!“

Und kaum habe ich auf die Taste gedrückt, dringt erneut das bekannte „Brrrp“ an mein Ohr, und Unaussprechliches wenig später an meine Nase. 

Kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, trete ich auf das Gaspedal. Der rötliche Blitz ist mir egal. Was bedeutet schon Geld, wenn es ums nackte Überleben geht? „Wo müssen Sie raus?“, erkundige ich mich. „Könnten Zsie mich nicht bizs nach Hauzse ...?“ Nein, auf keinen Fall. Ich würde gern, wenn ich könnte, aber ich will nicht. Vermutlich ist noch Bohnensuppe da, mit der sie mich laben würde, zur Belohnung. Ich steuere eine Bushaltestelle an, denn ihren Bus haben wir inzwischen überholt. Jetzt erwischt sie ihn mühelos. „Danke“, sagt sie immerhin. „Fahren Zsie hier öfter?“

„Nein, nie“, lüge ich. „Wissen Sie, ich bin gar nicht von hier. Das Auto gehört meinem Bruder. Reiner Zufall.“ Sie zuckt mit den Schultern, und steigt aus, nicht ohne noch beim Aussteigen ihr Revier mit dem ihr eigenen Œvre zu markieren. 

Ich habe nicht genug Fenster zum Herunterlassen. Am liebsten würde ich auch das Rückfenster und die Windschutzscheibe öffnen, und wünsche mir zum ersten Mal im Leben, Besitzer eines Cabrios zu sein. Der Fahrtwind umspielt meine Züge. Und so langsam ergreift atembare Luft wieder Besitz von meinen geschundenen Nasenschleimhäuten und dem Nervus Olfactorius.

Erinnert ihr mich bitte morgen daran, zur Tanke zu fahren, um ein paar Wunderbäume zu kaufen? Für die nächsten Anhalter! 


Food Hell

„Lass uns doch in die Europa Passage gehen. In den ‚Food Sky‘, ganz oben.“ 
Ich kann das nicht beurteilen. Ich war noch nie da. Als ich das letzte Mal in diesem Zentrum etwas zu mir nahm, musste man das noch ganz unten tun, oder bei McDonalds im 1. Obergeschoss.

Es ist brechend voll, gegen 14 Uhr. Alle Tische sind besetzt. Halt, da erheben sich gerade drei Leute. „Entschuldigung, wird hier frei?“ Super. Allerdings nur drei Stühle für 7 Leute. Das könnte knapp werden. Aber wir arbeiten an dem Problem, bitte noch etwas Geduld. „Wir teilen uns einen“, bieten die beiden Mädchen an, dünn, wie sie sind. Und die Patriarchin hat ihren (Roll-)Stuhl immer dabei. So geht’s. 

„Ich bewache die Beute, ihr schwärmt aus zum Essen holen“, schlage ich vor. So geschieht es. 
Ein junger Mann in hellgrüner Weste schlendert heran und greift nach einem der Stühle. „Lassen Sie bitte den Stuhl da, wo er ist!“, weise ich ihn an. „Der Stuhl ist frei!“, widerspricht er. „Ich halte ihn besetzt“, entgegne ich. Und erläutere kurz, dass die Menschen sofort zurückkommen werden.

„So geht das aber nicht“, weist er mich zurecht. „Sie können doch hier nicht alle Stühle -“
„Doch, kann ich. Sieben zahlende Kunden, fünf Stühle. Kein schlechter Schnitt. Außerdem sind die Stühle nicht angeschraubt, oder Tischen zugeordnet. Das machen hier alle so.“

„Dann räumen Sie hinterher aber wieder auf!“

Ich bin, was selten passiert, sprachlos. Allerdings nur einen kurzen Moment. „Sie sind dreist, junger Mann. Ich versichere Ihnen, dass ich nicht Ihren Job erledigen werde. Dafür werde ich nicht bezahlt.“ Er schaut mich mit demselben Blick an, mit dem man im Zoologischen Garten eine Vogelspinne betrachtet. „Sie müssen die Stühle zurückstellen!“ Ich lächele ihn freundlich an. „Einen Scheißdreck muss ich!“

Da nähert sich bereits der Rest der Truppe, und der Mann mit der hellgrünen Weste verzieht sich. Ich nutze die gute Gelegenheit, via Facebook eine Beschwerde an die Center-Leitung abzusetzen, so lange mein Ärger noch frisch ist. 

„Hallo Peik ,
vielen Dank für deine Nachricht. Wir melden uns so schnell wie möglich bei dir. 
Allgemeine Infos findest du auch auf https://www.europa-passage.de/
Viele Grüße, deine Europa Passage
(Das ist eine automatisch generierte Antwort)“

Das Essen sieht automatisch generiert und lieblos aus, wird mit Plastikbesteck (!) ausgegeben, ist inzwischen angenehm kühl, und schmeckt verheerend. Ich habe afghanische Küche gewählt, unter anderem Kofta. Die Dinger sind staubtrocken, zu Tode gekocht, und zerbröseln wie Staub in meinem Mund. Dafür sind die Auberginen des Badenjan nur kurz mit der heißen Pfanne in Berührung gekommen und so gut wie roh. Ungenießbar, das Zeug. Gut, dass mir der Appetit sowieso vergangen ist. Ich frage mich, ob das wohlmöglich geplante Strategie des ‚Food Sky‘ ist. Zunächst suggeriert die Bezeichnung mit „Essen“ und „Himmel“ irgendetwas himmlisch Leckeres, dann kommen die Jungs in hellgrün und verderben dir Hunger und Laune. 

Heiter bemerke ich, dass mein neuer Freund gerade mit Gästen am Nebentisch streitet. Dieser ist recht nahe an der Station, zu der man die abgegessenen Tabletts bringen soll, angeschraubt, und eine junge Frau sitzt ihm im Weg. Verschüchtert erhebt sie sich, um ihm Platz zu machen. Das hätte ich nicht getan, im Gegenteil. Was geht mich die Planung der Raumaufteilung an? Der Tisch ist deutlich falsch montiert. Aber nicht von den Gästen.

Geschafft. Dem Himmel sei Dank. Es war grauenvoll. In jeder Hinsicht. Die Rückgabe-Station läuft über. Unser Mitarbeiter des Monats hat ja auch zu viel damit zu tun, die Gäste zurechtzuweisen. Und so lasse ich genussvoll die Tabletts auf dem Tisch stehen, als wir aufbrechen. 

Food Sky? Seid gewarnt, Freunde. Esst lieber eine Currywurst am Stand, oder ein Matjesbrötchen am Hafen. Ist billiger, und besser. Macht einen Bogen um den Food Sky. Einen großen Bogen.


‚Neue beste Freunde‘ oder ‚Paten unter sich‘

Es gibt immer mal wieder Situationen im Leben, die beginnen ganz leise. Völlig unauffällig. Alltäglich, und harmlos. Und dann laufen sie irgendwie aus dem Ruder, nehmen eine neue, unerwartete Richtung, entgegen aller Routine und Lebenserfahrung. Es kommt jemand auf einen zu, und man spürt sofort - da kommt was auf einen zu. Alles ist anders, plötzlich. Und man kann das Boot nur noch mitrudern, und auf das Beste hoffen.

Zwischen Sex-Shops, Porno-Kinos und Bars findet sich auf der Reeperbahn auch ein McDonalds, schräg - sehr schräg! - gegenüber vom „Schmidts“, dem St. Pauli-Theater und der Davidswache, die eigentlich Davidwache heißt. Es ist schon recht spät, und ich beschließe spontan, dort noch auf einen Cappuccino einzukehren. Mit meinem Tablett nehme ich am Rand des Raums Platz. Ich hasse die Plätze mittendrin, fühle mich dort immer beobachtet. Und wenn hier jemand beobachtet, dann ich. 

Die Tür öffnet sich, und eine Gruppe junger Männer betritt das Etablissement. Schätzungsweise nicht ganz 30 Jahre alt, vermutlich um die 15 Jahre Knast. Ihre Lieblingsfarbe ist schwarz. Wirklich spannend. Einer von ihnen ist das Alpha-Männchen, der Boss, der Babo, auf dessen verbale und, besonders, non-verbale Zeichen die anderen peinlich genau achten. Sie behandeln ihn mit fast unterwürfigem Respekt. Nicht mal sein Getränk muss er sich selbst holen. Einer von den Jungs apportiert. An seiner Hand, mit der er den Becher zum Mund führt, entdecke ich einen protzigen, silberfarbenen Ring mit gelblichem Stein. Vermutlich müssen die Mitglieder der Gruppe den zum Gruß küssen, wie beim Paten, oder dem Papst, schießt es mir durch den Kopf. 

Er strahlt eine Art machohafter Autorität aus, die mich eher amüsiert, als einschüchtert. Wie bei Hagenbeck, im Affenhaus. Das scheint was mit lang verschütteten Urinstinkten, Atavismus und so'm Zeugs zu tun zu haben. Dabei wirkt der Junge nicht im mindesten wie ein Primat. Irgendwie hat er es zu verhindern vollbracht, dass beim Bodybuilding sein Kopf übergangslos in den Hals übergeht, und zu diesem hässlichen Stiernacken führt. Und, abgesehen von den typischen Stammeszeichen,  er sieht wirklich klasse aus. Allen gemeinsam ist der Undercut, die gegelte, schwarz-glänzende Tolle, der sorgfältig konturierte Bart. Er hat nicht diesen asiatisch-flachen Kim Jong-un-Hinterkopf. Bei ihm sieht es gut aus. Seines Gesichtszüge sind fein, fast edel. Eine schmale, gerade Nase. Unglaubliche, lange Wimpern umrahmen die dunkelbraunen Augen, seine Zähne sind weiß und regelmäßig, und er verfügt über zwei sehr attraktive Grübchen. Das eine unterteilt sein Kinn in eine rechte und eine linke Hälfte, das andere tritt beim Lächeln zutage, auf seiner rechten Wange. 

„Ey! EY! Was guckst du? Willst 'n Passfoto? Bist du schwul oder was?“ Das gilt mir. Sofort sind zwei Männchen der Herde aufgesprungen und bewegen sich mit Drohgebärden in meine Richtung. Ich höre, wie ich antworte, „Schau mich an! Ich bin 61! Ein alter Mann! Glaubst du, dass das in meinem Alter noch wichtig ist, ob ich schwul bin oder nicht?“ 

Er denkt nach. Wirklich? Man sieht ihm an, wie seine kleinen grauen Zellen arbeiten. Dann fragt er, „Und was guckst du?“ Und, entgegen jeder Vernunft, erwidere ich, „Weil du geil aussiehst, Alter!“ 

Er ist damit überfordert. Seine Züge verfinstern sich. „Doch schwul oder was?“ Ich verliere die Geduld. „Mein Gott, dann frag doch nicht, wenn du die Antwort nicht aushältst! Wovor hast du Angst?“ Irgendwie wünsche ich mir plötzlich, dass ich meine große Klappe besser im Griff hätte. Worauf habe ich mich da eingelassen? Hoffentlich bringen die mich später ins Barmbeker Krankenhaus. Wenn ich das hier überlebe, heißt das. Ob die Zeitungen darüber berichten werden? „Rentner auf St. Pauli halbtot geprügelt?“ Ruhm? Gerne. Aber so?

„Schwul ist eklig“, behauptet mein Kontrahent, und beifällig nickt die Herde. „Ey, wenn mich so einer anpackt -“ Er schüttelt sich, und verzerrt sein Gesicht zu einer Grimasse. „Ich find Frauen geil. Frauen mit großen -“ ( Das zensiere ich. Dieser Text hier soll ja jugendfrei und facebooktauglich bleiben. ). Er macht eine Pause, und grinst. „Ich mag, wenn Frauen - gierig sind. Verstehst du? Gierig!“ Er spricht das ‚gierisch‘ aus. Ich verbeiße mir ein Lachen. „Mein Bruder fand das nicht so toll“, scherze ich, „bei seiner Scheidung, als Inga ‚gierisch‘ wurde.“ Und wieder denkt er nach, was seine Attraktivität noch erhöht. Das Resultat seiner Überlegungen führt direkt zu einem breiten Grinsen. „Komm her, Bruder!“, befiehlt er. „Setz' dich!“ Eine Kopfbewegung reicht, und wie von Zauberhand ist der Stuhl neben ihm plötzlich frei. 

„Ich bin Peik“, eröffne ich die Diskussion. Und zum ersten Mal in meinem Leben höre ich kein „Hä? Wie heißt du? Was'n das für'n Name?“ Er nickt. „Erkan“. ( Er sagt nicht ‚Erkan‘. Ist aber dicht dran. ) Wir reden. Ich habe keine Ahnung mehr, worüber, obwohl es erst 24 Stunden her ist. Ich betrachte ihn. Die Variationsbreite seiner Mimik. Kinder, Kinder. Was hätte aus ihm werden können. Schauspieler. Model, wenigstens. 

„Hast du Handy?“
„Na klar hab ich EIN Handy“, antworte ich mit diesem ätzenden Unterton des Besserwissers. 
„Gib mir!“
Da haben wir’s. Ich werde soeben „abgezogen“, wie das heute heißt. Warum muss ich auch immer die Klappe aufreißen, mit dieser klugscheißerischen Arroganz? Geschieht mir ganz recht!  Und was will er als Nächstes? Geld? Meine linke Niere? 
Er schnappt sich mein iPhone, und tippt darauf herum. Sein Handy klingelt zweimal. Dann schiebt er es über den Tisch in meine Richtung. „Meine Nummer. Schreib hin: Erkan. Wenn du Problem hast, ruf an. Ich mach ihn platt.“
„Willst du meine Nummer?“ Er grinst, und tippt auf sein Smartphone. „Hab ich, Bruder!“

Wir verabschieden uns. Respektvoll weicht die Herde vor mir zurück. Erkan erhebt sich mit mir, ergreift meine Schultern, und küsst mich - rechte Wange, linke Wange. „Du küsst gut“, sage ich heiter. Er erschrickt, zögert zwei Sekunden. Dann lacht er, und klopft mit seiner rechten Hand auf meine Wange. Gottseidank. 
Und ich? Ich habe einen neuen Freund. Seht euch vor mir vor, Leute. Eines Tages werde ich Erkan um einen Gefallen bitten, den er nicht ablehnen kann ...


Literarische Enthauptung

Erst dachte ich, Nanu, hat Facebook die Gemeinschaftsstandards verändert? Ich tummele mich gern auf - nein, nicht auf Porno-Seiten! Irgendwann ist man für so etwas zu alt, oder? - nein, auf verschiedenen Buchblogs. Man muss ja wissen, was so los ist, in der Szene. Im Augenblick scheinen kopflose Jungs hoch im Kurs zu stehen!

Nein nein, ich meine nicht die Damen und Herren von der AfD. Auch nicht Herrn Sarrazin, obwohl das nach seiner neuesten Publikation sehr nahe liegt. Weit gefehlt. 

Es geht hier vielmehr um Belletristik, Unterhaltungsliteratur. Gern auch mit einem Schuss Erotik. Erstaunlich finde ich, dass sich die Attraktivität des Mannes auf die abgebildete Region zu beschränken scheint. Und etwas schade finde ich auch, dass den Entwerfern von Einbänden kein anderes Motiv einzufallen scheint. 

Was soll vermittelt werden? Die Schönheit des jungen Mannes liegt also im Bereich des Abdomens, die des reifen Mannes bekanntermaßen immateriell im Bereich Geld und Macht. Auf den Kopf kommt es nicht an. Oder was sonst wollen mir diese Buchtitel sagen? Ist das einfach nur ein simpler „Sex-Sells“-Verkaufstrick? Dabei sind so wunderbare Bücher wie das von Lily Konrad dabei! 

Ich warte auf das Bild eines Mannes, der einen Kopf hat. Der nicht enthauptet wurde. Einen Kopf, den er zum Denken verwendet. Dann darf er  ( von mir aus auch einen Waschbrett- )Bauch haben. Ist aber keine Bedingung! 




„Shooting at McDonalds, Eiffestraße“ oder „Wie ich meine Deadline verpasste“

McDonalds, Eiffestraße. Eins meiner Arbeitszimmer. Immerhin, ich bin wichtig. Ich habe eine Deadline zu beachten. Ja, ich. Eine Deadline. Ja, ich weiß. Früher hätte man gesagt, Hock dich hin, der Text muss fertig werden. Das ist sie, die Deadline. 

Im Schnellrestaurant ist der Teufel los. Eine Crew wirkt dort. Offenbar werden Fotos für eine Werbekampagne gemacht. Für jede Aufgabe stehen entsprechende Leute zur Verfügung, die alle unfassbar wichtig sind. Die ganz besonders Wichtigen erkennt man an ihren MacBooks. Sie haben sich über diverse Tische verteilt, und rotzfrech setze ich mich dazwischen, bitte, ich bin auch wichtig, mit meiner Deadline. Am schrillsten kommt die junge Frau vom Make-up 'rüber, unter deren gelber Wollmütze einige kirschrote Haarsträhnen hervorlugen. Die Frau von der Requisite sieht unglaublich bieder aus. Jeansrock zu Turnschuhen, Collegejacke aus Fallschirmseide und ein brauner Karo-Schal, mit brauner Wollmütze? Na gut. 

Da hinten stehen die Models. Er ist ein Mann um die 40. Mein Gott, ist der hässlich. Statt einer Nase hat er einen Rucksack im Gesicht. Und eine grüne Wollmütze auf dem Kopf. Ich versuche, attraktiv und intelligent gleichzeitig auszusehen. Vielleicht werde ich entdeckt? Heiter blicke ich in die Runde, und improvisiere Gesichtsausdrücke. Gelangweilt. Hungrig. Froh. Verführerisch. Lege einen Finger an meine feine, gerade Nase. Alles umsonst. Offenbar sind hässliche Männer mit großen Nasen eher gefragt. 

Sie wirkt transparent. Fast weiß geschminkt. Hellblond gebleichte Haare kommen zum Vorschein, als sie sich ihrer blauen Wollmütze entledigt. Sie ist überwiegend weiß gewandet. Ständig zupft die gelbe Wollmütze an ihr herum und probiert was mit ihren Haaren. Strähnig? Oder zu einem kleinen Knauf an Hinterkopf gedreht? 
„Die Arches müssen mit drauf, beim Signature“, kommandiert der Junge mit der schwarzen Wollmütze neben mir. Hey. Der Boss offenbar. „Sollen die Pommes lose aufs Tablett?“, fragt devot ein schmales, blasses Mädchen. „Nein, in so 'ner roten Schachtel! Und ja keine Cola in den Becher! Das schimmert durch! Nur Wasser!“ 

Blitze durchzucken den Raum. Der Boss muss nach dem Rechten schauen. „Passen Sie mal kurz auf mein MacBook auf!“, kommandiert er in meine Richtung. Ja, gern, aber wissen Sie, ich habe eine Deadline - ach, egal. 

„Wenn wir die Haare hinten zusammen machen, werden wir unflexibel“, behauptet die gelbe Wollmütze. Ich persönlich finde, dass das was mit dem Gesicht zu tun hat, aber ich werde ja nicht gefragt. „Lippenstift!“, schreit einer von hinten. Die Wollmütze hat zu tun. Scheinwerfer und diese reflektierenden weißen Schirme werden von einer Ecke in die andere geschleppt. „Wo ist die Kiste mit den Portemonnaies? Requisite!“

Plötzlich kommt auf mich eine pinkfarbene Wollmütze zu, mit einem Nasenpiercing. Jetzt. Endlich. Das ist es. Meine Chance auf den internationalen Durchbruch. Ich bin das neue Gesicht des Big Mac. Das wollte ich schon immer sein. Mein Lächeln geht um die ganze Welt. Vor Folgeaufträgen kann ich mich nicht retten. Giselle Bündchen, Cindy Crawford, Naomi Campbell - alle wollen mit mir arbeiten. ‚Wie wurden Sie Topmodel, Herr Volmer?‘, wird man mich in Interviews fragen. Und ich werde bescheiden sagen, ‚Ach wissen Sie, komische Geschichte. Ich musste eine Deadline erreichen ...‘ 
„Entschuldigung, gehört Ihnen der silberfarbene Golf vor dem Eingang?“ Was hat sie gefragt? Golf? Ich?

Und mit einem lauten Knall zerplatzt mein Traum von der Karriere. „Draußen wird das Licht schlechter“, stöhnt ein junger Mann mit einer grauen Wollmütze. „Ok! Fertig für heute! Wir machen morgen weiter!“ In Windeseile wird alles abgebaut, und der Spuk verfliegt, wie ein Gewitter im Sommer.

Und wie soll ich jetzt die Deadline schaffen? 
Ich werde sie verpassen, da bin ich sicher. 
„Was schreiben Sie da?“ Huch? Der Boss. Es scheint gefährlich, mit ihm nicht einer Meinung zu sein. „Über das Shooting“, erkläre ich schüchtern. Er liest, was ich geschrieben habe. „Ist gut“, grinst er. „Aber das sind keine Wollmützen. Das sind Indoor-Mützen!“

( Notiz an mich: Unbedingt eine Indoor-Mütze kaufen! Türkis. Ja, Türkis. Ich glaube, das steht mir! )





„Anspruchsvolle Kundschaft“ oder „Was ist denn nun mit der Deadline?“

McDonalds, Kollaustraße 25. Großer Wintergarten. Sieht gut aus. Von außen. Und ich muss doch unbedingt - die Deadline, ihr erinnert euch.

Ich habe gerade gefrühstückt, aber einen Cappuccino könnte ich mir gut vorstellen. Dann rutschen die Buchstaben besser. 

Hinter dem Tresen des McCafé steht niemand, dafür, zu scheußlichen Klumpen geballt, einige Mitarbeiter hinter dem Counter für die restlichen Lebensmittel. Zwei davon sogar mit Headset. Die ältere blonde Servicekraft schaut interessiert in meine Richtung. Dann beginnt sie eine Diskussion mit einer jüngeren Dame, vermutlich über die gestrigen Ereignisse im Bundestag, den semantischen Unterschied zwischen Hetzjagd und Verfolgung, oder auch nur über das Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn. Die Jüngere ist dagegen, irgendwie, und bewegt sich zögernd in - ja, tatsächlich, in meine Richtung. Hält inne, erwidert etwas, kehrt fast in ihre Ausgangsposition zurück, dann wieder auf mich zu. Gleich. Gleich ist es so weit. „Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“, wird sie mich fragen, mit diesem freundlichen Lächeln, das die Fotos, die gestern in der Eiffestraße entstanden, der gegenwärtigen und zukünftigen Kundschaft verheißen. 

Ja. Jetzt gleich. Nur noch ein paar Zentimeter - und Zack! Plötzlich biegt sie ab und verschwindet durch eine Tür, wie Hans Klock in seiner Zauberkiste. Die ältere Blonde hat jetzt natürlich keine Zeit. Sie muss auf einem Bildschirm herumtippen, einem jungen Kollegen Anweisungen hinsichtlich der Reinigung der Oberflächen geben, und sich mal so richtig strecken. Anstrengend, den ganzen Tag herumstehen. Geht auf den Rücken, und die Knie. Wenn’s was zu tun gibt, geht’s ja. Aber wenn nichts los ist - schrecklich. Einfach schrecklich! 

Aus dem Hintergrund taucht eine junge Frau mit Zopf auf. Sie schaut bebrillt kurz in meine Richtung. Na also. Dies wundervolle Gefühl, als Kunde wahrgenommen zu werden. Man kann sich förmlich hineinkuscheln, wie in eine wärmende Decke.

Zu früh gefreut. Sie ist nicht zuständig. Bei mir nur Burger, sorry. Kaffee is' nich'. Ich kann mich hier weiß Gott nicht zerteilen. Die Kunden werden immer anspruchsvoller. Der eine will Kaffee, der andere Hamburger - was kommt als nächstes? Salat? Kuchen? Nein, mein Herr. SO haben wir nicht gewettet.

Ich gebe auf. Der viele Kaffee ist ja auch gar nicht gut. Mit meinem Herzen steht es eh nicht zum Besten, und ich sollte den Kaffeekonsum etwas reduzieren, meinte kürzlich mein Kardiologe. Danke, McDonalds, für die Sorge um meine Gesundheit. Sehr aufmerksam. 

Ich nehme also ohne Heißgetränk an einem der Tische Platz, und beginne, diesen Text hier zu schreiben. Ununterbrochen kommt nun jemand vorbei: Der Junge mit dem Wischtuch, die ältere Blonde, sogar die Jüngere ist wieder aufgetaucht. Der bebrillte Zopf schäkert mit einem schwarzhaarigen Herrn mit leichtem Akzent, der mir vorher noch gar nicht aufgefallen war. 

Ich werde noch eine gute Stunde hier sitzen. Ob wohl jemand auf mich zukommt und mich darauf hinweist, dass es hier so etwas wie eine Pflicht zum Verzehr gibt? Schließlich ist das keine Wärmehalle, sondern ein Restaurant, nicht wahr. Diese Kunden, heutzutage! Also wirklich!

Warten wir’s ab, und arbeiten uns in Richtung Deadline vor!

Nachtrag: Eben steht die bezopfte Brille vor mir und fragt, ob ich etwas bestellt und noch nicht bekommen hätte. Ich erkläre ihr die Situation. Mit einem werbewirksamen Lächeln, einer Entschuldigung und Service am Platz macht sie meinem Unmut freundlich den Garaus. Schwamm drüber! 



„Tanz auf dem Vulkan“ oder „ ... und wohin fliehen Sie?“

Erst wird Herr Maaßen zum Sonderberater. Der Kaiser und der Führer hätten ihm noch eine Fantasie-Uniform verpasst, und ihn mit vaterländischen Orden dekoriert, damit er trotzdem noch nach was aussieht. 

Was für ein Zufall! Oder nicht? Gerade habe ich im ZDF „History“ die Sendung über die Kindertransporte aus Deutschland und Österreich nach England gesehen, nach dem Progrom vom 9. November 1938. 

Es mag vermessen klingen, aber ich habe mich gerade gefragt, wohin ich fliehen würde, wenn der Verfall jeden Anstands, jeder politischer Kultur in den Grenzen vom 9. November 1989 ( „Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich!“ ) in dieser rapiden Form seinen Fortgang nimmt. 

Ich bin ja auch kein Kind mehr, im Gegenteil. Lohnt sich das überhaupt, wird man an der Grenze sagen. Sie sind zu alt, zu krank. Ein Kostenfaktor, ein Risiko. Vermutlich schwer zu integrieren. Na gut. Aber wohin? England? Skandinavien? Wie lange wird es dauern, bis der Anschluß Österreichs, Polens, der Benelux-Staaten, Frankreichs an das Deutsche Reich vollzogen ist? Schweiz? Da fällt mir nur Roger Köppel ein. Vom Regen in die Traufe. 

Wir werden beschwichtigt. 1936 mit einer Olympiade. 2018 mit Fernsehserien, Unterhaltungselektronik, Alexa. Man bietet uns was. Das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei der WM. Fahrverbote zum Klimaschutz. Der Tod von Hans Beimer aus der „Lindenstraße“. Das Kasperletheater der sogenannten GroKo. Royale Hochzeiten. Man lullt uns ein mit Kochshows, Dschungelcamps, Superstars. 

Wir tanzen auf einem Vulkan, Freunde.


Ohne Kebschubb

McDonalds, an einer bundesdeutschen Autobahn. Ich nehme zeitgleich mit einer Familie Platz, die mir wegen ihrer drei kleinen Töchter auffällt. Der Papa befragt die Nachkommenschaft, wonach Ihnen der Sinn steht. Es handelt sich um junge Damen von ca. 12, 9 und 7 Jahren. Wie süß! Kinder machen einem so viel Freude! Und man bekommt so viel zurück! 

Die beiden Großen wählen gelangweilt ein Produkt der ortsüblichen Sandwich-Produktion. Die Wünsche der Kleinen sind etwas sprunghafter und undifferenzierter. Hauptsache, „kein Kebschubb“. 

Papa ist schon mal die Speisen holen gegangen. Mama bewacht die Brut. Die Kleine spielt, die Großen kichern. Erstaunlich, wieviel Gründe zum Kichern es gibt. Mama klopft mit der flachen Hand auf die Tischplatte, als die unkritische Heiterkeit ihren Höhepunkt erreicht. Da kommt Papa zurück. Alle setzen sich in Positur, als empfingen sie in einem Gotteshaus das heilige Abendmahl. „ ... nahm er den Burger, dankte, brachs, gabs seinen Töchtern und sprach ...“ 
Von wegen. 

„ Iiiiii, Zwiebeln!“ Ein Aufschrei, voller Ekel, Verzweiflung, Vorwurf. Wozu hat man Väter? Sollten sie sich nicht sorgen, die Kinder hegen, pflegen und verwöhnen? Und dann geben sie einem - Zwiebeln? Fassungslos ist man da! Die Älteste schüttelt sich. 
„Bäääh, Tomaten!“ Das war die Mittlere. Sie hat ihren Hamburger aufgeklappt und betrachtet die rote Scheibe, als handele es sich mindestens um eine Vogelspinne. 

„Papa!“ Alle Enttäuschung der Welt liegt in diesem einen Wort. Er hätte es wissen müssen. Er hat versagt. Gut, man ist vielleicht auch mal abgelenkt, oder vergisst etwas, ohne böse Absicht. Aber in diesem Fall? Wie konnte er nur?!

Wie Chirurginnen am OP-Tisch sezieren die Damen ihre Patienten. Sorgsam werden Zwiebeln und Tomate entfernt. „Gurke! Äääääh! Ich kotz‘ gleich!“ Der Ältesten bleibt nichts erspart. Die Ausdehnung des Tumors ist größer als vorher angenommen. Eine unerwartete Blutung ist eingetreten. Schwester, Tupfer! Mama wischt die klebrig-roten Barbecue-soßigen Finger mit einer Serviette ab. 

Nun greifen die umsitzenden Herrschaften ein, offenbar Ausflügler der Seniorenwohnanlage ‚Abendsonne‘. Eine psychisch unausgeglichene Rentnerin korrigiert das Fehlverhalten der Kinder. „Das heißt nicht ‚iiii‘ und ‚bäääh‘. Das ist Essen!“ Ein emotional aufgewühlter, älterer Herr ergreift ihre Partei. „Froh und dankbar wäre ich gewesen, in deinem Alter, wenn ich so etwas zu Essen gehabt hätte! Weißt du überhaupt, wie Hunger sich anfühlt?“ Die Mutter lächelt entschuldigend. „Die Sara-Patrizia hat eine Zwiebelunverträglichkeit, und die Anna-Mia bekommt von Tomaten immer so Stellen im Mund!“

Empört meldet sich eine depressive Großmutter zu Wort. „Stellen im Mund? Ach Gottchen, Stellen im Mund! Wohlmöglich noch Lactose- und Wasweißichnoch-Intoleranz! Wenn ich sowas schon höre, Stellen im Mund!“ Ich überlege kurz, ob ich etwas Wissenschaftliches beisteuern soll, von Lycopin, und linksdrehenden Lactobazillen, möchte aber nicht als Klugscheißer gelten. 

Die Kinder lässt die Meuterei der Silberrücken völlig kalt. Sie beenden den operativen Eingriff, und erfreuen sich an dem nunmehr genießbaren Objekt der Begierde. Auch die Kleine entschließt sich, ihrem Hamburger Beachtung zu schenken. Sie klappt ihn auf, wie vor ihr schon ihre Schwestern die Ihren. „Is‘ mit Kebschubb“, sagt sie emotionslos, und schiebt das Ding in Richtung Papa.

Die Schweißtropfen auf seiner Stirn werte ich als Eingeständnis seiner Schuld. Welche Auswirkungen sein Versagen auf die zarten Kinderseelen hat, vermag ich nur zu ahnen. 
Habt ihr Töchter? Dann achtet bitte auf besondere Bedürfnisse. Keine Zwiebeln, keine Gurken, keine Tomaten, und, vor allem, kein Kebschubb! 


Alles Gute! 

Vor drei Monaten verstarb eine meiner Nachbarinnen. Nach einem „langen, erfüllten Leben“. Stand im Blatt. Jaja. Ein ausländerfeindliches, antisemitisches Leben ... halt! Moment! „De mortuis nil nisi bene“, hätte meine Mutter gerufen, meine liebe, bösartige, manipulative Mutter. Friede ihrer Asche. Und so hab ich es auch in der Schule gelernt. Und was man in der Schule gelernt hat, stimmt doch, oder? 

Ich bin nicht Mutter Teresa, und auch nicht der Dalai Lama. Ich beanspruche für mich, entgleisen zu dürfen. Das wäre ja wohl noch schöner. Meinen Krieg mit meiner Mutter fechte ich durch meine Existenz aus, und die Nachbarin? „Über die Verblichenen sagt man nichts, wenn es nicht Gutes ist.“ Meinetwegen. Da fällt es mir leicht. 

Es gibt allerdings Kreise, die sich zeitlich und ewig meine Abneigung erarbeitet haben. Völlig wurscht, ob sie noch leben, bereits verstorben, oder aufgrund ihres hohen Alters unfähig zur Einsicht sind. Der Klerus gehört dazu, mit seiner widerwärtigen Doppelmoral, und seinen Unfehlbarkeitsdogmen. Einige Politiker, die mordend, kriegführend, Menschen quälend, brandstiftend und lügend auf die Geschicke der Zeitgenossen Einfluss nahmen. Menschen, die andere Menschen erpresst, verängstig, gefoltert, ermordet haben. Und meine Rechenlehrerin, Frau Holdau, in der Gorch-Fock-Schule in Cuxhaven. 

De mortuis nil nisi bene? Ernstlich? Ja, klar. Hitler war Tierfreund. Wie nett er mit Blondie spielt, auf den alten Wochenschau-Aufnahmen, oder? Und der Pfarrer hat vielleicht ein paar Messdiener vergewaltigt, aber ja auch so viel Gutes getan, nicht wahr? 
Ja, nett waren sie alle. Privat. Auch Jack the Ripper hätte bestimmt Kätzchen-Videos gepostet, und Erich Mielke und seine Stasi-IMs waren freundliche, umgängliche Mitmenschen, die alle anderen lieb hatten. 

Ich bitte herzlich um Verständnis, wenn ich die Auffassung, dass man, nur weil jemand verstorben ist, umgehend damit aufhören muss, an ihm und seinen (Un-)Taten Kritik zu üben, nicht teilen kann. Wir lernen eh schon nichts aus der Geschichte. Deswegen ist es gut, die Erinnerung an geistige Brandstifter und Missetäter aufrecht zu erhalten. Auch mit Mitteln der Satire. Auch wenn’s wehtut. 

So ist das mit Schulweisheiten. Spinat und Pilze KANN man aufwärmen, das Cholesterin im Ei ist nicht schädlich. Der Schlaf vor Mitternacht ist nicht der Beste, und Arschlöcher sind Arschlöcher. Daran ändert auch ihr Tod nichts.


So langsam bekomme ich alles aufgearbeitet, was mir an Texten fehlte. Fährt jemand in nächster Zeit nach Duisburg? Braucht jemand eine Hotelempfehlung? Das hier hab ich gerade bei TripAdvisor veröffentlicht! 

Meckern auf höchstem Niveau

Ich meckere leidenschaftlich gern. Manchmal auch gern leidenschaftlich. Man kann mit der Äußerung von Missfallen so viel dokumentieren, nicht? Gerade, was Hotels angeht. Z.B., wieviel man von der Sache versteht, wie eine gute Unterkunft zu sein hat. Oder auch, das man aus seiner häuslichen Umgebung eben viel, viel Besseres gewohnt ist. 

Als ich das Hotel Rheingarten in Duisburg buchte, interessierte mich, wie so oft, nur der Preis, ist das Frühstück inclusive, und muss ich fürs Parken, wenn überhaupt Plätze zur Verfügung stehen, extra zahlen. Gebucht, erledigt. Anläßlich einer Kaffeepause auf der Anfahrt habe ich mal bei TripAdvisor in die Bewertungen gesehen. „Hässliches Hochhaus, kein ‚Garten‘“. „Zimmer nur oberflächlich renoviert, schlimme Badezimmer“. „Frühstück aus Convenience-Produkten, Orangensaft aus Flaschen“. „Lärmbelästigung, entweder von der Straße, oder von der Rheinschifffahrt“. „Der Fernseher hängt schief“. „Im Bad riecht es muffig, der Wasserhahn war locker“.

Na toll. Was hab ich mir denn da wieder zusammengebucht? Das „hässliche Hochhaus“ sieht man schon von der anderen Rheinseite, von der Friedrich-Ebert-Brücke aus. Die unteren drei Etagen sind Hotel. Ja, der Bau stammt aus den 70ern. Beton im Industriegebiet sieht nun mal so aus. Dafür ist Parken kein Problem. Am Hotel, vorm Hotel, alles gut. Und betritt man die Halle, begrüßt einen schickes, modernes Design, ein glänzender Steinfußboden, und vor allem, eine sehr nette junge Frau, die sich freundlich nach dem Befinden des Gastes erkundigt und die Room Card codiert. 306, im dritten Stock. Blick über den Rhein. 

Dort begrüßt mich ein blau gekacheltes Bad, das nichts zu wünschen übrig lässt. Nagelfeile, Q-Tips, Duschgel, Loschen ( Das ist ein Späßchen. LOTION. Brauch ich nicht. Ich BIN zart. ).Muffig? Hallo? Das Bad hat ein Fenster, und eine Balkontür, die auf einen von zwei Balkons führt! Einfach mal öffnen, Freunde! Mein Kritikpunkt: Der Wasserdruck könnte besser sein. Sonst: Alles perfekt. Im Zimmer freundliche, warme Farben, ein bequemes Bett, ein Wasserkocher und Zutaten für Tee und Kaffee, zwei kleine Gratis-Mineralwasserflaschen, ein Stuhl, ein Sessel, ein Schreibtisch, ein Tisch. Ausreichend Steckdosen. Ich zücke mein Handy mit der Wasserwaagen-App: Ja, der Flatscreen hängt gerade. Zwei Balkons, mit Tisch und Gartenmöbel, und ein hinreißendes, allerdings industrielles, Rheinpanorama. Wir sind ja schließlich im Pott, woll? Und natürlich machen die vorbeifahrenden Schiffe Geräusche. Es gibt vermutlich ziemlich wenig Hotels, die verkehrsgünstige, zentrale Lagen versprechen und auf grünen Wiesen irgendwo in der Wallachei liegen. Hallo? Wen's stört - Fenster schließen!

Unten frühstückt man. Frische Brötchen. Lecker. Croissants, Zimtschnecken, Brot. Eier/Rührei. Speck, so kleine Bouletten. Marmelade, Zerealien. Obst, Joghurt, Quark, Frischkäse. Käse, Schinken, gemischter Aufschnitt. Lachs mit Meerrettich. Kaffee, und edle Teesorten. Leider keine Zitrone. Ich wende mich an die emsige, gut gelaunte, etwas reifere Dame mit den dunklen Haaren. Selbstverständlich! Kein Problem! Wir quatschen noch ein wenig über Zitronen, die Rente, Unterschiede im spanischen und deutschen Sozialsystem. Sie ist nämlich Spanierin, auch wenn sie in Essen aufgewachsen ist. Auch der Blick über den Rhein ist aus dem schicken Restaurant möglich. Und auch hier wieder eine Terrasse, aber nur im Sommer. Und etwas verschämtes Grün. Ha! Also doch ein Gärtchen! 

Ich meckere leidenschaftlich gern. Auch gern mal auf hohem Niveau. Wenn es denn was zu meckern gibt. 
Ich gestehe jedem seinen eigenen Geschmack, seine eigene Meinung zu. Aber als ich da so beim Frühstück saß, vor meiner Tasse Zitronentee, auf den Fluss sah und in ein lecker duftendes knuspriges Brötchen mit Butter und Aprikosenmarmelade biss, dachte ich daran, wie gut es mir geht. Wie stimmig meine geliebte Ruhrpott-Umgebung ist. Wie herzlich die Mitarbeiter des Hotels sind. Und wie glücklich und dankbar ich in diesem freundlichen, hässlichen, stylisch eingerichteten Hochhaus bin. 

Unter uns: Ich freu mich schon auf das nächste Mal!


Smarte Menschen 

Wann immer ich in Bochum zur Inspektion aufschlage, erwartet man hinterher einen Bericht von ein paar lustigen Erlebnissen mit dem Leihwagen. Ihr freut euch schon auf ein paar bissige Kommentare zum Smart, oder? 
Ich muss euch enttäuschen. Der Begriff ist doch gar nicht so negativ besetzt. Und ich will ihn ja gar nicht negativ besetzen. Auch wenn es kürzlich was zu lachen gab, weil die junge Frau in Hamburg offenbar das gesamte Ding für den Tank hielt, und, als es überschwappte, eine Tankstelle in Brand setzte. Auch die neue Marketing-Idee, „ready to share“, fand ich zum Brüllen komisch! Hallo? Was soll ich denn da teilen? Wenn ich drin sitze, ist das Ding voll! 

Bei „Smart“ fällt mir sofort Andreas ein, mit dem mich sehr viel verbindet. Der beste KFZ-Meister der Welt. Und, bei aller Professionalität, ein Freund. Ich solle die Karre nach 15:30 Uhr abholen, von der Inspektion. Da hat er Feierabend, und wir noch Zeit zum Quatschen. Erstaunlich, und berührend, was sich zwischen Menschen entwickeln kann, die sich nur kurz und eigentlich nicht kennen.

Bei „Smart“ fällt mir sofort Peter ein, mit dem mich sehr viel verbindet. Der beste Schulfreund der Welt. Der mich in seinen Smart Roadster schubst und um die Häuser karriolt, der Wahnsinnige. Aber spaßorientiert war er ja immer schon. Erstaunlich, was sich zwischen Menschen entwickelt hat, die sich weit über 45 Jahre kennen, und immer noch - oder wieder - mögen. 

„Smart“ ist, behauptet der Duden, nicht nur das lustige kleine Auto. Es handele sich um ein Adjektiv, entlehnt aus der englischen Sprache. ‚Gewandt und gewitzt‘, sowie ‚von modischer und auffallend erlesener Eleganz‘. Entsprechend erläutern die gängigen englischen Dictionaries ‚smart‘ als ‚neat and well-dressed, fashionable‘, als ‚clever and quick in thought and action‘, aber auch, abhängig vom Kontext, als ‚brisk, sharp‘.

Passt gut, oder? Andreas und Peter - beide smart. Beide großartig. Beide liebenswert. Beide sehe ich viel zu selten. Und trotzdem besteht da dies Phänomen, dass es keine Anlaufschwierigkeiten gibt. Nicht wahr, das kennt man. Es gibt Freunde, da ist das Gefühl von Vertrautheit und Zusammengehörigkeit unmittelbar wieder da, auch wenn zwischen jetzt und dem letzten Treffen einige Zeit verstrichen ist. Es ist wieder da? Ich denke, es war nie weg. 

Das fühlt sich ein wenig so an, als ob man sich nach langer Zeit wieder in einen Smart quetscht, und einfach losfährt. Vertraut. Familiär. Wohlbekannt. Eng verbunden. 

Ja! Wirklich eng! 😉


Krokodil

Ich sollte mir überlegen, McDonalds-Geschichten herauszugeben. Hier ist die Heutige. Nach dem Erwerb meines großen schwarzen Kaffees für stolze 2 Euro 59 nehme ich Platz, um irgendwie meine dritten 10000 Wörter zu schaffen. 

Der Laden ist voll, das Stimmengewirr und die Bewegungsmuster verschwimmen in einem lebhaften Einheitsbrei, wunderbar, gleichförmige Hektik, so habe ich es gern. 
Plötzlich ändert sich etwas. Ein orangefarbener Ballon bewegt sich vor meinem Gesicht hin und her. Ich schaue vom Display auf, und sehe am anderen Ende des roten Plastikstabes, an das das luftgefüllte Objekt geklammert ist, einen kleinen, blonden Jungen, ca 5 Jahre alt, der mich aus riesigen blauen Augen anstarrt. 

„Guten Tag“, sage ich. Er guckt weiter. Bewegt den Ballon nach rechts. Ich folge ihm mit den Augen. Er lacht. Der Junge versucht die andere Seite. Wieder folge ich. Jetzt ein Kreis. Ich lasse meinen Blick rotieren. Und wieder hinauf, hinab, rechts, links, Kreis - jeder Bewegung folge ich. 

Er findet das lustig. Immer aberwitziger werden seine Bewegungen, immer schneller. Er beginnt, um mich herumzulaufen. Und weiter folge ich ihm mit meinem Blick. Er quiekt und lacht vergnügt. Plötzlich bleibt er dicht neben mir stehen, stützt sich auf meinem Oberschenkel ab, und klopft mit dem Ballon auf meinen Kopf. „Du-hu?“, fragt er. „Weißt du, das ist ein Krokodil!“. Ich muss ihm da widersprechen. Ein Krokodil sei auf jeden Fall grün. Das beeindruckt ihn nicht im mindesten. „Es gibt auch orange Krokodile“, korrigiert er mich streng. Ich bilde mir ein, so etwas wie Missbilligung in seiner Stimme wahrzunehmen. 

Er verlässt mich, aber nur, um Sekunden später mit einem grünen Ballon zurückzukehren. „Rrrrrr!“, macht er, um anzudeuten, wie gefährlich das Krokodil ist. Ich habe ordentlich Angst, und klappere mit den Zähnen. 
In ihm kommt Mitleid auf. „Du brauchst keine Angst haben“, tröstet er mich, grammatisch nicht ganz einwandfrei. „Ich spreche die Sprache der Tiere! Ich hab ihm gesagt, tu dem alten Mann nichts!“

Innerlich bricht der alte Mann zusammen, bewahrt aber nach außen hin Haltung. „Das ist aber nett von dir, dank Dir schön!“, lobe ich ihn. 
Krokodile allerdings sind unberechenbar. „Grrrrrr!“ Es schnappt nach mir, das heimtückische Tier! Und hastdusnichtgesehen, fehlen alle Finger meiner linken Hand. 
„Was mach ich nur, was mach ich nur“, jammere ich grimmepreisverdächtig. „Jetzt muss ich die Buchstaben mit der Nase anklicken!“
„Mach mal“, freut er sich. Ich versuchte das zentral gelegene ‚h‘. Heraus kommt das ‚t‘. 
Mein junger Freund hat Erbarmen. „Ich hab Medizin“, tröstet er mich. Er greift in seine Hosentasche, und zieht eine Portion imaginärer Zaubersalbe hervor, die er mir auf meine lädierte linke Hand patscht. 

„Hurra!“, rufe ich, „da sind sie wieder, die Finger!“
Eine unangenehme Stimme ertönt. „Maxi, kommst du bitte?“
Maxi sagt „Tschüss!“, und rennt schnell hinter seinen Eltern her. Das grüne Krokodil bleibt mir. Gemein, mir das Kind wegzunehmen. Rücksichtslos. Ich merke, dass ich meinen neuen Freund vermisse, daran, dass ich nicht mehr schreiben mag. Vielleicht schaffe ich morgen die 10000 Wörter? Es sei denn, ich werde wieder von wilden Tieren attackiert. 

Man kann ja nie wissen. 


Das Essen ist fertig!

Auch heute wieder McDonalds. Desaster. Lauter junge Mütter, die glauben, gekocht zu haben, wenn sie Spaghetti in heißes Salzwasser werfen, und Gläser mit Tomatensauce aufschrauben können. Und die Nummer vom Pizzadienst auf dem Kurzwahl-Platz 2 einprogrammiert haben. Die Kinder sind entfesselt. Das kleine Mädchen schräg gegenüber kreischt wie eine elektrische Säge in einer leeren Werkshalle. Zwei kleine Jungs schlagen rhythmisch mit der flachen Hand auf eine interaktive Tischplatte. Zwei kleine Mädchen brillieren in der Meisterschaft des Synchronplärrens. Mama in der fliederfarbenen Pluderhose ist irgendwie in den letzten Zügen der Frauenbewegung steckengeblieben und kaut sicher auf einem Stückchen geräucherten Tofus herum. Papa schreit von diesen neuen Bestellterminals quer durch den Raum, „Frieda-Jolantha, Marie-Theodora! Was wollt ihr zu trinken?“ Zeitgleich schreit die eine „Apfelschorle“, die andere „Milch“, dann die erste „und Cola“, und die zweite „und Fanta“. Papa weist lautstark darauf hin, dass Mehrfachnennungen leider nicht möglich sind, und man sich JETZT entscheiden müsse - woraus das Geplärre erstmal so richtig losgeht. 
Der eigentliche Gipfel ist aber die frauenbewegte Mutter, die allen Ernstes plötzlich ein „Essen ist fertig, kommt ihr bitte?“ von sich gibt. 

Eine fröhliche polnische Familie betritt das Etsblissement. Ein Tablett voller Hamburger wird gekauft. Wenn dass dies Großeltern wüssten, dass die Enkel statt Bigos und Piroggen mit pappigen, ungesunden Brötchen abgespeist werden! Die kleinen polnischen Mädchen fordern pinkfarbene Ballons. Ich verstehe zwar kein polnisch, aber Pink ist die einzige Farbe, die nicht an dem Baumstamm mit den Löchern für die Ballonhalter vorhanden ist. Auch dies ist natürlich ein Grund, laut zu brüllen, und mit den Füßen aufzustampfen, wütend auf die Ballons zeigend. 

Mama Polska hat inzwischen den vierten Hamburger verdrückt. Aha, daher stammen also ihre üppigen Rundungen. Sie ruft etwas Polnisches in die Runde. Vermutlich kündigt sie an, dass sie alle Hamburger allein verzehren wird, wenn die Kinder nicht augenblicklich -
 Folgerichtig strömen die lieben Kleinen in Scharen heran, um ihren Burger sicherzustellen.

„Timm-Nikolaus, nein! Setz dich wieder hin! Du darfst erst spielen, wenn du aufgegessen hast. Nein! NEIN, Timm-Nikolaus! SoFORT setzt du dich wieder hin! Timm-Nikolaus, ich meine es ernst. Hörst du? EEERST AUFESSEN!“ Erstaunlich, dass die Mutter reden, und gleichzeitig einen vermutlich völlig anderen Text in ihr Handy tippen kann. Multitasking, nennt man das, glaube ich. Timm-Nikolaus wirft seinen Hamburger auf den Boden, tritt drauf und begibt sich in aller Seelenruhe zum interaktiven Spieltisch, auf dem er lustig herumklopft. „Timm-Nikolaus, jetzt bin ich aber SAUER!“ Eben war es mir, als hätte sie kurz hochgesehen, um ihr Kind anzuschauen. Das war ein Trugschluss. Ich bin ehrlich plötzlich auch gar nicht mehr sicher, ob das Kind wirklich Timm-Nikolaus ist. Naja, sie muss es ja wissen. Vielleicht. Man hätte ihr bei der Geburt irgendein Kind unterschieben können, mitgekriegt hätte sie es sowieso nicht, vor lauter Tippen auf dem Handy! 

Ich will unbedingt noch fertig werden. 2000 freundliche Worte trennen mich davon. Kein Wunder. Wenn ich ständig nebenher diesen Quatsch schreibe, kann das ja nix werden! Danke, Timm-Nikolaus! 



Mandy knows best

Eins will ich vorausschicken: Keiner hat mich nach meiner Meinung gefragt. Es wurde in einer Gruppe, die ich frequentierte, ein Bild geteilt, auf dem man einige Medikamente sah. Unter anderem Ibuprofen 600 ( Dosierungsempfehlung 3x1 ) und ein Cephalosporin - ein Antibiotikum - der 3. Generation. 

Nun hab ich es ja mit dem Herzen, und reagiere auf die NSAR-Gruppe mit Panik. Immerhin gibt es Studien, denen zufolge sie das Risiko für einen Herzstillstand um 31% erhöhen. Das kann und muss man als Arzt durchaus mal wagen. Bei Tumorleiden, Rheuma, Migräne. Hier wurde die Indikation bei Halsschmerzen gestellt ( „Beginnende Kehlkopfentzündung“. Aha. Ja, das ist sicher die klangvollere Bezeichnung. ). Wie bitte? HALSSCHMERZEN?

Ich habe mir erlaubt, darauf hinzuweisen, dass diese Medikation vermutlich doch etwas hoch gegriffen ist, stellt man den Nutzen und das Risiko nebeneinander. Und ich habe noch einen „Focus“-Artikel zu diesem Thema angehängt, um meine Sorge zu unterstreichen. 

Ja, und damit rief ich sie auf den Plan, die Mandys, die Susis und die Chantals dieser Welt! Wären in der Gruppe noch Kevins und Justins gewesen, hätte es mich nicht gewundert. Was für ein Quatsch, sagte Mandy, das stimme alles gar nicht. Sie hätte ja selbst 5x am Tag 800 mg genommen. Ähnliche hochqualifizierte Äußerungen wurden über mir ausgegossen. 3 Jahre Krankenpflege, 7 Jahre Studium, 35 Jahre Arzt - was ist das alles im Vergleich zu dem tiefen, ursprünglichen Wissen einer Mandy, die Ibuprofen nascht, wie andere Gummibärchen? 

Ich bin aus der Gruppe direkt raus. Magengeschwüre und Herzstillstände hätte ich toleriert. Aber Scheiße doof? Vermutlich eine bisher noch wenig erforschte Nebenwirkung unkontrollierter Ibuprofen-Einnahme. Ach nein, danke. Ich bin auch schuld. Gebe ich ja zu. Ich habe mich verantwortlich gefühlt. Die Fresse hätte ich halten sollen. 

Ich muss mich mehr zurückhalten. Und, Susi und Mandy, Chantal und Justin - kommt mir nicht mit „Ey, du hättest ruhig mal was sagen können! Du bist doch Arzt, oder?“ 

Ich hoffe, dass ihr all die schlimmen Krankheiten habt, für die diese Medikamente gedacht sind. Und dass bei Risiken und Nebenwirkungen  Mandy euch gute Ratschläge geben kann. Oder Chantal. 
Get well soon! 


Wort ( 18.11.18, Volkstrauertag )

Alle Jahre wieder frage ich mich an diesem seltsamen Tag, wie es möglich war, dass man Menschen einreden konnte, dass es so etwas gibt, wie „Erbfeindschaften“. Dass man Menschen, die einem selbst so ähnlich sind, hassen, verachten, als Feinde ansehen kann. 

Deutsche, Franzosen, Engländer, Russen, Amerikaner - sie haben aufeinander geschossen, sich getötet, gequält, Kinder zu Waisen, Frauen zu Witwen gemacht. Eltern das Liebste genommen. 

Nationalismus ist Müll. Auch wenn es inzwischen Kräfte gibt, die dorthin zurück wollen. Wir gehören zusammen. Ich freue mich, dass ich mein Leben in einer Zeit verbringen durfte, in der dies oberste Maxime war. Ich bin dankbar, Eltern gehabt zu haben, die mich zu einem Europäer mit deutschem Pass erzogen haben. Ich hatte das Privileg, von exzellenten Lehrern Lehren aus der internationalen Geschichte im Allgemeinen und der deutschen Geschichte im Speziellen zu lernen.

Ich stelle mir manchmal die Absurdität vor, dass ich 1914/18 oder 1939/45 gezwungen worden wäre, andere Menschenleben auszulöschen, für Kaiser/Führer und Vaterland. Menschen, die heute meine Freunde sind. Die mein Leben begleiten. Deren Leben ich begleite. 

Es war offenbar möglich, für einen bestimmten Zeitraum der Menschheit beizubringen, dass Kriege sinnlos sind, und alle Menschen gleich viel wert. Es gab das Wort, dass man nur aussprechen musste, um Frieden, Liebe, Freundschaft zu erwirken. Dieses Wort sagten meine Eltern und Großeltern zu mir. Es trug Früchte.

Es hallt in mir nach, immer noch. Es klingt ihm meinem Kopf, es erwärmt mein Herz. Es durchströmt mich, es erfüllt mich. Es macht mich völlig unfähig, nach Rassen, Nationalitäten, Sprachen, Herkunft, Hautfarbe und anderen Nebensächlichkeiten Unterschiede zu konstruieren, oder bestimmten Menschen bestimmte Eigenschaften anzudichten. 

Es war so eindringlich, intensiv, und dennoch weiß ich nicht mehr, welches Wort das war. Ich weiß nur, dass es wieder an der Zeit ist, es auszusprechen. Es muss dringend gesagt werden. Unbedingt, und bald. Es muss gerufen werden, geschrieben, geschrieen in höchster Not. Es ist in Vergessenheit geraten.

Es war doch einmal möglich. Gibt es denn niemanden, der sich an dieses Wort erinnert? Es könnte alles so schön sein, wenn es auch nur einen gäbe, der es ausspricht. Vernehmlich, und eindringlich. Das ohrenbetäubende Gerede der Gestrigen übertönend. 

Es war schon einmal möglich. Jemand wusste, wie dieses Wort heißt. 
Es könnte wieder möglich werden. Man braucht nur ein gutes Gedächtnis.




Liebes ZDF,

Ich oute mich mal. Ich mag euch. Die Sokos, die Rosenheim-Cops. Die Küchenschlacht, und Bares für Rares. Das Morgenmagazin vertrüge etwas mehr Pep, aber immerhin gibt es dort Frau Hayali. Die ‚heute‘-Sendungen sind informativ. Die kritischen Magazine wichtig, die Talkshows verzichtbar. Wunderbar, und immer ein Highlight am Freitag, die heute-Show. 

Ihr seid oft gescholten worden, als Rentner-Fernsehen. Was soll’s? Ich bin ja auch Rentner, das passt also! 

Nun lese ich erstaunt, dass im deutschen Fernsehen Zensur Einzug gehalten hat. Eure Kollegen von der ARD haben sich von der AfD einschüchtern lassen, und ein ‚FCK AFD‘ -Schild verpixelt, offenbar auf Anordnung des Reichs-Propaganda-Ministeriums. Vermutlich wird die ARD künftig eine Liste der geplanten Ausstrahlungen der AfD vorlegen und darauf achten, dass nur noch Sendungen on Air gehen, die dieser Gruppierung genehm sind. Ich meine, schlimm genug, dass die Lindenstraße nicht weiterläuft. Aber das Kuschen vor Gaulands Stirnrunzeln stimmt doch sehr nachdenklich. 

Tut ihr mir bitte einen Gefallen? Macht das nicht, o.k.? Soweit sind wir nämlich noch nicht, auch wenn wir offenbar unaufhaltsam auf die Machtübernahme zusteuern. Lasst euch die Filme, die ihr zeigt, nicht von der Reichsfilmkammer vorschreiben. Schneidet kritische Kommentare nicht heraus. Sonst bleibt von euch bald nur noch das Testbild übrig. Bitte sucht das Heil auch weiterhin bei euren Zuschauern, und nicht bei Politikern. 


Nur für eine Nacht

Wenn das schon so losgeht ... ich bin etwas zu spät losgefahren, na gut, es wird schon kein Stau sein! Du schaffst es bestimmt, dich pünktlich auf die Minute mit der armen alten Tante zu treffen. Vorher solltest du einchecken, im Hotel. Nicht, dass nachher dein Zimmer weg ist. Ein kleiner Umweg, aber Parkbank in dieser Jahreszeit ...?

Das Neotel liegt in Stuttgart-Möhringen. Ich bin hier schon einige Male gewesen, und war wirklich immer sehr zufrieden. Schöne Zimmer, vernünftige Bäder, anständiges Frühstück, realistische Preise. 

Ich schnappe das Köfferchen und begebe mich zum Empfang. Der junge Mann interessiert sich nicht für mich. Das Probleme auf seinem PC-Bildschirm nimmt ihn gefangen. Völlig. 
„Volmer!“

Ja und? Da könnte ja jeder - nein, jetzt nicht. Wenn ich nicht hinsehe, verschwindet der Typ von allein, wetten? das hat er sich so gedacht. Aber:
Irrtum.
„Volmer!“

Mein Gott noch mal! Wie aufdringlich ist das denn? „Ja?“ 
„Ich habe eine Reservierung. Doppelzimmer. Eine Nacht.“
„Ist noch nicht fertig.“
Naja. Es ist ja auch erst 12Uhr30. 
„Könnten wir nicht trotzdem den Check-in ...?
„Nein.“
„Ich komme dann aber erst nach 23 Uhr ...“
„Macht nichts.“
Na gut. Er interessiert sich auch nicht für mein Köfferchen. Es gibt Hotels, in denen aufmerksame Menschen einem anbieten, das Gepäck kurz aufzubewahren. Aber er hat das Bildschirmproblem noch nicht gelöst, und ich habe ihn gestört. Also trage ich mein Gepäck zum Kofferraum, und lade es wieder ein.

Das Bett steht in der Ecke an der Wand. Mit der Längsseite. Na klar. Um freizustehen, damit zwei Menschen gleichberechtigt ein- und aussteigen können, müsste Platz sein, im Zimmer. Is' nich'. Deswegen muss bei zwei Menschen entweder einer über den anderen herübersteigen, oder sich vom Fußende her mühevoll hochrobben. 
Dafür ist das Bad etwas enger. Es ist fast unmöglich, auf der Toilette Platz zu nehmen, es sei denn, man schraubt vorher den schicken riesigen Halter für die Papierrollen ab, der einen in eine unnatürlich schräge Position zwingt. Die Trennwand zur Dusche ist so locker, dass ich befürchten muss, von ihr erschlagen zu werden. Und der Duschkopf genau so verkalkt wie der Kopf des derzeitigen Papstes.

Ich habe jetzt dreimal hier gewohnt. Ja, es gibt ganz dolle Zimmer, mit Balkon, sogar. Freie Parkplätze. Ein mehr als akzeptables Frühstücksbüffet. Alles zum vernünftigen Preis. Aber dies hier? Wäre ich in so einem Zimmer beim ersten Mal untergebracht gewesen, wäre dieses erste auch das letzte Mal gewesen. Einen habt ihr noch gut, Freunde. Am 23.12. komme ich wieder. 

Es ist ja nur für eine Nacht. Parkbank ist schlimmer. 
Glaube ich.


Hygieneartikel sind vom Umtausch ausgeschlossen!

Meine Geschichte beginnt in einer Filiale der Metro-Kette. Nein, eigentlich am Morgen des 13.12.18 in meinem Badezimmer. Meine elektrische Zahnbürste kratzte lustlos an meinen Beißerchen herum, nix von soundsoviel Tausend Bewegungen. Na gut. Sie ist, so wie ich, in die Jahre gekommen, dachte ich, es wird Zeit für das neue Modell. Oral-B hießen auch meine alten Bürsten, die neue, die ich mir in der Metro aussuchte, hörte auf den Zusatz PRO 2 2000N. € 51,29. Wunderbar. 

Ich nahm das Prunkstück aus seiner Verpackung, stellte es auf die Ladestation, und 15 Stunden später drückte ich auf den Knopf, der den Start versprach - nichts passierte. Ich habe dann noch einmal drei Stunden draufgegeben, ohne Erfolg. Na ja. Kann ja mal vorkommen. Vermutlich ein Fabrikationsfehler. Wann komme ich wieder zur Metro? Am 20.. Na schön. Die werden das Ding sicher umtauschen. 

Frau W. hieß mich willkommen. Eine freundliche, ruhige, reifere Dame. Sie füllte einen Zettel aus und bat mich, mich zum Info-Counter Hausgeräte/Elektro zu begeben. 
Da war niemand. Nach gefühlten 10 Minuten ließ ich mein Stimmchen erschallen, und alsbald war da bei dem Kunden die Menge der himmlischen Mitarbeiterscharen in Gestalt einer jungen Frau, die sich nach meinem Begehr erkundigte. 

„Das geht nicht. Hygieneartikel sind vom Umtausch ausgeschlossen.“, erklärte sie mir. Ich habe dann entgegnet, dass es sich nicht um eine Packung Kondome handelte, sondern ein (leider) unbenutztes elektronisches Equipment. „Ja, aber sie haben es ja schon ausgepackt! Damit ist es nicht mehr unbenutzt!“ 

Ich erläuterte ihr dann, dass ich das Gerät zum Zweck der Benutzung erworben und damit zu recht aus der Umverpackung genommen hätte. Das war zu viel für sie. „Moment, ich hol mal jemanden!“ Wohlan, schönes Kind. Holen Sie jemanden.

Ein Herr in einem schlecht sitzenden Hemd näherte sich. „Haben Sie die benutzt?“
Herr, verleihe mir Kraft und Gleichmut. „Leider nein. Hätte ich sie benutzen können, wäre ich heute nicht hier. Sie funktioniert nicht, und was nicht funktioniert, kann man nicht benutzen.“ 
„Ja, aber sie ist doch ausgepackt!“
„Richtig. Anders hätte ich ja auch nicht feststellen können, dass sie nicht funktioniert. Zudem besteht der Sinn des käuflichen Erwerbs eines Gerätes darin, es auszupacken und in Betrieb zu nehmen - wenn sie sich denn in Betrieb nehmen lässt.“

„Hygieneartikel sind vom Umtausch ausgeschlossen.“
Ich merkte, dass auf meiner Oberlippe Schweißperlen standen, und vor meinen Augen kleine Pünktchen heitere Tänze aufführten. Meine Hände ballten sich wie von selbst zur Faust, und meine Stimme wurde, dank Atemstütze, deutlicher. „Wollen Sie mir damit sagen, dass ich in diesem Laden so lange elektrische Zahnbürsten kaufen muss, bis ich mal auf ein funktionierendes Exemplar stoße?“

„Wir können sie einschicken“, schlägt er mir vor. 
Großartig. Ich erwerbe eine Zahnbürste, die offenbar defekt ist. Es folgen Weihnachten, Neujahr - wann werde ich eine funktionierende Bürste in Händen halten? 
„Einschicken, um was zu tun?“
„Reparieren!“

Ich ringe nach Luft. „HALLO? Ich habe hier eine NEUE ELEKTRISCHE ZAHNBÜRSTE erworben in der Hoffnung, ein funktionierendes Gerät zu bekommen. Ich WILL KEIN REPARIERTES Gerät!“
„Dann kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“
Für das schlecht sitzende Hemd ist der Fall erledigt. Heute Abend wird er, heimkommend, auf die Frage seiner Gattin, wie sein Tag war, sagen, grauenvoll. Nur Idioten heute. Anspruchsvoll, und laut.

„HALT!“, kommandiere ich. „Schaffen Sie mir SOFORT Ihren Vorgesetzten herbei!“
Herr E. O. steht vor mir. 
„Wir sind gehalten, das Gerät einzuschicken“, erläutert er mir. „Vielleicht kann man es reparieren. Sonst würden wir ja auf dem Verlust sitzenbleiben. So können wir es ja wohl schlecht weiterverkaufen.“
Ich stehe kurz vor der Detonation. „ES IST KAPUTT! WENN SIE ES WEITERVERKAUFTEN, WÄRE DAS BETRUG!“
„Mehr kann ich für Sie nicht tun“, erwidert Herr O. achselzuckend. „Das hab ich ihm auch schon gesagt!“ Na klar. Das schlecht sitzende Hemd. Der hat mir gerade noch gefehlt in meiner Sammlung.

Ich notiere mir den Namen des Herren und erwäge, meiner Rechtsschutzversicherung etwas zu tun zu geben. Beim Verlassen der Metro laufe ich Frau Wacker in die Arme. „Na los“, meint sie. „Geben Sie mir das Ding. Ich schicke es ein, und rufe Sie an, sobald es wieder da ist. Außerdem - Sie bekommen bestimmt ein Austauschgerät!“

Frau W. ist nett, fast mütterlich. Ich kann ihr nicht widerstehen. Und gebe nach. 

Das Ganze ist mir eine Lehre. KEINE ELEKTROGERÄTE IN DER METRO KAUFEN! Vorsicht auch vor Real, Makro, Galeria Kaufhof. Saturn und Media Markt gehören auch zu dem Laden. Aber da bestehe ich in der Regel darauf, dass der Verkäufer das Produkt auspackt und auf seine Funktionsfähigkeit testet. Deswegen, liebe Freunde: FALLS IHR METRO-KUNDEN SEID, SEHT EUCH VOR! Überlegt euch gut, wo ihr einkauft.

Ich selbst? Ich bin seit 30 Jahren Metro-Kunde. Seit 30 Jahren. Kulanz? Da habe ich wohl zu viel erwartet. Vielleicht bekomme ich eine alte neue reparierte elektrische Zahnbürste. Wunderbar. Genauso habe ich es mir vorgestellt. Da hätte ich sie auch bei EBay erwerben können. Das war übrigens mein letztes Oral-B-Modell. Nie wieder Oral-B. 

Und nie wieder Metro.


Auld Lang Syne

Das Jahr 2018 geht mit Macht zu Ende. Habt ihr auch Freunde/Verwandte, die euch mit diesen eintönigen endlosen Briefen bewerfen, um euch - wie Facebook mit diesen nutzlosen Videos - Informationen aufzudrängen, die ihr gar nicht hören wollt? Oder schwingt ihr euch selbst an den Schreibtisch, wie ich gerade, um das zu tun, was ihr bei anderen kritisiert? 

 In der Regel handelt es sich ja um Berichte von Erfolgsgeschichten. Jawoll, ich hab’s geschafft. Mein Haus, mein Boot, mein SUV. Ein gutes Jahr war’s, ein erfolgreiches Jahr. Alle Ziele erreicht, alle Pläne verwirklicht. Lobhudelei am Fließband. Ja, ich habe das Bernsteinzimmer gefunden, erfolgreich Gehirntransplantationen durchgeführt und habe auf Bitten des People Magazines nicht an der Wahl zum Sexiest Man Alive teilgenommen - man musste den Titel aus politischen Gründen Idris Elba verleihen. Ich verkehre in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen, droppe names ( „... und dann sagte George zu mir, komm, nimm noch etwas Kaviar, und Amal meinte, Beluga, hab ich extra für Dich eingeflogen, weil du ihn so gern isst ...“ ), und zeige meine Weltgewandtheit dadurch, dass ich von „unserem Cannes“ und „meinem L.A.“ spreche. 

Ja, alles erscheint unmöglich, bis es jemand macht. In diesem Fall bin ich dieser jemand. In Kürze: Dass ich inzwischen mit Schreiben Geld verdiene, wisst ihr schon. Ich bin immer noch sehr überrascht, sehr glücklich, sehr aufgeregt, sehr stolz. Mal sehen, wie es sich entwickelt. 

Das war es auch schon. Ach so, ja. Da gibt es noch was. Meine Facebook-Euphorie löst sich gerade in Luft auf, und auch die derzeitigen gesellschaftlichen und politischen Vorkommnisse sehe ich deutlich kritischer. 

Erstens.) habe ich gelernt, dass nur ein winziger Teil der Facebook-„Freunde“ diese Bezeichnung verdient. Das erste Mal, als ich mich als Nichtraucher outete. Ich war überrascht, wieviel Spott, Häme und Feindseligkeit mir entgegengebracht wurde. Und wenn ich heute in den „Erinnerungen“ Kommentare dieser Ex-„Freunde“ lese, die honigsüß und scheinbar liebevoll daherkommen, frage ich mich, was mein rauchfeindlicher Post so alles ausgelöst hat. 

Zweitens.) war ich angesichts meines bisherigen Engagements für Geflüchtete erschrocken, als ich begriff, dass meine religionskritische Haltung zu erheblichen Problemen führt. Merke: Kritisierst du meinen Glauben, bist du nicht mehr mein Freund. Denn damit kritisierst du mich. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ich diesen nur genehm bin, wenn ich den Islam bejubele. Nö. Tu' ich nicht. Das hat meiner Meinung über Flüchtlinge nicht gut getan. Mein Engagement habe ich eingestellt.

‚Junge, du musst dich mehr anpassen!‘, hätte Mama gesagt. Nein, leider. Ich wünschte, ich könnte das, aber ich will nicht. „Aber willst du denn nur Ja-Sager in deinem Freundeskreis? Hältst du Kritik nicht aus?“ Eine weit verbreitete Schwäche, oder? Man sucht sich seine Freunde doch eher nach dem Gleichundgleichgeselltsichgern-Prinzip aus. Und das mit der Kritik? Das kam von einer christlich-religiösen „Freundin“, deren Fräulein Tochter mir nach dem Ende unserer (Facebook)-Freundschaft eine Hassmail schickte - eine Folge religiöser Erziehung! -, und die mir auf meine Nachfrage bestätigte, wie stolz sie auf die Nachkommenschaft sei. Also, ihr Lieben: Wenn das Kritik ist, dann halte ich sie nicht aus. Zumindest nicht ohne die Familienpackung Vomex A. 

‚Junge, du musst besser aufpassen.‘ Du stürzt dich da kopfüber in ein emotionales Chaos, und hinterher bist du dann enttäuscht, wenn’s schiefgeht. Sei den Flüchtlingen gegenüber kritischer, als du es warst. Frag dich, ob das wirklich zusammenpasst, deine kritisch-sarkastische Sicht auf Religionen im Allgemeinen, und religiöse Dogmen und die damit verbundenen gesellschaftlichen Einstellungen im Besonderen. 
Passt das? Nein. Natürlich nicht. Nur in Ausnahmefällen. Wenigen Ausnahmefällen. 

Und ‚Junge, halte dich zurück.‘ Du trägst Dein Herz auf der Zunge, und hast immer etwas zu viel Vertrauen, das ist leichtsinnig. Über Facebook kann man sinnvolle Kontakte knüpfen, nützliche oder gleichgesinnte Leute kennenlernen, Verbindung zu alten Freunden halten. Freundschaften - das funktioniert nicht. Dazu ist das Medium zu eindimensional. Weder Zeit noch Intensität reichen aus. Und das Überangebot an Charakteren ( wenn’s denn welche sind! ) verführt zu verschwenderischem Umgang mit Ressourcen. Wir alle sind Meister der Verstellung. Wir entwerfen ein Bild von uns und hoffen, dass wir ihm ähnlich werden. 
Sind wir das? Nein. Nur in Ausnahmefällen. Wenigen Ausnahmefällen. 

Das Jahr 2018 geht mit Macht zu Ende. Ein super spannendes, super erfolgreiches, und, bei allen persönlich-menschlichen Niederlagen, sehr lehrreiches Jahr. Ein Mindestmaß an Enttäuschung gehört zum Leben dazu. 
Was machen wir besser, in 2019?
Wir denken wieder mit unseren Gehirnen, nicht mit unseren Herzen. Wir bleiben misstrauisch, zumindest vorsichtig. Wir halten uns zurück bis dicht ans Desinteresse. Wir trauern niemandem nach. Wir hören auf, uns angesprochen, oder für irgendjemanden oder -etwas verantwortlich zu fühlen. Wir bleiben höflich. Und auf Distanz. Und wir trennen uns von denen, die uns nicht guttun. Dann klappt’s auch mit dem Neuen Jahr! 

In diesem Sinne allen ein frohes Weihnachtsfest und ein entspanntes 2019!


Drei Sekunden Ewigkeit ( Heiligabend, 2018 )

Die Reaktionen auf mich, wenn ich irgendwo erscheine, sind durchaus unterschiedlich, und bewegen sich zwischen Entsetzen und Is'-mir-egal. 

Der Heilige Abend 2018 war da eine Ausnahme. Ich begegnete einem schwarzhaarigen, muslimischen Christkind, immerhin schon 5 Jahre alt. Dieses Kind lachte, als es mich sah. Es feixte, kicherte, grinste - ein glucksendes, fröhliches, herzallerliebstes Gelächter mit einem kurzen Schlucken am Ende. 

Wir sprachen nicht dieselbe Sprache, Subhan und ich. Deswegen war ich zunächst etwas verunsichert. Man stelle sich vor: Verunsichert durch das Lachen eines Kindes an Weihnachten. So weit ist es schon. 

Dann kommt er auf mich zu, und strahlt mich an, mit seinen kohlrabenschwarzen Augen, und umklammert mit seiner Hand meinen linken Daumen. Es gibt nur noch uns beiden. Los, spielen. 

Er rennt um mich herum, umkreist mich auf elliptischen Bahnen, gefährlich nahe, von Zeit zu Zeit, und ich muss ihn fangen. Oft genug verzichte ich auf meinen billigen Triumph, oh weh, er ist mir entwischt, aber bestimmt beim nächsten Mal -  Er freut sich, wenn es mir misslingt, und quietscht fröhlich laut, wenn ich seiner habhaft werde. 

Dann ist er ein Pferd auf allen Vieren, wiehert, bäumt sich auf. Dann wird er zum Polizist, der sich anschickt, mich zu verhaften. „Könnte ich mal bitte Ihre Dienstmarke sehen?“ Natürlich nicht. Er ist doch so ein Geheimpolizist, der zufällig eine Jeans und einen dunkelblauen Pullover trägt, damit man ihn als Mann für Recht und Ordnung nicht gleich erkennt! 

Dann wandelt er sich zum Flugzeug. Ich hebe es hoch, dies kleine Bündel Mensch, und lasse es fliegen, hoch über meinem Kopf, damit er auf mich heruntersehen kann, und drehe mich im Kreis. 

Ganz atemlos und schwindelig sind wir plötzlich. Ich setze mich, er nimmt auf meinem Bein Platz, und legt einen Moment seinen Kopf an meinen Hals, so dass ich seinen Atem spüre, und das schnelle Klopfen seines Herzens, ihn in meinen Armen haltend. Einen kurzen, wunderbaren Moment. Drei Sekunden nur.

Es sei gut, dass ich keine Kinder hätte, stand in der Hassmail der Tochter meiner katholischen Allgäuer Ex-Facebook-Freundin. Ja, ganz gewiss. 
Diesen kurzen, wunderbaren Moment lang bewege ich diese bitteren Worte in meinem Herzen. Der Altersunterschied beträgt zwei Menschenleben. Inzwischen bin ich einfach zu alt. 

Wie gern, Subhan, würde ich für dich da sein. 
Neben deinem Bett sitzen, dir vorlesen. Deinen Schlaf bewachen, wenn du krank bist. Und das kleine Licht anlassen, wenn du Angst hast, vor der Dunkelheit, und noch mal unter dem Bett nach bösen Geistern schauen. 
Dich morgens zum Kindergarten und zur Schule bringen. Mit dir für Klassenarbeiten üben, wenn es nicht Mathe ist. Mich mit dir über dein Abitur freuen und überlegen, was du aus deinem Leben machen willst. 
Dich über Liebeskummer und Selbstzweifel hinwegtrösten. Dein Leben begleiten. Deinen guten Geschmack beim Einrichten deiner Wohnung bewundern. Mit deinen Kindern spielen. Den Streit in eurer Ehe als freundlicher, weiser Ratgeber beilegen. Einen Scheck über den Tisch schieben, wenn es mal nicht reicht, und sagen, gib es mir zurück, wenn du kannst. Deine Sorgen und deinen Kummer verstehen, und dich wieder hochheben, hoch über meinen Kopf, damit du auf mich heruntersehen kannst, und dich fliegen lassen, bis wir atemlos sind, und uns beiden schwindelig wird, und wir uns setzen müssen. 

Wir werden uns gegenüber sitzen, aber ich werde dennoch wieder deinen Kopf an meinem Hals spüren, deinen Atem, deinen Herzschlag, dich in meinen Armen haltend, so wie damals, als ich noch jung war, und du ein kleiner, fünfjähriger Junge, der meine Sprache nicht beherrschte, und mir doch so viel sagte, in diesen drei Sekunden, die mein Leben lang andauern werden. 

Vielleicht sogar für die Ewigkeit.


Nur für Indiana Jones

Das Hotel kenne ich noch von 1997. Da hieß es Copthorne, und Millennium. Und ich war 40 Jahre jung, und abenteuerlustig wie Indy. Heute ist es das Dormero und liegt mitten im SI-Centrum, von Entertainment förmlich umzingelt. Ach ja, und ich bin 21 Jahre älter. 

Dennoch: Was liegt näher, als ein Zimmer dort zu buchen, wo man das neue Musical genießen kann? Vom Auditorium direkt in die Heia, gewissermaßen? Ist doch ein Plan, oder?

Noch aufgewühlt vom Schicksal der Romanows, begebe ich mich aus dem Parkhaus, das den Hotelgästen sowie den Besuchern der Spielbank und der Therme vorbehalten ist, in die Etage, die im Fahrstuhl mit „Rezeption“ beschriftet ist. Ein Schild weist mich darauf hin, dass ich mich hier im ‚Roten‘ Bereich befinde. Die Rezeption ist im ‚Weißen‘ Bereich. 

Nun gut. Etwas Bewegung kann ja nicht schaden, auch wenn mein linkes Knie unablässig Alarmierendes an mein Großhirn funkt. So schleppe ich mein Gepäck über einen schier endlosen Gang, vorbei an den Thermen, dem Casino, einer Kneipe, noch einer Kneipe, einem Restaurant, dem Wiener Café - Ja, da hinten, in der Ferne, da liegt die Rezeption, wenn’s keine Fata Morgana ist. Leider sind sämtliche Restaurationsbetriebe geschlossen, sonst wäre ich auf diesem ‚letzten Kreuzzug‘ sicher irgendwo eingekehrt, und hätte mich an schwäbischen Köstlichkeiten gelabt. 

Osama Bin Laden springt auf mich zu. Nein, Spaß beiseite: Der Junge sieht zwar, schon dank seines prophetischen Bartes, gefährlich aus, hat aber ein Herz aus purem - naja, Silber. Er ist supernett, effizient, freut sich mit mir, dass das Zimmer bereits bezahlt ist, und programmiert so ein Plastikkärtchen, das er mir mit einem „fröhliche Weihnachten!“ über den Tresen schiebt. O ha. Zimmer 815. „Im ‚Roten‘ Bereich“, strahlt Osama. Ich habe es befürchtet. Wäre es der ‚Weiße‘ gewesen, hätte ich ‚Gold’ statt ‚Silber‘ geschrieben. Na gut. Zurück auf Rot. 

Ich schleppe mein Gepäck über den schier endlosen Gang, vorbei am Wiener Café, dem Restaurant, der ersten Kneipe, der zweiten Kneipe, dem Casino, den Thermen. Mein Freund, der Fahrstuhl, hebt mich zur 8. Etage empor - zum verlorenen Schatz. 

Das Zimmer 815 liegt am anderen Ende eines endlosen Ganges. Die eigentümliche Beleuchtung des Ortes erinnert ein wenig an den Puff in Indiana Jones und der Tempel des Todes. 

Erschöpft erreiche ich das Zimmer. Es strahlt in Schwarz, Rot und Weiß etwas aus, das zwischen lackierter Nüchternheit und Eiseskälte liegt. Beherrschend ein überdimensionaler Flatscreen mit riesigen Lautsprechern. Überall sexuelle Anspielungen, passend zum Ambiente. „I'm so hot“, steht auf dem Schild neben einer weiblichen Silhoutte, auf dem ein Schnellkursus zur Bedienung der Klimaanlage notiert ist. „Ich bin im Dark Room“, verspricht ein Aufsteller. Gemeint ist eine Limonade, die in der kostenfreien (!) Minibar steht. Im Bett liegt eine Karte, die mir „heiße Gesellschaft“ verspricht, welche sich bei näherer Analyse als Wärmflasche entpuppt. Dazu passend findet sich statt der Tüte Gummibärchen ein Kondom mit der Bezeichnung ‚Indiana Jones‘. 
Sehr sinnvoll, statt nutzloser Kalorien und Duschhauben in Hygieneartikel zu investieren, aber liebe Leute! Ich bin 62! Erst hetzt ihr mich stundenlang durch das Gebäude, und scheint dann noch erotische Höchstleistungen von mir zu erwarten! Wer, glaubt ihr, bin ich? Indiana Jones?

Insgesamt ist das Interieur schick, aber deutlich abgewohnt. Der rote Kunstledersessel bröckelt so vor sich hin, und schreit nach Erneuerung. Das Badezimmer hingegen präsentiert sich sehr schick und birgt eine begehbare Dusche, die mein schmerzendes Knie versöhnt.

Auf das Frühstück verzichte ich. Es soll pro Person 26 Euro kosten. Was, bitte, kann man mir für diesen Preis bieten? Und darf ich eine Tupperdose mit Kaviar, pâté de foie gras und Roastbeef füllen, und ein Fläschchen Pernod-Ricard Perrier-Jouet für unterwegs mitnehmen? Stattdessen genieße ich später einen Blaubeer-Muffin und einen Kaffee bei MacDonalds. 5 Euro. 
Und gut, dass ich beim Frühstück so geizig war. Das Parkhaus fand ich mit 16 Euro etwas teuer! 

Ach ja, den Weg hin zur Rezeption bei ‚Weiß’ und zurück zur Tiefgarage bei ‚Rot’, vorbei am Casino, der Therme, dem Wiener Café, den beiden Kneipen, dem Restaurant und wieder zurück bei der Abreise habe ich mir gespart. Der Weg vom Zimmer zum Fahrstuhl durch die Puff-Beleuchtung war erschöpfend genug. Das Zimmer ist ja bezahlt. Und ohne Frühstück wäre ich vermutlich auf halber Strecke zusammengebrochen. Ich bin ja nicht Indiana Jones!


Requiem

Ich mag keine Katzen. 

Wirklich. Man möge mir das nicht übelnehmen. Ich bin eben der Hundetyp. Ihr kennt alle das Bild meines Bobtails, oder? DAS ist ein Haustier, nicht diese launischen Viecher, die ach so unabhängig sind, und den schönen Ohrensessel, den ich für viel Geld mit rotem Samt habe beziehen lassen, und die Tapete zerkratzen. Immerhin. Sie können selbstständig die Toilette benutzen. Aber das ist auch schon alles. Schwarze Katzen sind des Teufels, bringen Unglück, und sind reinrassige Killer. 

Katzen mögen mich. Das bösartige Vieh meiner Freunde, zum Beispiel. Wenn ich sie besuche, kommt sie flugs herbeigerannt, benutzt mich als Kletter- und Kratzbaum, stupst mich unablässig, liegt auf mir, als gehöre sie dort hin, und schnurrt wie der alte Motor meiner Märklin-Lokomotive. Und, um dem Fass den Boden auszuschlagen: Sie fängt Mäuse, beißt sie halbtot, und legt die armen Viecherl vor mir ab. 

Ich kraule sie dann widerstrebend. Erst an den Öhrchen, was sie zu mögen scheint. Dann schmeißt sie sich auf den Rücken, damit ich leichter an ihr weiches Bäuchlein herankomme. Ich darf sie sogar hochheben, was sie bei anderen nicht zulässt. 
Immer wieder sage ich zu ihr, „Los, hau ab, du Mistvieh! Schleich dich!“ Dann erhebt sie sich, klettert über meine Beine, je nach Lage von rechts nach links oder umgekehrt, und lässt sich erneut nieder, damit ich das mit dem Bäuchlein fortsetzen kann. 

Gerade habe ich die Freunde besucht. Das Drecksvieh kam auf mich zu, stupste mich, wie gewohnt, ich habe sie gekrault, und plötzlich sprang sie von der Bank und zog sich in ihr Körbchen zurück. „Nanu?“, erkundigte ich mich. „Was hat sie denn?“
„Krebs“, erwiderte Ludwig. Sie ist 16, und der Tierarzt gibt ihr nur noch kurze Zeit.“

Ich bin froh, dass ich keine Katzen mag. Wirklich. So froh, dass ich mich wundere, warum ich plötzlich die Brille abnehmen muss, um meine Augen trockenzutupfen, mit dem Handrücken, das muss an der Heizungsluft liegen, da reagiere ich eben empfindlich. 
Ist doch völlig egal. Eine Katze weniger auf der Welt. Als ob das was ausmacht. Als ob das wichtig ist, geliebt zu werden von einem Viehzeugs, das sehr wählerisch ist, und sparsam mit ihrer Zuneigung. Dann gibt es das eben nicht mehr, das nervige Anstupsen, und Schnurren, und Öhrchen und Bäuchlein kraulen. 

Als ich ging, eben, bin ich an Ihrem Korb gewesen. Sie hob etwas den Kopf, und schnurrte, und ich hab sie an den Öhrchen gekrault. Ich habe nicht „Tschüss“ gesagt, weil ich weiß, dass sie weiß, und versteht, was ich ihr sagen will. Wir verstehen uns nämlich ohne Worte, das blöde Vieh, und ich. 

So ein Drecksvieh. Fehlen wird Sie mir. Sehr fehlen. 


Heimat

Ich wurde gerade gefragt, was das für mich ist: Heimat. Heimat?- Das hat sich in den letzten Jahren immer wieder verschoben, in meinem Kopf, und meinem Herzen. Ich bin Deutscher. Sehr deutsch. Norddeutscher. Ich spreche ein paar Dialekte, aber eigentlich das hannoversche Bühnendeutsch. I ko a klois bissele Schwäbisch schwätzn, Boarisch redn, nicht perfekt, klar, ich stolper' übern s-pitzen S-tein, ich habe - als Cuxhavener - in Berlin, Hamburg, München, Stuttgart und besonders in meinem geliebten Ruhrpott Wurzeln. 

Also, regional geht nicht. 

Ich habe Freunde, die über die Republik verteilt sind. Das war lange mein Credo. Zuhause ist, wo meine Freunde sind. Aber wenn man diese Freunde verliert - ist man dann automatisch ohne Heimat? 

Als ich Kind war, brachte meine Mutter mir bei, im Ausland zu sagen: Ich bin Europäer mit deutschem Pass. Das finde ich heute noch intelligent. Europa - die Idee habe ich immer geliebt. Ich fühle mich in England zu Hause. In Österreich. In den Niederlanden. In Belgien. In Dänemark. Allerdings - leider! - nicht in Frankreich, der Schweiz, Norwegen, Spanien und Griechenland. Und überhaupt nicht in Osteuropa. 

Erich Kästner, der morgen Geburtstag hat, hat geschrieben: „Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen. Mich lässt die Heimat nicht fort. Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen – wenn's sein muss, in Deutschland verdorrt.“  Deswegen ist er, von den Nazis verfolgt und mit Berufsverboten belegt, nicht emigriert, sondern geblieben. Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich ihn. 

Es gibt auch so etwas wie eine geistige Heimat. Bei den einen ist es die mondänste Suite im Ritz Carlton, bei den anderen das KaDeWe, die dritten bevorzugen den Kölner Dom, oder ein veganes Restaurant. 

Ich glaube, dass alles uns prägt, auf unserer Reise. Aber nichts so sehr, wie unsere Kindheit. Oma beim Patience legen oder einkochen, die Schulzeit, Deutsch bei Granzin, Latein bei Kowalski, Griechisch bei Hoppe, Englisch bei Korff, der Duft frisch gemähten Rasens, Herbststürme. Das Geräusch der Wellen, die bei auflaufendem Wasser ans Ufer schlagen. Das Gefühl des Watts unter den Füßen bei Ebbe. Mama, die am Herd steht, wenn ich aus der Schule komme, und Senfeier gekocht hat, oder Irish Stew. Sonnentau suchen am Finkenmoor, und Picknick im Wernerwald. Weihnachtsgottesdienste in der Petrikirche, bei Pastor Raabe oder Speckmann. Nachbarn, die alles von einem wissen, und von denen man alles weiß. Ohnsorg-Theater im Fernsehen, begleitet von Salzstangen, Schnittchen und Omas Käseigeln. 

Warum habe ich eigentlich Tränen in den Augen, während ich diesen Absatz schreibe? 

Da kann man noch so viel über „unser“ London, Paris, Barcelona reden. 
Wo de Nordseewellen trecken an den Strand, 
wo de geelen Blomen bleuhn int gröne Land, 
wo de Möwen schrieen hell int Sturmgebrus 
do is mine Heimat, do bün ick to Hus, 

Ich glaube, ich bin Cuxhavener.


Es ist ja Karneval! 


Ja mei, des war gspassi! So a Mordsgaudi! Ham wir glacht! 

Da hält die hochintelligente CDU-Vorsitzende eine Büttenrede, in der sie intersexuelle Menschen verhöhnt. Was regt ihr euch auf? War doch lustig! Zuletzt haben die Leute so gelacht, als Himmler Witze übers Mittagessen im KZ Auschwitz gemacht hat. Das war vielleicht komisch! 


Es ist ja Karneval, die närrische Zeit! Ist doch völlig in Ordnung, dass man da mal zur Sache kommt, oder? Sagte auch eine liebe Freundin von mir. „Political correctness is out“, oder so. Und kommt, so ganz unter uns: Diese abartigen Schwulen und Lesben und Transen, oder wie die heißen - die stellen sich doch sowieso immer an, wie die Mimosen! Oh weh, oh weh! Immer geht es gegen uns! Die Weicheier! Warum jammern die eigentlich? Unterm Führer und sogar noch unter diversen Bundeskanzlern wurden sie ermordet, wenigstens eingesperrt. Heute dürfen sie sogar heiraten! Obwohl das ja echt abartig ist. Findet ja auch die hochintelligente CDU-Vorsitzende. Und die AfD. Gottseidank. 


Und sage keiner, dass die Kramp-Karrenbauer mit ihrer Meinung über diese Perversen hinterm Berg hält. Das hat sie ja schon unter Beweis gestellt. Und da war kein Karneval - naja, vielleicht im Saarland. „Inzest“, hat sie gerufen. Ekelhaft, wenn zwei Männer - Pfui Deibel! 


Warum sind die Leute bloß so humorlos! Gerade zum Karneval! Es bietet sich doch an, Leute zu verspotten! 

Mal so ein paar Witze über die Untermenschen, die auf der Flucht im Mittelmeer absaufen! Ist doch komisch, wenn die nach Luft japsen, wie Fische im Aquarium, oder? 

Oder die dummen Weiber, die mit kurzen Blüschen und Röckchen die normal empfindenden Jungs geil machen und sich wundern, wenn sie ins Gebüsch gezerrt und mal so richtig rangenommen werden! 

Oder Frauen generell, macht auch immer Spaß, wenn sie rückwärts einparken, oder mit 40 vor dir her fahren, die dummen Emanzen, die so hässlich sind, dass man sie nicht mit der Kohlenzange anfassen mag. 

Oder die Leute mit ihren unterbezahlten Minijobs, die dastehen und schreien, buhu, ich kann von meiner Arbeit nicht leben! Buhu, ich werde im Alter arm sein! Tja, Pech gehabt! Hättet ihr mal besser aufgepasst, in der Schule! Dann hätte es bei euch, auch bei beschränkter Intelligenz, vielleicht zu einem politischen Amt gereicht - zum Beispiel CDU-Vorsitzende! 

Oder Juden, Neger, Zigeuner - ob die sich auch alle so anstellen, wie die Perversen? Ist doch lustig! Bei unseren Kindern regt sich doch auch keiner auf, dass „Du Jude“ ein beliebtes Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen ist! 


Macht euch mal locker, ihr Pappnasen! Und verteidigt die häßliche Alte, die auch nur im Saarland einen gefunden hat, der sie v*gelt, bevor sie unten zuwächst! Mit 'ner Frisur wie 'ne Klobürste! Und 'ner Fresse wie 'ne Kampflesbe! Wird man ja wohl noch sagen dürfen, im Karneval! 


Alaaf und Helau! Narhalla-Marsch! 



Faule Kompromisse

Mir fällt gerade ein Spruch meiner Mutter ein. Damals ging es darum, mir die Haare lang wachsen lassen zu dürfen, wie Hans-Peter Mundt, zum Beispiel. „Alle anderen machen das doch auch!“, war mein Argument. 
„Und wenn alle anderen von der Brücke springen, machst du das dann auch?“, war ihr Gegenargument. 

Nun höre ich in den Nachrichten, dass man die eingefrorenen Rüstungsexporte an die saudischen Schlächter wieder freigeben will. Die Franzosen und Briten (!) beklagen sich über deutsche Unberechenbarkeit, die SPD findet es nun plötzlich gut und sülzt, dass man eine „gemeinsame europäische Haltung bzw. Lösung“ finden müsse. Es geht um „Gemeinschaftsprojekte“. Der französische Außenminister Le Drian wird an der Geheimsitzung des Bundeskabinetts teilnehmen.

Wollen wir wetten, wie es ausgeht? Es geht um ein Milliardengeschäft! Warum sollten wir uns das entgehen lassen? Ekeln wir uns neuerdings vor Kohle? Das bisschen Blut kriegt man abgewischt! 
Meine Prognose: Riad wird wieder Waffen bekommen. Schließlich sitzt meine Mutter nicht im Bundessicherheitsrat. Die hätte alle zum Friseur geschickt, auch wenn Franzosen und Briten „verärgert“ gewesen wären! 

Aber über die armen unterernährten Kinder im Jemen jammern, und über die Scharia meckern! Und wenn mal wieder ein Journalist abgeschlachtet und zerhackt wird, dann haltet einfach die Fresse, und spielt nicht das personifizierte moralische Gewissen! Ihr kotzt mich an!

NB: Keine Einigung bisher. Die Abschaffung der Seenotrettung für Flüchtlinge war zur Zeit offenbar wichtiger. Wir werden sehen. 



Eine Freundin fragte eben, ob das Einkaufen an Vorfeiertagen nicht recht beschwerlich sei. Ich komme nicht umhin, hierzu meinen Meerrettich - nein, meinen Senf dazuzugeben!

Karsamstag

Ich finde es großartig. Großartig, und inspirierend. Ich bin sehr gut organisiert, Kühl- und Gefrierschrank sind voll. Das Glas Meerrettich, das ich vergessen habe, ist schade, aber nicht überlebensnotwendig. 
An solchen Tagen ist es mir ein inneres Kreissängerfest, mich in das Café eines Einkaufszentrums zu setzen, und den Leuten zuzuschauen, wie sie panisch, gehetzt, mit wirrem Blick, durch die Gänge hetzen, Taschen schleppen, die Stirn schweißbedeckt, die Mienen irgendwo zwischen freudlos leer und angespannt. 
Besonders schön ist das allerdings am Morgen des 24.12., wenn dann noch die Jagd nach dem vergessenen Weihnachtsgeschenk dazukommt. 
Bin ich schadenfroh? Ja, ein wenig. Ich wundere mich immer über Menschen, die nix auf die Reihe kriegen. Meistens ja - ja, gut! Schreit mich an! - Frauen. Die fasziniert der Kassiererin im Supermarkt zusehen, wie sie die Waren über den Scanner zieht. Die dann, wenn die Dame den Preis genannt hat, merken, dass sie bezahlen müssen. In ihrer Handtasche verzweifelt nach dem Portemonnaie suchen. Und dann die 63 Cent des Betrags in Ein- und Zwei-Cent Münzen vorzählen, was bei den designten, überlangen Fingernägeln einer akrobatischen Leistung gleichkommt. Dann erst nehmen Sie die Ware, und legen sie, Stück für Stück, sorgfältig und vermutlich in alphabetischer Reihenfolge, in den Einkaufskorb. 
Diesen Damen begegnet man im Parkhaus wieder. Sie haben schon so viel Zeit an der Kasse verplempert. Sie merken, dass du dasselbe Ziel hast, machen einige schnelle Schritte, um vor dir den Automaten zu erreichen. Dann beginnt die Suche nach der Karte. „Entschuldigung, dürfte ich - “
„Jetzt hetzen Sie doch nicht so! Ich hab’s ja gleich! Mal wieder typisch. Rentner, und keine Zeit haben!“
Wo hatte sie bloß diese verdammte Karte? Ach hier. So. Wieviel? € 2,50. Aha. Wunderbar, da werde ich meine ganzen 10-Cent-Münzen los! 
Sie wirft sie ein. Provozierend langsam. Dem dicken alten Mann zeigen wir es jetzt aber mal! Bei 2 Euro 40 stellt sie fest, dass die Münzen nicht ausreichen. Sie drückt die Abbruchtaste. Die Münzen rasseln in die Schale. Ganz schön schwierig, sie mit den langen Fingernägeln dort herauszugraben, oder? 
Sie entscheidet sich für den 5 Euro Schein. Wieder fallen Münzen als Wechselgeld herunter. Auch diese pickt sie heraus, wie ein Sittich seine Körner. Sie schaut irritiert die Traube der Wartenden an, und stolziert von dannen.
„Hallo, junge Frau! Wollen Sie Ihren Parkschein nicht mitnehmen?“
„Ach ja! Sowas Dummes!“
Ich kann nicht umhin, ihr beizupflichten. Genau. Sowas Dummes!


Idiot

Ich bitte um Entschuldigung, wenn auch meine nächste Geschichte bei McDonalds angesiedelt ist, aber ich schreibe da gern. Deswegen sitze ich dort und klammere mich pro 2 Stunden an einem großen schwarzen Kaffee fest, und lasse mich inspirieren. 

Oft beobachte ich zauberhafte Geschehnisse. Gestern war’s eher furchtbar. Eine kleine Familie, Vater, Mutter, Sohn und Töchterchen quälen sich mit diesen neuen Bestellsäulen, auf deren Touchscreens man antippt, was man möchte, um dann per Karte zu bezahlen. Wahlweise kann man mit der Quittung zur Kasse gehen.

Die Erwachsenen sind etwas langsamer. Der Junge, schätzungsweise knapp 10 Jahre alt, beherrscht die Technik. Er tippt, und tippt und tippt. Endlich ist die Bestellung komplett. Der Junge tippt weitere zwei Male auf den Bildschirm.

„DU VERDAMMTER IDIOT!“ Wie ein Peitschenhieb zerreißt der wütende Schrei des Vaters das Volksgemurmel, und schüchtert sogar mich ein. „Ich wollte mit Karte zahlen“, brüllt der Vater. „Ich habe nicht mehr so viel Bargeld!“

Das Gesicht des Jungen hat sich verändert. Hochrot ist sein Kopf. Und der, der eben noch der Beherrscher der Technik war, ist jetzt der blöde Trottel, der alles falsch gemacht hat. Er weint nicht. Offenbar ist er mit diesen Ausbrüchen vertraut. Die Mutter stört nicht weiter. Niemand stellt sich vor ihn.

Ich verstehe die Situation gut. Der Mann ist ein Versager. Ein Loser, der keine 25 Euro Bargeld in der Tasche hat, um seiner Familie ein bescheidenes Abendbrot zu kaufen. Jemand, der sich schämen muss, dass er am Anfang des Monats schon pleite ist. Er ist wütend aufgrund seiner Unfähigkeit, mit Geld umzugehen. Und das lässt er an dem Jungen aus, der es gut gemeint hat, und doch nichts dafür kann. Der sogar eben noch stolz war, dass er den Seinen helfen konnte. 

Feige bleibe ich auf meinem Platz sitzen. Wäre ich meinem ersten Impuls gefolgt, wäre ich aufgesprungen und hätte das Kind in den Arm genommen. Aber das hätte die Situation nur verschlimmert, denke ich. Und es geht mich nichts an. Oder?

Es wäre alles so einfach gewesen. Man hätte dem Jungen sagen können, schau mal, Papa hat leider gerade nicht so viel Geld dabei. Wir löschen alles, und du gibst das noch mal ein. Und dann drückst du auf ‚Kartenzahlung‘, das machen wir dann gemeinsam. 

Warum behandeln wir unsere Kinder wie Dreck? Wie unvernünftige, kleine Bratzen, die einfach nur dumm sind - wie der FDP-Vorsitzende Lindner gern vermittelt? Wie halslose Monster, die nur Zeit und Geld kosten? Warum missbrauchen wir sie? Warum erdrücken wir sie mit etwas, das wir für Liebe und Aufmerksamkeit halten? Warum versuchen wir es nicht einmal mit Respekt? Niemand erwartet, dass Kinder alles richtig machen. Aber sind wir Ihnen denn ein Vorbild? Niemand erwartet, dass Kinder alles wissen. Aber sind wir klug genug, um ihnen zu erklären, wie Leben funktioniert? 

Ich habe dann mein MacBook zugeklappt, und bin gegangen. Das war’s für heute, mit dem Schreiben, dachte ich. Ich frage mich, was aus dem kleinen Idioten werden wird. Der Vater hat die Weichen gestellt, für das Leben seines Sohnes. Gibt es eine Strafe für den Mord an einer Kinderseele? 

Aber das geht mich nichts an. Oder?


Selbstständig

Fernsehwerbung geht einem ja sowieso schon auf die Nerven. Nette junge Frauen, die, sonst gequält durch ihre Verstopfung, nun endlich weichen Stuhlgang haben? Die unter Scheidentrockenheit und Jucken im Intimbereich leiden? Unter schlecht sitzenden Zahnprothesen? Fuß- und Nagelpilz? Deren Vorlage für die Inkontinenz den Urin in ein Gel verwandelt? Wird man ja wohl noch mal sagen dürfen, oder? 

Eine der schlimmsten Anfechtungen allerdings ist die Zimtzicke mit den ungepflegten Haaren, die neuerdings durch die Stadt rennt, und mit diesem unkritisch-heiteren Tonfall jedem vorleiert, „Ich mach mich jetzt selbständig!“ Sie hat, trotz dem hellen Lippenstift, schon etliche Jahre auf dem Tacho. Darüber täuschen weder die labberige Strickjacke, die zu kurze Jogginghose, noch die Turnschuhe aus den 90ern hinweg. Und so labert sie alle voll: Die Bäckersfrau, die sichtbar unter Verstopfung leidet, den Briefträger, der bestimmt abends liebevoll seinen Fußpilz cremt, den Nachbarn Paul, der nur gequält grinst, und sich fluchtartig in seine Wohnung zurückzieht. Vermutlich wegen eines Jucken im Intimbereich. Keiner will es wissen. Keinen interessiert's. Trotzdem drängt sie allen rücksichtslos die Information auf. 

In ihrer Wohnung wartet schon der Herr von der Johanniter Unfallhilfe. Bart und Brille. Einer von diesen Typen, die immer weichen Stuhlgang haben. Er überreicht ihr das Gerät, mit dem sie Menschen wie ihn herbeirufen kann, und behauptet, damit sei sie jetzt selbständig. Vier Wochen kann man das Ding kostenlos testen. 

Laufen Sie mir ja nie über den Weg, meine Dame! Und wenn, dann singen Sie mich nicht voll! Gehen Sie lieber mal zum Friseur! Es könnte sonst passieren, dass ich Sie mit Ihrer Inkontinenz-Einlage erdrossele, mitsamt dem gelierten Urin! Da nützt Ihnen Ihr weicher Stuhlgang auch nichts mehr! 



( Gerade wurde ich gefragt, ob ich mich für Vergnügungsparks interessiere ... )

Ob ich mich interessiere? INTERESSIERE? Nein, ich interessiere mich nicht! Ich stürze mich kopfüber hinein, und bade darin! 

Ehrlich, ich liebe Vergnügungsparks. Schon immer ( früher hießen die Zoo )! Und Disneyland in Orange County, CA, und Paris! Und dann kamen Sierksdorf, Rostock, Soltau, Phantasialand, Movieworld, und mein Favorit, Rust - der Europapark. Meine Freundin Tanja sagt, geh nach Efteling in die Niederlande. Das mache ich bestimmt. 

Ich mag diese Mikrokosmen. Man entkommt seinen Alltagsängsten und Alltagssorgen. Man kauft das Ticket, geht durch die Schranke, und still schweigen Kummer und Harm. Die böse, feindliche Welt bleibt draußen. Hier genieße ich Asyl, in hellblau und rosa, mit Popcorn und Karamell-Aroma, dem Duft von Vanille und Erdbeeren. 

So sollte sie sein, die Welt. Friedlich und bunt. Begehbar. Überschaubar. Mit geregelten Abenteuern, und geordneter, aromatisierter Fantasie. Rauchfrei, mit gelegentlichen Imbissen. Wiedererkennbaren architektonischen Zitaten. Andenken-Shops, in denen man niedliche Schneekugeln und Kühlschrankmagnete wohlfeil erstehen kann. 

Hier treffen wir uns, wir Menschen, Einfältige und Gescheite. Aparte und Tumbe. Grazile und Rotunde. Wohlbetuchte und Bettelarme. Jede Altersstufe ist vertreten. Wir sind entrückt. Sieht so das Paradies aus? Der Garten Eden? Das Nirwana? Xanadu? 

Keine Frage. Ja. Hier fühle ich mich sicher, aufgehoben, beschützt. Hier darf ich meinen Kindertraum leben. Hier wird mein Wunsch Wirklichkeit. Hier lebe ich den bunten, fröhlichen, kitschigen Teil meiner Spiritualität aus. 

Man kann natürlich auch ein Buch lesen. Aber duftet das nach Zuckerwatte? Schmeckt das wie Currywurst mit Pommes Schranke? Erfüllt das die Atmosphäre mit Kindergeschrei und dem leisen Rascheln von Pampers und Feuchttüchern?

Ich brauche Vergnügungsparks. Die kleinen Fluchten. Die Auszeit vom ich. Das Ende der Sorgen. Wo ich alles tun kann, aber nichts tun muss. Und die Hoffnung haben darf, dass der öde Tag bunt wird, in Technicolor und Stereo, und bitte, bitte mit einer Parade endet, mit Prinzessin und Prinz, Micky und Donald, und der guten Fee, die meine einzige Sehnsucht erfüllt - inneren und äußeren Frieden zu finden.


„Die Welt, so wie wir sie kennen, hat aufgehört, zu existieren.“


Also, der Satz ist nicht wirklich von mir. Der kommt immer aus dem Off in diesen Endzeit-Dramen im Kino, die meist in tristem Sepiabraun und Graphitgrau koloriert sind, und in denen völlig unmotiviert Skelette auf dem Boden herumliegen, Blitze nervös aus Wolkenbergen zucken und ein einsamer Überlebender mit einer futuristischen Waffe verteidigungsbereit herumfuchtelt. 

Es hat sich was verändert. Leere Straßen und Plätze. Freie Tische in Restaurants, in denen man höflich ein halbes Jahr vorher um einen Platz ansuchen musste. Wenige Menschen hasten mit Einkaufstüten in Hauseingänge. Nach und nach verabschieden sich alle Institutionen, die wir lieben. Einkaufszentren. Theater. Kinos. Konzertsäle und Opernbühnen. Sportarenen. Künstler treten nicht auf. Komplette Mannschaften gehen in Quarantäne. Von der Bundesliga will ich gar nicht reden. Die auf Einsparungen gepolten Gesundheitssysteme drohen, zu kollabieren, und die Politiker versuchen krampfhaft, Charme und Kompetenz zu vermitteln, um keine Panik zu schüren.

Die Kanzlerin selbst spricht zum Volk. Das hat sie schon lang nicht mehr getan. Also muß es schlimmer sein, als wir denken. Sie rät zur Einschränkung bei sozialen Kontakten. Das, was wir Älteren noch hinbekommen - anderen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, mit ihnen zu sprechen, ohne Smileys, LOLs oder OMGs - sollen wir unterlassen. Unsere Kinder und Enkel schelten wir sonst dafür, oder? Alles ist plötzlich anders. Unbehaglich. Fremd im eigenen Land. 

Wir bleiben zu Hause. Wir mögen nicht mehr Entertainment konsumieren, im Fernsehen gibt es halbstündlich wechselnde Informationen darüber, wie Corona nicht bekämpft werden kann, was auf keinen Fall zur Symptomatik gehört, woran man nicht erkennt, dass der Nachbar erkrankt ist, und dass auch die habilitierten Virologen aus sämtlichen Universitätskliniken keine Ahnung haben, weil alles noch in der Schwebe hängt, aber Hauptsache, man wäscht sich die Hände und niest in die Ellenbeuge. 

... und wir? Wir bleiben zu Hause, und lesen. Wir sprechen mit unseren Kindern. Wir rücken zusammen. Kaufen ein, für die Nachbarin, die sich noch kürzlich über die Lautstärke des Radios beklagte, und jetzt ganz lieb bat, ob man ihr nicht Milch und Quark mitbringen könnte. Wir kehren zurück, zur Hilfsbereitschaft, zur Höflichkeit, zur emotionalen Nähe, als schützte uns derlei Wohlverhalten vor Infektionen. 

Ich frage mich, warum das nicht immer so sein kann. Menschen werden Arbeitsplätze verlieren. Aus Geldmangel Probleme bei der Rückzahlung ihrer Kredite bekommen. Restaurants und kleine Unternehmen werden schließen müssen. Wir haben Angst, sind traurig, verzweifelt, verunsichert. Etwas passiert, was wir nicht beeinflussen können. Ja, es tut gut, sich an andere anlehnen zu können. Gemeinsam mehr oder weniger unpassende Scherze zum Thema zu machen. Jemand Wildfremdem sagen zu können, „Ich fühle mich hilflos“, und auf Verständnis hoffen zu dürfen. Miteinander auf dem Vulkan zu tanzen. Lasst uns heute feiern, wir wissen nicht, ob das morgen noch geht! 

Schade, dass nur eine Katastrophe uns daran erinnern kann, wie sehr wir uns brauchen. Dass wir zusammengehören. Dass wir nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern als Partner. Dass wir uns über den Erfolg anderer neidlos freuen sollten. Dass wir uns lieben sollten, nicht hassen.

Corona wird vergehen. Es wird Behandlungen geben, und Impfstoffe. Alles wird vergessen sein. Vielleicht noch einmal in den diversen Jahresrückschauen erwähnt werden. Und wir werden zur Tagesordnung zurückkehren. Wir werden uns auf der Autobahn von der Überholspur blinken, und wütend hupen. Uns über laute Radios beschweren. Und an der Kasse vordrängeln. Wir werden neidisch sein, gemein, zynisch. Wir werden andere niedermachen, um uns besser zu fühlen. Wir werden dem Hass das Wort reden, den vermeintlichen Gegner diffamieren, auf unseren Vorteil bedacht sein. Kurz: Wir werden so sein, wie immer. Rücksichtslos, gnadenlos, lieblos. 
Gut, dass wir von Zeit zu Zeit daran erinnert werden, wie bedeutungslos der Einzelne ist. Leider vergessen wir es viel zu schnell.