( Ich bin wirklich unsicher, ob es irgendjemanden interessiert. Ich bin weder Justin Bieber, noch die Kanzlerin. Deswegen behellige ich nur die Leser meiner Homepage und die unglücklichen Abonnenten von ‚Peik Volmer Autor‘ mit dem Quatsch. Keine Angst. Facebook sagt mir gnadenlos, wieviel Menschen das gelesen haben. Und wenn es zu wenige sind, lass ich den Quatsch ganz einfach. Kein Problem. Aber wenn jemand etwas über mich wissen möchte ...
Die Geschichte beginnt vor langer, langer Zeit. Es gab schon so einiges, wir aber hatten kaum was. Ein Haus, immerhin. Und uns. Und uns lieb ... )
Kindheit und frühes Leid 😉😄
Die Geschichte meines Vornamens dürfte hinreichend bekannt sein, deswegen erspare ich sie den geneigten Lesern. Mit meinem Nachnamen, Volmer, verhält es sich unterschiedlich. Die Mutter meines Vaters, Lieselott Anders, lernte 1930 einen attraktiven jungen Mann, einen Polen aus Danzig, kennen, mit dem sie sehr bald Tisch und Bett teilte. Herr Borucki ( bitte um polnische Aussprache, also "Borutz-ki" ) wollte wegen der politischen Verhältnisse nach Polen zurück, Lieselott in Cuxhaven bleiben. Wer hätte auch ahnen können, daß der Krieg, vor dem er floh, ihm dorthin folgen würde! Das Kind Jürgen erblickte am 10. April 1931 die Welt. In dem Folianten diesen Jahres, der auf dem Standesamt Cuxhaven einzusehen ist, steht ein handschriftlicher Eintrag eines Beamten, der mit Feder und Tinte festhielt, daß im Herbst 1931 ein Herr Willi Volmer vor ihm, dem Standesbeamten, erklärte, durch Eheschließung mit Frau Lieselott Jürgen an Sohnes Statt anzunehmen.
So wurde aus mir ein Volmer, und ein Deutscher, obgleich ich von Hause aus ein Borucki bin, und ein Achtel Pole.
Ich war, wenn man den alten Schwarzweißfotos sowie den natürlich subjektiv gefärbten Urteilen der bis heute Überlebenden Glauben schenken darf, ein entzückendes Baby, selten plärrend, meist freundlich lächelnd, pflegeleicht und immer hungrig.
Geburt
An Stade erinnere ich mich nicht, die Privatklinik Dr. Hancken, den 12. April 1957. An Hagel, Gewitter und Sonnenschein. An meine Taufe in St. Cosmae zu Stade am 6. Oktober 1957, dem 24. Geburtstag meiner Mutter Karen. Psalm 145, 15-16. Aller Augen warten auf Dich, Herr, und Du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. Du tust Deine Hand auf und sättigst alles, was da lebt, mit Wohlgefallen. Dies war 1972 auch mein Konfirmationsspruch. Meine Mutter hatte ihn gewählt, weil sie sich durch diese Worte getröstet fühlte, wie sie mir einmal sagte. Und Trost benötigte sie. Dringend. Mein Vater hatte ihr gerade Lebewohl gesagt. Und wenn es etwas gibt, das narzisstische Persönlichkeiten nicht vertragen, dann dies, dass man sie verläßt. Und besonders dann nicht, wenn es schon eine Nachfolgerin gibt.
Wißmannstraße 14 b
Ich erinnere mich an das Haus meiner Großmutter in der Wißmannstraße in Cuxhaven, roter Backstein, mit einem grauen Betonbogen über der Haustür, zu der eine Treppe hinaufführte. Den Weg dorthin überbrückte ein Pfad aus gelblichen Solnhofener Platten von der hölzernen Pforte aus, die die akkurat geschnittene Ligusterhecke unterbrach. Die ‚14 b‘ war Teil einer schmiedeeisernen Lampe vorn am Haus. Ein ebensolches ornamentales Gitter befand sich vor der Scheibe der Haustüre, mit dem Namen ‚Otto‘, sowie zwei schnäbelnden Vogelsilhouetten, die ich als Kind sehr lustig fand. Wenn man sie lange genug anstarrte, schienen sie aufeinander zuzuspringen und zu schnäbeln.
Man betrat das Haus durch den winzigen Flur mit der immer zu kalten Gästetoilette und dem Spiegelschrank, in dessen Schubladen Omas Haarnetze für den gigantischen Knoten, zu dem sie ihre Haarpracht wand ( elastisch, für Festtage mit kleinen, künstlichen Perlen ), lagerten. Zudem verwahrte sie dort Handschuhe und Kopftücher, dazu in einer taillierten, hellblauen Plastikdose mit weißem Deckel Trockenshampoo, ein Produkt namens Frottee der Firma Schwarzkopf, wie das Etikett verriet. Links ging es ins Wohnzimmer mit Wintergarten, von dem noch eine Tür zu einer kleinen Loggia führte. Geradeaus lag die Küche mit dem wunderbaren alten Herd und dem schwarzweissen Schachbrettfußboden, eindeutig Omas Reich. Ihr Szepter war der hölzerne Gurkenhobel, in dem die schräg platzierten Messer gefährlich locker saßen. Besonders das Obere rutschte leicht heraus. Ergänzt wurde das Bild durch den Handmixer, der durch kräftiges Drehen an der Kurbel Eiklar zu Eischnee und flüssige in feste Schlagsahne verwandelte, und die große, schwere, beige emaillierte Schüssel mit dem grünen Rand, in der sie bevorzugt Teig für Kuchen und Weihnachtskekse knetete. Ich wartete immer mit leichtem Grusel, wann das schreckliche und doch vertraute kratzende Geräusch ihrer Fingernägel auf Emaille ertönen und bei mir unweigerlich zu einer Gänsehaut führen würde. Rechts führte die Treppe nach oben zu den Zimmern von Mama und Uroma, die später ins Balkonzimmer zog, sowie zu meinem Reich, welches als Mittelzimmer bezeichnet wurde, und das einmal Uwe, meinOnkel, Mamas Bruder, bewohnt hatte. Eine Fahne hing an der Wand, bei der, wie ich später lernte, es sich um die "Reichskriegsflagge" handelte. Außerdem gab es ein großes, schwarzglänzend gekacheltes Bad, das allwändig Spiegelbilder entstehen ließ. In diesem stand eine eigenartige Kreuzung aus Toilette und Waschbecken, deren Sinn sich mir nicht erschloss, im Gegenteil. Auf mein Nachfragen erntete ich bestenfalls ein nervöses Kichern und ausweichende Worte, das ist ein Bidet, aber was das ist, erfährst Du später, wenn Du groß bist.
So beschäftigte ich mich heimlich mit dem Ding und wunderte mich, wie man sich als normalbegabter Mensch mit dem schräg deckenwärts gelenkten Wasserstrahl die Hände waschen oder die Zähne putzen sollte ...
Mamas Zimmer lag zur Straße hin und hatte neben dem Wohnraum noch ein winziges Schlaf- und Ankleidezimmer, in dessen Dunkelheit sich Karen während ihrer zahlreichen Migräneanfälle zurückzog; ich durfte dann nur flüstern, keinen Krach machen und das Zimmer keinesfalls, und wenn, dann nur notfallmäßig auf Zehenspitzen balancierend, betreten. Im Wohnzimmer standen neben zwei unbequemen Sesseln - wegen der schräg nach hinten unten geneigten Sitzfläche drückten sie nach kurzer Zeit in den Kniekehlen - aus Teakholz und einem Nierentisch aus hellem Holz mit schwarzer Glasplatte eine wunderbare hellbraune Tonfigur, die eines Flötenspielers, sowie Mamas ganzer Stolz, ein Plattenspieler der Firma Braun, die Phonotruhe SK 4, ein Designklassiker, der als "Schneewittchensarg" berühmt war, einstellbar für Platten mit 16, 33, 45 und 78 UpM, für den man damals immerhin DM 325.- bezahlen mußte. Ach ja, und ihre paar Schallplatten: Der Soundtrack zu "Pal Joey" mit Rita Hayworth, Kim Novak und Frank Sinatra, ein Opernquerschnitt "Der Barbier von Sevilla" mit Erika Köth, Hermann Prey und Gottlob Frick, die Sinfonie Nr. 6 von Beethoven, die 39. von Mozart, und drei kleine 45er Platten, eine Polydor Schlagerplatte von Johanna von Koczian, auf der sie trällerte, "Du bist der erste Mann, der keine Fehler hat", "Das Glas Wasser" mit Lieselotte Pulver, Hilde Krahl, Sabine Sinjen und Gustaf Gründgens, und schließlich eine von mir sehr geliebte Platte, die ihr Schwager Kanut mit mal wieder treffsicherem, unfehlbaren Geschmack ihr geschenkt hatte, "Horst Caspar zum Gedächtnis", auf der mein Lieblingsgedicht, Das alizarinblaue Zwergenkind, rezitiert wurde.
Zudem gab es noch diverse winzige ‚Abseiten‘. In der an das Bad Grenzenden stand eine wunderbare alte Singer-Nähmaschine mit bunten Intarsien. Auf dem Flur schließlich hatte eine ausziehbare Bodentreppe der Marke "Monarch", die zu Tante Ankes und Onkel Uwes Zimmern führte, ihren Aufsatzpunkt vor der großen Campherholz-Truhe, mit der sie sich den Raum teilte. Dieser Kasten war unheimlich. Bei Sturm erwachte sie zum Leben, sie ächzte und knarzte.
In dieser Truhe fand ich einmal ein Geodreieck und ein Lineal mit einem Hakenkreuz, Mama riss mir diese Utensilien mit einem kleinen panischen Aufschrei aus den Händen, rannte in die Küche und verbrannte sie in den Flammen des Herdes.
Von der Küche aus gelangte man nach hinten in den Garten, durch die Tür zwischen dem Waschbecken links und der Speisekammer rechts. In der Speisekammer wurde bei Gewitterstimmung grausige Dickmilch produziert, die Oma dann, mit zerbröseltem Pumpernickel und Zucker bestreut, unter genießerischem Verdrehen der Augen und mit Lauten des Wohlgefallens verzehrte. Der Garten war eine Sensation. Oma besaß den berühmten grünen Daumen, was sie pflanzte, gedieh. Kirsch-, Apfel- ( Klarapfel und Boskop, dazu ein knallroter Apfel, dessen Früchte Anke einmal Weihnachten statt der Glaskugeln verwendete, mit Öl poliert ), sowie zwei Birn- und zwei Zwetschgenbäume, Gemüse, Stachel-, Him-, Brom- und Johannisbeeren. Oh ja, und, am Misthaufen, Rhabarber, den ich hasste.
Gegenüber gings in den riesigen Keller, in dem selbstgezimmerte Regale mit Weckgläsern voller Obst und Gemüse, sowie diverse Marmeladen und Gelees, vom vergangenen Sommer kündend und auf ihren Verzehr wartend, standen. Und so wurde gebacken: Der Standard-Mürbeteig bestand aus 75 g Butter, einem Ei, 50 g Zucker, 200 g Mehl, einem Päckchen Vanillinzucker und zwei gestrichenen Teelöffeln Backpulver. 15 Minuten auf 200 Grad Celsius, mit Kirschen oder Erdbeeren belegen, Tortenguß ... Statt Fruchtbelag konnte man auf dieser Grundlage auch einen Käsekuchen zaubern, mit anderthalb Pfund Speisequark, zwei Eiern, einem Päckchen Vanillinzucker, einem Päckchen Vanillepuddingpulver, 250 g Zucker, etwas Backpulver und Korinthen, 50-60 Minuten auf 220 Grad.
Uwe nutzte einen Teil des Kellers als Partykeller, den er mit Unmengen von buntem Krepppapier dekorierte. Davor lag eine Waschküche mit einem durch Briketts oder Holz heizbaren, gemauerten Kessel, in welchem Oma, auf einem kleinen Tritt balancierend, die Seife von einem Block schabend, mit Holzstößel die Wäsche kochte, walkte, spülte und dann zum Bleichen auf den Rasen legte. Der vordere Raum stellte die Heimat vieler Dinge dar, die oben nicht mehr gebraucht und deswegen zu einer Existenz in der feuchten Dunkelheit verurteilt wurden. Weggeworfen allerdings wurde nichts. Man konnte ja nie wissen …
In einem hässlichen, wuchtigen Schreibtisch bewahrte Uwe persönliche Dinge auf: Geldscheine und Münzen aus fernen fremden Ländern, die er von seiner Fahrt als Messesteward auf der alten ‚Hanseatic‘ nach Ostasien mitgebracht hatte, Fotos und so komische, längliche Luftballons in quadratischer, blauroter Verpackung, auf der ‚Blausiegel‘ stand. Was mich nun trieb, diese Fotos zu Uwes verständlichem Unwillen unter Zuhilfenahme einer Schere in lauter kleine Schnipsel zu verwandeln, kann ich bis heute nicht beantworten. Immerhin ließ ich die Kondome heil, was man mir bitte hoch anrechnen sollte!
Kindergarten/Tante Renate
Ein Kind muss soziales Verhalten lernen. Meinte Mama. Und wo konnte man das besser, als im DRK-Kindergarten in der Wilhelminenstraße in Cuxhaven. Hinter hohen, moosbewachsenen, unüberwindlichen Backsteinmauern, gekrönt von einem schmiedeeisernen Gitter, dessen Dornen einen beim Überklettern unweigerlich erstechen und somit eine Flucht unmöglich machen würden, und unterbrochen durch ein ebensolches Tor, lag das finstere Backsteinbauwerk mit den hohen Fenstern, die wie unheimliche schwarze Höhleneingänge für ein Kind nicht wirklich vertrauenerweckende Eindrücke hinterlassen. Zudem ist es Winter, ich werde früh geweckt, draußen ist es noch dunkel, es ist kühl in meinem Zimmer, und ich mag nicht aufstehen.
Durch den Schnee sehe ich mich an Mamas Seite durch das metallene Tor stapfen. Drinnen erwartet mich Tante Renate.
Renate Speckmann, Pastorentochter, schien schon als alte Jungfer geboren worden zu sein. Ihre Haare stellten kaum eine Frisur dar, sie wurden einfach und uneitel kürzer geschnitten. Sie hatte einen Buckel wie Quasimodo, ihr Gang war wegen mannigfaltiger orthopädischer Probleme watschelnd, sie war kaum größer als ein 10jähriges Kind, ihr Gesicht wies einen überdimensionierten Mund mit ganz viel sehr großen Zähnen auf, die die Lippen unter Spannung hielten, beim Sprechen entstanden so in den Mundwinkeln kleine Speichelseen ... ja, es kann kaum geleugnet werden: Tante Renate war hässlich. Einzig ihre Augen, groß, braun und freundlich, strahlten eine Wärme und Heiterkeit aus, die all ihre körperlichen Nachteile vergessen machten. Sie konnte aus einem Stück bunten Papiers eine Blume oder ein Vögelchen falten. Mit einem Messer einen Apfel attackierend, in Sekunden zwei sternförmige Hälften entstehen lassen. Mit Walnussschalen und Bronze kostbar anmutenden Christbaumschmuck herstellen. Unter ihren geschickten Händen formten sich aus farbigem Knetgummi die Tiere eines Bauernhofes, Afrikas oder die Fische des Ozeans. Die Höhepunkte waren das tägliche Märchen und das Kapitel aus der Kinderbibel. Renate Speckmann las nicht einfach vor. Sie stellte das kecke Rotkäppchen dar. Sie lebte als die arme, rheumageplagte Großmutter. Sie stellte den grimmigen, wild aufheulenden Wolf dar. Sie verkörperte zimperliche Prinzessinnen und von sich sehr überzeugte Könige, feuerspeiende Fabelwesen und filigrane Feen. Vergessen waren ihre Behinderungen, ihre leicht nuschelnde Aussprache; sie war listig-witzig, majestätisch, magisch, ein durchs Unterholz huschender, kichernder Elf, der Frosch, der quakend aus dem Brunnen springt, der polternde Riese, die Pechmarie, die von der zu Recht erzürnten Frau Holle mit übel riechenden Essenzen begossen wird - geschieht Dir ganz recht, Pechmarie, so etwas tut man nicht, faul sein und liederlich!
Und sie war Jesus, der übers Wasser geht, Maria, die keinen Raum in der Herberge findet, zu Gast auf der Hochzeit zu Kanaan, mit Joseph im Gefängnis des Pharao, einer der Hirten auf dem Felde.
Nie in ihrem Leben hat sich ein Mann für sie interessiert, sie starb vermutlich jungfräulich. Trotzdem hatte sie unendlich viele Kinder, die sie respektierten und liebhatten und, eingedenk der Schönheit ihrer Seele, dies bis heute tun.
Schuhe kaufen
Mama geht mit mir Schuhe kaufen, zum Schuhhaus Laporte in der Schillerstraße Ecke Grüner Weg. Dort gibt es Salamander-Schuhe, wenn man so ein Paar kauft, bekommt man ein Plastiksalamanderfigürchen als Dreingabe. Aber die sind Mama zu teuer. Die Verkäuferin quetscht das Oberleder in der Nähe meines Großzehs. Nicht mal annähernd an meinem Zeh drückt sie.
„Die sollten sie nehmen. Da hat er vorn noch viel Platz, zum Reinwachsen.“
Er bin ich. Oh Gott, wie ich das hasse. Nie bekomme ich passende Schuhe, und nie so einen kleinen Plastiksalamander. Oma stopft sie nachher vorn mit Zeitungspapier aus. Dann rutscht mein Fuß nicht so hin und her ...
Dieses Haus in der Wißmannstraße zu Cuxhaven war angefüllt mit Liebe. Meine Großmutter ( "Ich bin eine alte, arme, alleinstehende Frau!" ) war der beste Mensch der Welt, sie konnte einem Bittenden nie etwas abschlagen, an keinem Weinenden ohne tröstende Worte vorbeigehen; einem Hungrigen würde Sie alles, was Küche und Keller hergaben, kredenzen ( "Schau doch mal, ob noch eine Dose Mockturtle da ist!" ), ihre gesamte Habe mit allen vorbehaltlos teilen. Sie sagte nie nein, sie litt, wenn sie allein war, sie vermietete ihr Haus sommers an Kurgäste, und feierte mit diesen, die sie alle durch Druck an Bauch und Busen adoptierte, ausgelassene Grillfeste und Tanzabende.
Dies Haus war angefüllt mit Liebe, besonders im Hinblick auf mich. Alles drehte sich um mich. Ich war der Mittelpunkt des Interesses, das Zentrum des Universums, die Erdachse, und mit dem Egoismus des Kleinkindes hielt ich das alles für selbstverständlich. Ich stand in einem Ställchen und streckte jedem, besonders Uwe, Mamas kleinem Bruder, die Arme entgegen, um empor gehoben zu werden, kaum daß er aus der Schule kam. Vergessen waren Hausaufgaben und häusliche Pflichten, es wurde mit mir gespielt. Als er bei der Bundeswehr in Altenwalde stationiert war, kehrte er Freitag abends heim, um mich in seinem Fiat 500 mit dem durchgerosteten Boden, durch den man, wenn man die Fußmatte etwas wegstupste, die Pflastersteine der Straße vorbeirasen sehen konnte, auf eine Tour zum Bahnhof aufzulesen, um mir dort ein Comicheft oder Gummibärchen zu kaufen. Das fehlende Autoradio ersetzte er durch eigenen Gesang. Ich erinnere mich gut an seine Interpretation des Hits "Downtown". Petula Clark konnte das besser. Aber die wäre nie in diesen Fiat eingestiegen!
Sonntags entführte er mich dann in die Billard-Stuben in der Deichstraße zum Frühschoppen, ich bekam einige Groschen für den Spielautomaten, der Jackpot aber war längst schon gefallen - in Form einer wunderbaren, beschützten Kindheit.
Mein Spielzeug bestand in einigen Steiff-Tieren, von denen mein Liebstes, der Teddy Orsi ( vom lateinischen "ursus", der Bär, erklärte Karen mir ) mich bis zum Studium hin begleitete, auch wenn ich ihn im Alter von 5 mit dem Remington Rasierapparat, mit dem Mama sich die Haare an den Beinen entfernte, derart schor, daß die Grundstruktur des Leinenstoffs, aus dem er gefertigt war, an vielen Stellen durchschimmerte, und einem hölzernen, bunten Schaukelpferd, welches ich mit einem kleinen Schwung nach vorn ritt, um mich fortzubewegen, später kamen noch ein Kasperltheater, Bauklötze aus Holz und, sensationell, einige rote und weiße Legosteine mit einer rechteckigen grauen Grundplatte dazu. Wenn ich nicht spielte, war ich Ankes und Uwes Proband grausamer Babyexperimente: Sangen die beiden mir Fred Bertelmanns ‚Lachenden Vagabunden‘ vor, lachte ich mein frohes Babylachen, stimmten die beiden dann ‚Hang down your head, Tom Dooley‘ an, kräuselte sich mein Näschen, das sonst einer Steckdose nicht unähnlich schien, und ich brach in Tränen aus. Dies taten sie mehrfach und in beständigem Wechsel, wenn sie aus der Schule nach Hause kamen, weiß der Himmel, welche meiner schlechten Eigenschaften und psychischen Defekte durch derlei zementiert wurden.
( Leute, was ist mit Euch los? Wo kommen diese unendlich vielen Leser her? Darf ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich ein ganz netter Kerl bin, aber weder wichtig, noch sonstwie prominent! Kinder, Kinder! So müssen Joanne K. Rowlings sich fühlen, oder Stephen King, oder Noah Gordon. Oder hat der Zähler bei Facebook sich geirrt?
Na gut! Vielen Dank! Das fordert mich natürlich heraus, die Geschichte fortzusetzen.
Ihr findet sie hier, auf ‚Peik Volmer Autor', und auf www.peik-volmer.com ...
Allerdings warne ich vor. Ich bin kein Engel. Meine Mutter erstickte allerdings meine kriminellen Ambitionen im Keim ... )
Aprikosen klauen
Ein Anflug von Kleptomanie, vielleicht? Ich bin nicht sicher. Gibt es Statistiken über frühkindliche kriminelle Neigungen?
Mama geht einkaufen. „Zwischen den Kirchen“, in den Geschäften am Strichweg, an dem auch der Friseursalon Eichler liegt, bei dem ich neuerdings Haare lasse. Dem Straßenstück zwischen ‚meiner‘ evangelischen Petri- und der katholischen Herz-Jesu-Kirche, gegenüber von der Kaiser-Apotheke am Lichtenbergplatz. Zu Bäcker Gräber, Drogerie Langer ( hallo, liebe Martina! ), wo es aus einem roten Plastikspender Pullmoll-Hustenbonbons gibt, auch wenn man gar keinen Husten hat. Zum Schlachter Schröder, wo ich regelmäßig mit zwei Scheiben Cervelat-Wurst oder einer Wiener auf die Faust, untenrum mit Pergament-Papier umwickelt, zum Anfassen, verwöhnt werde.
Besonders bunt und schön finde ich es im Gemüsehaus Scharpen. Frau Scharpen ist eine herzliche, rotunde Marktfrau mit lauter silbernen Löckchen um den Kopf, rosa Bäckchen und einer grünen Schürze. Mama kauft Bananen, Karotten, Salat. Ich interessiere mich besonders für Aprikosen, deren warmer Orangeton, mit wie hingetupften, roten Flecken, mich bis heute magisch anzieht.
Auf dem Heimweg produziere ich plötzlich, wie ein Magier das Kaninchen aus dem Zylinder, eine Aprikose aus meiner Anoraktasche und will gerade, hineinbeißend, meine kleine Sünde komplettieren, als Mama erschrocken fragt, wie das Obst in meine Hände gelangt sei. Ich gestehe, die Frucht einfach so genommen zu haben. Mama erklärt, daß man dafür erst zahlen müsse, bevor man etwas einpacken darf. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Wir kehren um und betreten zum zweiten Mal an diesem Tag das Geschäft von Frau Scharpen. Das in mir erweckte schlechte Gewissen läßt mich die Hand mit der wundervollen, samtig-orangenen Aprikose in Richtung ihrer rechtmäßigen Besitzerin ausstrecken. Nicht ganz freiwillig, aber immerhin. Mama erklärt kurz. Frau Scharpen lächelt. „Na, mein Jung, ist schon recht, ich bin nicht böse. Das machst Du nicht wieder, das weiß ich. Die Aprikose schenke ich Dir.“ Artig bedanke ich mich mit einem ‚Diener‘.
Ich bin sehr froh, im Lauf meines Lebens so viel guten und freundlichen Menschen begegnet zu sein.
Altkluges Kind
Ich war hübsch. Behaupten die Mitglieder meiner Familie. Hat da etwa jemand gelacht? Natürlich findet jede Mutter ihr Kind niedlich. Und Kinder sind immer irgendwie hübsch, oder? Sogar ( oder vielleicht auch gerade dann ), wenn es sich um eine kleine Fledermaus handelt. Sagen wir mal lieber, dass ich possierlich war, wie alle Kleinkinder. Blond, blauäugig, zierlich. Etwas altklug, vielleicht.
Oma hat ihre Canasta-Freundinnen zu Gast. Da ich die Eierlikör-Gläser heimlich auslecken möchte, das anschließende, blümerante Gefühl im Kopf genießend, drücke ich mich in der Nähe herum. Das Thema ist Heirat. Frau Frieda Denke, die mich immer als „Poussierstängel“ bezeichnete, und Frau Hamer, „Musch“ genannt, berichten anekdotisch, ich werde gefragt, ob ich denn auch einmal heiraten wolle. Meine Antwort: „Na, da nehme ich doch lieber die Antibabypille!“ Ist das nicht gräßlich? Derlei peinliche Geschichten bleiben an einem haften wie Pech. Kistenweise onomatopoetische Ersatzworte. Ab frühester Kindheit. Was soll man auch tun, wenn man bestimmte Buchstaben-Kombinationen nicht aussprechen kann? Aus ‚Trinken‘ wird ‚Ninge-Ninge‘. Aus ‚Haarschleife‘ entsteht ‚Haufe-laufe‘. Und was der klägliche Rest derer, die mich noch kannten, als ich klein war, so niedlich fand, war, dass ich, wenn mir was nicht passte, meinen Micky-Maus-Kinderkoffer packte, und mich anschickte, zu gehen. „Ich bin traurig und gehe zu anderen Leuten“, soll ich gesagt haben.
Das kann ich einfach nicht glauben.
That's Entertainment
In Omas Wohnzimmer steht ein Philips Fernseher. Da es nur ein Programm gibt, reicht der elfenbeinfarbene Ein- und Ausschaltknopf, um aus dem dunkelgrünfarbenen, gewölbten Glas in dem klobigen, aber polierten Holzkasten ein Fenster in die weite Welt zu zaubern. Schwarzweiß, zwar, unscharf und mit rauschendem Ton, aber, es war etwas Besonderes. Wenn Ohnsorg-Theater aus dem fernen, großen Hamburg live übertragen wird - einschließlich der Pause! - oder „EWG“ mit Hans-Joachim Kulenkampff, werden Stühle und Clubsessel aufgestellt, Sinalco auf Bastuntersetzern, Salzstangen und Käsehäppchen auf den Beistelltischchen gereicht, Oma macht Schnittchen und Käseigel aus Pampelmusen ... Die Abendunterhaltung wird zelebriert.
Das Fernsehen war es auch, das mir drei Katastrophen vermittelte, nicht so sehr, weil ich den Inhalt der Berichterstattung begriffen hätte, was mit 4 wohl kaum möglich gewesen wäre, sondern, weil ich die Reaktion meiner Mutter beobachtete, ihr Kummer über den Mauerbau im August 1961, ihre Angst vor der Sturmflut im Februar 1962 und ihre Entsetzensschreie über die Ermordung Kennedys im November 1963.
Sturmflut '62
Es stürmt seit gestern, und regnet. Alle Erwachsenen sind erfüllt von unruhiger Ratlosigkeit. Weggehen? In Sicherheit bringen? Wir wohnen ungefähr 1000 m vom Wasser entfernt. Ist das viel? Belters wollen nach Altenwalde auf die "Hohe Lieth", Kalkas und Piotrowskis auch, und Daldorfs sind schon weg. Man bietet uns an, uns mitnehmen, aber Oma will das Haus nicht verlassen. Sie hat trotzdem alle möglichen Papiere in einen Koffer gepackt, sicherheitshalber. Uwe muss diesen auf den Boden schaffen.
Mama will zum Deich, sehen, wie hoch das Wasser ist, und beschließt, mich mitzunehmen. Wir laufen gegen den Sturm die Wißmannstraße entlang, überqueren den Strichweg, weiter die Adolfstraße hoch. Dann erklimmen wir die Treppe, die auf den Deich führt, von dem ich im Winter mit meinem Schlitten herunter rodele. Die Kirchturmuhr von St. Petri verkünden die frühen Abendstunden, aber der Himmel ist blauschwarz, wie Tinte. Auf der Treppe bleibt Mama stehen. Ihr flaschengrün-glänzender, wasserabweisender Anorak wird durch einen elastischen Gürtel zusammengehalten, dem als Verschluss zwei metallene Achten dienen, die ineinander gehakt werden müssen. Wir stehen auf der Deichkrone, das Wasser hat das Vorland überspült, und schwappt in bleigrauen Wogen, mit viel Gischt, den Deich hoch. Der Sturm tobt, wir kommen nicht weit, das rostige Treppengeländer dient uns als Halt. Mama ist starr vor Entsetzen. Ich will gehen. Ich verstehe nicht die Gefahr, ich spüre nur Mamas Angst. Lass uns gehen, Mama, jetzt, sofort, heim zu Oma. Da sind Trost und Sicherheit zu erwarten.
Wir hatten Glück. Etwas Wasser lief in die Innenstadt. Für Hamburg wurde es zur Katastrophe.
Anke=Akka
Ankes Stärken lagen in ihren versponnen-fantasievollen, faszinierenden Eigenschaften. Ihre Vorstellungskraft schien unendlich, sie konnte schrille oder behagliche Parallelwelten in ihrem Kopf entstehen lassen und sich für längere Zeit in diesen aufhalten. Sie vermochte es, zu jeder Realität eine lustige, unheimliche, versponnene, erschreckende oder himmelschreiend alberne Geschichte zu erfinden.
Ich krabbele in ihr Bett, und wir vertreiben uns, wenn ich es fertigbringe, sie zu wecken, die Zeit mit dem Schreiben von Wörtern auf dem Rücken des anderen mit dem Zeigefinger, welche dieser dann erraten muß. An der Fünfziger-Jahre-Wand über ihrem Bett hängt in morbidem schwarz der Kopf der „Schönen Unbekannten aus der Seine“, auf ihrem Nachttisch stehen zwei kleine, erzgebirgische Engelchen als Kerzenhalter, einer sitzend, einer stehend, mit weißen Kleidchen und weiß gepunkteten, grünen Flügeln, und wie ein geheimes Ritual werden die kleinen Kerzchen angezündet. In dem Zeitraum bis zu ihrem Verlöschen kann, darf und muss erzählt oder vorgelesen werden.
Mit Ankes Lebensgefährten - ich kenne niemanden, auf den dieses Wort besser paßt - Kanut verstehe ich mich immer gut. Durch Diskussionen über Filme, Musik, Kunst und Kleinkunst ( besonders Helen Vita ) hatten wir von je her einen wunderbaren Draht zueinander, Kanut war und ist humorvoll, unkonventionell und gebildet.
Anke ist in meinen Augen die schönste Frau der Welt, viel schöner als meine Mutter. Was sie trägt, ist schick. Ihr Geschmack ist über jeden Zweifel erhaben. Alles, was sie zubereitet, ist köstlich. Und: Sie sollte einige Jahre später noch sehr wichtig für mein Leben werden... Ihre Rezepte, besonders die Serbische Bohnensuppe, haben mich durch Studium und Leben begleitet. Eine bis eineinhalb Kabanossi in Scheibchen schneiden, in einem großen Topf anbraten, ggf., wenn's Geld reicht, noch gewürfeltes Schweineschnitzelfleisch dazugeben. Drei bis vier sehr große Zwiebeln ( Anke nennt sie „Industriezwiebeln“ ) in Scheiben schneiden und in Ringe bröckeln, auf das Fleisch im Topf werfen, dünsten. Sind die Zwiebeln weich, die Inhalte von einer Dose geschälter Tomaten und einer Dose weiße Bohnen mit Suppengrün dazugeben, die Tomaten ein wenig zerdrücken, mit Salz und Pfeffer abschmecken, nach Geschmack Sahne, oder Schmand dazu, vor dem Servieren mit reichlich Petersilie bestreuen. Blitzschnell gemacht, für einen oder mehrere, und sehr lecker!
Jürgen Kalka
Zum Spielen steht mir der Nachbarsjunge, Jürgen Kalka, zur Verfügung. Er ist bis zum Beginn der Schulzeit mein erster und einziger Freund, mit dem man unreifes Obst vom Baum essen kann, im Garten graben, Insekten foltern und Ballspielen.
Morgen früh, sagt meine Helferin, käme ein Privatpatient zur Krebsfrüherkennungsuntersuchung, er habe sich heute kurzfristig angemeldet. Ein Herr Kafka, oder so ähnlich.
Der Patient ist pünktlich auf die Minute, das erwartet man aber auch von einem deutschen Beamten. Den Namen allerdings haben wir falsch verstanden. Er heißt Kalka. Kalka? Ich kannte mal einen Jürgen Kalka … Erkannt habe ich ihn nicht. Als ich ihn frage, ob ihm die Wißmannstraße in Cuxhaven etwas sagt, liegen wir uns schon in den Armen. 50 Jahre ist es her, ein halbes Jahrhundert.
Weihnachten
Am wunderbarsten sind die Weihnachtsfeste.
Alles riecht nach Lebkuchen, Bratapfel, Vanille. Die Erwachsenen sind alle irgendwie besonders angezogen, heute ist kein Tag wie die anderen, man kichert, flüstert, hastet nach oben und wieder in den Keller, eine ärgerliche Stimme, eine beruhigende, Aufregung.
Das Wohnzimmer, das durch eine große Flügeltür mit gelb getöntem, geriffeltem Glas vom Flur getrennt ist, ist mit Bettlaken verhängt. Kinder, also ich, haben keinen Zutritt, bis endlich ein Glockenton das Zeichen gibt.
Der Weihnachtsbaum mit seinen bunten, glänzenden Kugeln, den Fondantringen, den immer etwas muffig schmeckenden Schokoladenkringeln, die mit Liebesperlen bestreut sind, den Geléefrüchten, dem Lametta und den tropfenden Stearinkerzen, ist zu Ehren meines Eintretens mit Wunderkerzen behängt, die Uwe irgendwie alle gleichzeitig zum Funkeln gebracht hat. Ich bleibe stehen, habe ich doch mein Hauptgeschenk, die kleine, rote Märklin-Lok, die auf einem mit einem blauen Trafo verbundenen Gleisrund ihrer vorgeschriebenen Bahn folgt, längst am Fuße des Baums entdeckt, neben Büchern und Legosteinen. Das Bild dieses Baums ist Weihnachten für mich, Omas roter Heringssalat, Karpfen blau, zerlassene Butter, Fischschuppen fürs Portemonnaie. Uromas klapperndes Gebiss und ihr regelmäßiger Erstickungsanfall wegen der kleinen Gräten des Süßwasserfisches, mehr noch, ihre farbenfroh-dramatische Schilderung ihrer wunderbaren Rettung. Tante Mika, immer kritiklos lächelnd, schnapsselig hinter ihren Brillengläsern, die wie Flaschenböden aussahen und ihre Augen grotesk vergrößerten. Anke und Kanut, Uwe, Mama ... Omas helle, aufrichtige Tränen, bei ihrem Lieblingslied „Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen“... besonders an der Stelle, an der die zwei Engel hereingetreten sind.
Komisch, dass man an Weihnachten immer an frühere, glücklichere Zeiten denkt. Zeiten, in denen die Familie noch groß, und man selbst jung war, und die Zahl derer, die einen noch als Kind kannten, unendlich.
Omas Heringssalat
500 g Matjesfilet(s), bevorzugt die fetten holländischen
500 g Rinderbrust
2 Äpfel, säuerliche, z.B. Elstar
600 g Kartoffel(n), festkochend
2 Zwiebel(n), rote
4 Gewürzgurke(n)
400 g Rote Bete
Für das Dressing ( Dressing sagte man damals noch nicht. Aber ich weiß auch nicht mehr, wie Oma es nannte! ):
200 g Schmand
"Milch" von Heringsmännchen
2 EL Meerrettich, frisch
4 EL Preiselbeeren
5 EL Weißweinessig
1 Bund Schnittlauch
1 EL Senf
Pfeffer
Zucker
Salz
Zubereitung
Rinderbrust und Kartoffeln kochen. Dann diese und alle anderen Zutaten unpräzise würfeln und in eine ausreichend große Schüssel geben. Mischen.
Meerrettich reiben (frisch geriebener Meerrettich schmeckt gerade hier um Klassen besser, als der aus dem Glas). Schnittlauch in winzig kleine Ringe schneiden. Alle Zutaten vermengen und über die Salatzutaten geben.
Den Salat etwas ruhen lassen, falls er zu trocken wird, ggf. etwas Milch dazugeben.
Verbotene Besuche
In diesem Haus wuchs ich auf, nachdem meine Eltern sich hatten scheiden lassen. Meine Mutter zog in die Wißmannstraße ein, ich erinnere mich, daß mein Vater Jürgen einige Male versuchte, mich zu besuchen; ich fühle auf meiner Haut den etwas kratzigen, braunen Duffle Coat mit sehr schicken Knebelknöpfen aus Lederimitat mit einer großen Tüte Bonbons, wie man sie früher hatte, und wie sie Herr Boberg verkaufte, am Anfang der Straße, gegenüber der Shelltankstelle, auf der ein gutmütiger, träger Aredale Terrier seiner Wachhundfunktion gelangweilt nachkam, nach unten spitz zulaufend, mit zartlila Aufdruck eines fortlaufenden Musters, auch ein Kinderfahrrad, das ich aber nicht behalten durfte, meine Mutter verkaufte es, Kleidung war eben wichtiger. Meinem Vater verbot sie diese Besuche und liebte es, ihn auf Unterhalt zu verklagen, wenn's ging, an den Gerichten, an denen er beruflich als Rechtsanwalt zu tun hatte.
Es klingelt an der Haustür. Mama ist sehr aufgeregt, sehr nervös. "Du bleibst hier, sei ganz leise, pssst!" Sie hastet die Treppe herunter. Eine Männerstimme, ruhig, freundlich, Mamas Stimme, hoch, zumindest höher als sonst, hart, ich verstehe nur die Neins, die Tür wird geräuschvoll geschlossen, Mama weint, was mir die Luft zum Atmen nimmt, ich habe Angst, wenn sie weint, ihr Kummer überträgt sich auf mich und vervielfältigt sich in mir. Ihr Gesicht ist knallrot, hässlich geschwollen, Omas Stimme sanft, ruhig, beruhigend, tröstend, „Kalla, nicht weinen!“
Mama
Meine Mutter Karen hatte den Traum, Jugendrichterin zu werden. Als sie 1956 schwanger wurde, legte man ihr den Abbruch des Studiums dringend nahe, immerhin sind wir im konservativ-spießigen Hamburg der 50er Jahre, die Studenten sprechen sich mit Herr Kommilitone und Frau Kommilitonin an ....
Ich habe nie wirklich herausfinden können, ob sie mich liebte, oder ob ihre meist übertriebene Fürsorglichkeit eher Ausdruck von Hass war. Ich meine, sehen wir es, wie es ist: Eine junge, attraktive Frau mit hervorragendem Abitur und sehr ambitioniert, will ihr Studium der Rechtswissenschaften aufnehmen. Sie wird schwanger. Abtreiben? Gab's damals nicht, zumindest nicht legal. Studieren? Ging damals nicht. Die Entscheidung zugunsten des Kindes fiel anfänglich nicht schwer, weil der Vater sich zu dem hoffnungsvollen Spross bekannte und qua Eheschließung das Bild nach außen stabilisierte. Aber dann verschwand er von der Bildfläche und hinterließ Chaos und (m)eine nunmehr alleinerziehende Mutter, der die Zukunft in den Händen zerbröselte wie dieZwiebacks, mit denen ich ernährt wurde - neben gemanschter Banane mit Zitronensaft, wegen der Vitamine. Das war es dann wohl, mit dem Leben, mit Ansehen, Einfluss, sozialem Status! Schade!
Das Ganze hatte grausame Konsequenzen für mich. Wann immer ich nicht so funktionierte, wie sie es sich vorstellte, erfuhr ich, was sie alles für mich aufgegeben hatte. Wenn Du Mama lieb hast, tust Du dies und jenes ... und wenn es mir nicht gelang? Wenn ich etwas nicht schaffte? Versagte? Dann hatte ich Mama eben nicht genug lieb gehabt, obwohl sie doch alles für mich geopfert hatte. Ich war damals noch nicht so weit, sagen zu können, Selbst schuld. Ich kann nicht für Dein Verhalten verantwortlich sein. Die Konsequenz Deines Handelns hast Du bitte ganz allein zu tragen, lass mich da freundlicherweise raus! Ach, wäre das schön gewesen!
Weder wusste ich das, noch konnte ich das. Ich beobachtete ängstlich die durch mich ausgelösten Befindlichkeiten der strengen Frau, die vorgab, Mama zu sein, und die Zeit unseres gemeinsamen Lebens hohe, oft unerfüllbare Ansprüche an mich richtete und deren widerspruchslose, sofortige und vor allem, komplette Umsetzung von mir erwartete.
Durch die manipulativen Tricks meiner Mutter schlidderte ich durch die emotionale Achterbahn meiner Schuldgefühle, im Extremfall wurde ich zumindest pro forma des Hauses verwiesen, ich solle doch zu meinem Vater gehen, der von mir nichts wissen wolle, ihr Leben zerstört habe und dem ich, schlimm genug, immer ähnlicher würde. Sie hat mich geliebt? Ja, sicher, auf ihre ganz besondere, herrische Art, in der sie alle, die sie zu lieben versuchte und die sie zu lieben versuchten, vor den Kopf stieß. Ich glaube eher, dass sie sich bemühte, die ideale Besetzung für die Rolle der Mutter zu sein, genau, wie sie sich immer anstrengte, Probleme perfekt zu lösen.
Ich möchte jetzt auch kein Mutter-Bashing veranstalten. Mütter sind ja immer und unter allen Umständen an allem schuld, so viel steht fest. Ich wurde gedrillt. Ich würde mit Büchern, Museumsbesuchen, Konzerten, Opern beworfen, noch bevor ich 10 Jahre alt war. Bildung. Bildung um jeden Preis! Lernen, lernen, lernen.
Aber im Ergebnis ist ja irgendwie … sagen wir mal, was geworden aus mir. Nicht wirklich das, was sie sich erträumt hat. Aber ich habe überlebt, in meinem Lebensentwurf. Und ich habe ein gutes, bejahendes Verhältnis zu mir.
Sie hatte von ihrem viel zu früh gestorbenen Vater, Willy Otto, die Liebe zum Lernen übernommen, die Spannung und Freude an Neuem, bisher Verborgenem und Unbekanntem, und konnte diese Generationen von Nachhilfeschülern im Fach Latein und auch mir ( zwangsweise ) vermitteln. Wann immer mein Großvater, den ich aufgrund seines viel zu frühen Todes 1953 nie kennenlernen durfte, ein Wort aus Rundfunk oder Zeitung erfuhr, dessen Bedeutung ihm unklar oder fremd war, suchte er in Brockhaus und Duden und Atlas so lange, bis er sich neues Wissen akribisch zu eigen machen konnte. Ihre Lieblingsgeschichte aus ihrer Schulzeit handelte von ihrem Deutschlehrer, Herrn Dr. Wünscher. Kurz vor ihrer Abiturprüfung starb ihr Vater, und es wird niemanden verwundern, dass sie in ihren schulischen Leistungen stark abfiel. In den guten, alten Zeiten, als sich die Lehrer noch für den einzelnen Schüler einsetzten, rief Dr. Wünscher sie zu sich und erklärte ihr, nachdem sie sich ihm anvertraut hatte, dass sie Nachhilfestunden benötige. Ihren Einwand, sie habe keine Mittel, um diese zu honorieren, wischte er mit einer Handbewegung fort und bestellte sie dreimal in der Woche zu einem Zeitpunkt, an dem in der Familie Wünscher gerade zu Abend gegessen wurde, und wie selbstverständlich wurde Karen aufgefordert, an der Abendtafel ihres Klassenlehrers Platz zu nehmen und sich gütlich zu tun. Sie bestand ihr Abitur, und sie vergaß nie die überaus großzügige Geste des Lehrers, dem sie und nun auch ich mit der Nacherzählung dieser Ereignisse ein dankbares Denkmal setzen möchten.
Ihr Leben war ein einziger, verbitterter Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. Diese Haltung konnte ich nie verstehen. Sie aber liebte das High-Society-Gefühl und kuschelte sich hinein wie in eine wärmende Decke.
Ingrid Stüven, die Gattin von Rechtsanwalt Claus-Wilhelm, genannt Lora, der Klassenkamerad meines Vaters ist, ruft an. Ein Schwatz unter Freundinnen. Am Wochenende haben Stüvens Gäste. Aber, zu denen passt ihr nicht, Du kommst mit Hansgeorg ( meinem Stief„vater“ ) ein anderes Mal.
Naja, sagt Mama, vermutlich Klienten von Lora. Nachmittags trifft sie Frau Dr. Brusis, eine Allgemeinmedizinerin in Cuxhaven, in der Stadt. Nach dem kurzen, freundlichen Austausch von Nettigkeiten klopft Frau Brusis mit dem Zeigefinger auf die Uhr. Sie müsse weiter, aber man sähe sich doch Samstags bei Stüvens? Mama wird blass. Sie erfragt die Gästeliste, die neben dem Oberstadtdirektor noch Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer und Pastor Gustav "Gusch" Hülsemann, also fast alles ehemalige Klassenkameraden meines Vaters, enthält.
Schmallippig und mit bebender Stimme telefoniert Mama heute zum zweiten Male mit ihrer Freundin Ingrid, die mit beißender Ironie scheinheilig darauf hinweist, daß Hansgeorg sich als einziger Nichtakademiker vielleicht unwohl gefühlt hätte.
Vier Wochen später lädt Mama ein, unter anderen auch Stüvens. Ich kann es nicht glauben. Karens Reaktion auf meine interessierte Nachfrage: In einer so kleinen Stadt könne man nicht aufeinander verzichten...
Schulsport
Meist gehe ich gern zur Schule, es sei denn, wir haben Sport. Unser bulgarischer Sportlehrer, Christo Christow, will harte Männer aus uns machen, aber ich bin kein harter Mann, im Gegenteil, ich kann mich mit dem vorgegebenen Ein-Junge-weint-nicht-Bild nicht identifizieren, und ich will alles andere eher sein als ein harter Mann. Er schreit und flucht. Ich hänge am Reck wie ein nasser Sack. „Aufschwung, los! Du Pflaume!“
Ich kann es nicht, und wenn ich mich noch so sehr mühe. Die Rolle über den Barren geht, Marten und Michael helfen mir, aber bereits am Bock ist dann schon wieder alles vorbei: Ich komme nicht drüber. Statt dem Salto, den Matthias locker hinlegt, schließe ich mit einer mickrigen Rolle vorwärts ab. Einer lacht. Dann wird noch Basketball gespielt. Die Mannschaften werden gewählt. Ich bleibe bis zum Schluß übrig, nun kann man nicht mehr anders, man muss mich wählen, und ich höre ein unwillig gemurmeltes „Mit dem verlieren wir sowieso!“
In der zweiten Stunde geht es ins Freie, barfuß, natürlich. Turnschuhe sind was für Schwächlinge. Es ist kalt, und wir sollen eine Runde um den Sportplatz zwischen Jungen- und Mädchengymnasium, der von beiden Lehranstalten genutzt wird, laufen. Mir bluten die Füße von der Tour über die Aschenbahn. Ich zeige sie Mama, die wütend zum Direktor geht und sich beschwert. In der nächsten Sportstunde ruft Christow, meiner ansichtig werdend, „ah, da kommt ja die Mami!“ Alle finden das sehr spaßig, überall, wo ich hingehe, steht einer, der mich mit „Hallo Mami“ begrüßt.
Mobbing, oder? Das Wort gab es damals noch nicht. Gottseidank. Sonst hätte ich mich noch mehr aufgeregt.
Daheim allerdings wurde ich noch immer geliebt. Das Haus in der Wißmannstraße 14b war angefüllt mit der manchmal vielleicht sogar erdrückenden Liebe meiner Großmutter, die mir allerdings 10 beschützte, harmonische und glückliche Kindheitsjahre bescherte, wie die Liebe von Anke und Uwe. Ich bedenke so oft, welch unterschiedlichen Verlauf mein Leben genommen hätte, wäre Mama nach der Scheidung mit mir in einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in Stade geblieben, statt zu diesen drei Menschen zu ziehen, die mich tatsächlich und ohne Vorbedingung liebten, denen ich nichts schuldete außer Dankbarkeit für und Freude über die Illusion der heilen Welt.
Familienstreit
Es gibt allerdings auch Zank und Streit. Das sei unsere "Schönwandt'sche" Seite, sagen Mama und Oma. Sturheit, Selbstgerechtigkeit, gepaart mit Jähzorn. Wie unsere Vorfahren.
So kommt es zu einem schlimmen Ereignis, von dem mehrere Versionen existieren, und das wohl so bewertet werden muß: Anke und Uwe leben mit ihren jeweiligen Partnern in Hamburg und kommen nur noch selten nach Cuxhaven. Motiviert durch Hansgeorg versucht Mama bei unseren vergleichsweise zahlreichen Besuchen, Oma den Gedanken schmackhaft zu machen, daß sie das Haus übernehmen könnten, um sich dann um sie zu kümmern, der Alterseinsamkeit vorzubeugen, das Haus und den Garten in Schuss zu halten. Oma scheint mehr als einverstanden, bekommt aber, als Hansgeorg mit Zollstock, Grundriss und Bleistift die Dinge zu beschleunigen sucht, Angst vor der eigenen Courage und sendet einen Hilferuf nach Hamburg.
Anke und Uwe befürchten zu Recht, um Erbe und Elternhaus betrogen zu werden, und es gibt einen erregten Briefwechsel, in dem ich als „Zeuge“ auch noch eine Rolle zu spielen habe. Dass mir die notwendige Distanz zu dem Geschehenen und den handelnden Personen fehlt, und dass ich immer noch ein Kind bin, berücksichtigt niemand. Das Ergebnis: Anke und Uwe beschimpfen Karen als Erbschleicherin, Karen wirft den beiden Desinteresse an ihrer Mutter vor, bezeichnet Oma als doppelzüngig ... das Chaos gipfelt darin, daß alle Kontakte abgebrochen werden und eigentlich erst Jahre später, bei Omas Tod, und dann, als Mama im Sterben liegt, mühsam wieder aufleben. Das geht sogar so weit, daß mir der Kontakt zu Oma verboten wird; ich erinnere mich, daß ich einmal mit Mama die Straßenseite wechsele, als wir ihr zufällig begegnen. Ich wehrte mich dagegen. Es zerriss mir das Herz. Aber ich war zu dumm, und zu jung.
Die Konsequenz aus dem Hausdebakel: Karen und Hansgeorg bauen, ohne es sich wirklich leisten zu können, in der Sylter Straße, „stellt Euch vor: Das Nachbargrundstück gehört dem Oberstadtdirektor, Hannemann Eilers!“ Aus Geldgründen muss viel „in Eigenleistung“ gemacht werden, was bedeutet, dass meine Beschäftigung an den ohnehin kurzen, nur aus dem Samstagnachmittag und Sonntag bestehenden Wochenenden künftig in Tapezieren, Streichen, Makulatur Anrühren bestehen wird. Die obere Etage erhält einen Boden aus Holzplatten, die später bei jedem Schritt knarren werden. 1972 verlassen wir die Wohnung Am Seedeich 19/20 und beziehen unser Haus, von dem Mama angesichts des prächtigen Bungalows der Lühmanns gegenüber mit koketter Bescheidenheit nur als unserer "Kriegsopfer-Siedlung" spricht. Ich verbringe den Sonnabendnachmittag auf Knien, die zahlreichen Beete jätend, "... aber mach das ja ordentlich, schön tief mit der Wurzel, nicht nur oben abreißen!" Mein Cassettenrecorder mit Aufnahmen des Düsseldorfer Kommödchens, der Berliner Stachelschweine und der Münchner Lach- und Schießgesellschaft leisten mir Gesellschaft. Lore Lorentz, Wolfgang Gruner und Dieter Hildebrandt gehören zu meinen besten Freunden ....
Schule
Ich hatte die Pflicht, nunmehr alles im Leben zu erreichen, was meiner Mutter versagt geblieben war. Ich konnte Lesen und Schreiben, bevor ich eingeschult wurde; Mama brachte es mir anhand der Wilhelm-Busch-Bücher ( Plisch und Plum und Hans Huckebein ) in einem Urlaub bei Tante Frieda, der Schwester meines Großvaters, und ihrem Mann, Onkel Erich Netzel, die Am kleinen Madebrökensee in Plön ein wunderschönes Wassergrundstück angemietet hatten, bei. Es war traumhaft dort. Sommer konnte man baden, winters über den zugefrorenen See laufen und mit dem Schlitten fahren.
Als ich zur Schule kam, schrieb ich mit einem alten Pelikan-Füller, schwarze Kappe, grün-schwarz gestreifter Corpus, in den mit einer Schraubvorrichtung Tinte aus einem Glas hineingesogen wurde, auf Papier, während die Klassenkameraden mit ihren Griffeln Schiefertafeln bearbeiteten.
Ich kann nicht rechnen
Die Schule fiel mir leicht, auch wenn die Schulärztin, Frau Dr. Timpe, sich gegen meine Einschulung mit 5 aussprach. Ich war erkältet, und mir wurden „nasale Sprachstörungen“ bescheinigt. Mama explodierte und ließ dies vernichtende Urteil durch Oberschulrat Walther außer Kraft setzen. Alles fiel mir leicht, außer Rechnen. Die Lehrerin, Frau Holdau, führte mich gern vor. Ständig wurde ich gefragt, und je weniger ich wusste, desto mehr wurde ich zur Tafel zitiert und mußte „vorrechnen“, was mir unter dem Gejohle der Klassenkameraden und den herabwürdigenden Kommentaren Frau Holdaus natürlich nicht gelang. Meine panikartige Unfähigkeit, mit Zahlen umzugehen, hat sich bis heute gehalten. Für den Erfolg in der Schule wurde ich aber in den Ferien auch gedrillt; zwar gingen wir jeden Tag an den Strand in unseren Strandkorb, auf dem den Cuxhavenern vorbehaltenen Strandabschnitt, aber das war nur Tarnung. Statt die Sommerferien badend oder Sandburgen bauend zu geniessen, wurde vormittags Latein, nachmittags deutsche Literatur gepaukt.
Mal abgesehen vom Sport und sicher auch Mathematik ( erst Doll, dann Preysing ), war ich ein guter Schüler. Griechisch ( Hoppe ) lief problemlos, Latein ( erst Kowalski, dann Stephan ) war ein Fest ... bis auf die Liviustexte, Deutsch und Geschichte ( erst Mielke, dann Granzin ) machten unendlich viel Spaß, Physik ( Prange ), Chemie ( Bittner ) und Biologie ( Großmann ) ertrug ich, Religion ( Weckwerth ) war faszinierend, Kunst ( erst Höpflinger, dann Günther ) war inspirierend. Ich war kein Streber, zum Hausaufgaben machen hatte ich selten Lust, das mußte schnell gehen und diente am anderen Morgen noch manchen Mitschülern als Vorlage zum Kopieren.
Fechten
Ich hasste Sport, aber Karen meinte, es gehöre nunmal zu einer guten Erziehung wie Klavier- und Tanzstunden, erstere bei Kurt „Kuddl“ Bergmann in der Kapitän-Alexander-Straße, letztere bei Arthur Beuss in der Grandauer Straße, dazu. Ich wurde also gegen meinen Willen im Tennis- und Hockeyclub „Schwarz-Weiß“ angemeldet und lernte bei Trainer Friedrich-Wilhelm Auf der Heide die Fechtkunst. Ich gebe zu: Meine Leistungen waren lausig, aber ich ging irgendwann doch ganz gerne, jedoch nur wegen der Bekanntschaft zu einer witzigen, schrillen Mitfechterin, Hildburg Hase, deren messerscharfer Humor mich die kleinen Unzulänglichkeiten meiner sportlichen Darbietung leichter ertragen ließ. Sie nahm alles nicht so wichtig, und an den Stellen, an denen Wolfgang Grasshoff und Wolfgang Dieffenbach Mordlust aus den Augen sprühte, weil sie gewinnen wollten, saßen wir mit einer Limo auf der Bank und lachten uns halbtot.
Hildburg fand mich übrigens dreißig Jahre später per Internet wieder, sie arbeitete inzwischen im Hessischen als Sozialpädagogin. Wir versuchten, ehemalige Vertrautheit wiederaufleben zu lassen, bis ich von ihr unverhofft eine wütende Mail bekam: Ich hätte angeblich ihre Mailadresse weitergegeben, wodurch ihr erheblicher Schaden entstanden sei, und sie lege auf diesen Kontakt keinen Wert mehr. Derart beraubt um die Möglichkeit einer Rechtfertigung, kam ich ihrem Wunsch gern nach. Manchmal ist es eben besser, jemanden so in Erinnerung zu behalten, wie er war.
( Kinder, Kinder! Ich bin wirklich überwältigt. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet! Also, damit, dass jemand das hier lesen will. Aber die Rückmeldungen, die ich bekomme, zeigen, dass sich doch der eine oder die andere angesprochen fühlt. Ich muss auch Kritik einstecken. Gestern rief eine Freundin an und behauptete, dass vermutlich meine Oma ihren Kindern gegenüber gar nicht der Engel war, als der siesich mir präsentierte. Und dass meine Mama als Ältestes dreier Kinder eine schwere Bürde - also, mehrere schwere Bürden - zu tragen hatte. Und ich soll ihr gegenüber nicht so giftig sein.
Irgendwo hat sie da recht. Aber irgendwo ich auch! Frei, erwachsen, selbstständig habe ich mich erst gefühlt, als ich ihr entkommen konnte. Zum Beispiel ins befreundete Ausland ... )
England
Englisch lerne ich in England, da ich in der Schule als Altsprachler nur Latein und Griechisch habe. 1972/73, mit 15 also, gehe ich nach der Überfahrt von Bremerhaven nach Harwich mit der Prins Oberon in Canterbury und Bishop's Stortford zur Schule.
Auf der Überfahrt ereignet sich etwas Unglaubliches. Ein sehr begehrtes Mädchen des Gymnasiums Schulstraße, Heike, kommt in meine Kabine, schließt die Tür ab und beginnt, an mir herumzunesteln, an Stellen, an denen mich bisher noch niemand berührt hat. Außer vielleicht, ich selbst. Ich weiche aus, verlegen, ich empfinde nichts für sie, außer Sympathie. Sie nennt mich Dummkopf, und verläßt das Etablissement enttäuscht.
In Canterbury wohne ich bei Maria Fowles, in Bishop's Stortford bei Pauline und David Butterfield. Klassenlehrerin ist Angela Beardwell. Nach anfänglichem Heimweh liebe ich jeden Tag. Die Engländer sind locker, freundlich, humorvoll, entspannt. Wunderbare, ironische, sich selbst zurücknehmende Menschen. Teilweise fühle ich mich wohler als in Deutschland und weine bitterlich, als ich am Ende des Aufenthalts die Fähre gen Hamburg, die Prins Hamlet, besteigen muss. Ich lerne ein wenig Golf, gehe campen, strawberry picking, tanze mit Pauline zu Abba’s "Dancing Queen" in der Küche, kann Yorkshire Pudding und Scones mit clotted cream bereiten. Ich liebe das cooked breakfast mit poached eggs, sausages und fried tomatoes und verdrücke schüsselweise Winnie-the-Pooh Hunny Pudding, banana flavour. In London sehe ich "Jesus Christ Superstar". Und ich erlebe, wie tolerant und selbstverständlich diese Großstädter mit ihrem Leben umgehen.
Einmal muß ich wegen einer fieberhaften Angina ärztlich behandelt werden. Ich habe keinen Krankenschein und nicht wirklich viel Geld. Der Arzt ist sehr nett. Ich frage ihn nach den Kosten. Er lächelt. "Her Majesty, the Queen, will pay for you!" Ich bin zutiefst beeindruckt.
Meine Erfahrung mit den Engländern war wunderbar. Ein zutiefst selbstbewusstes, dabei liebenswertes und unendlich gastfreundliches und höfliches Volk mit erfrischendem, trockenen Humor. Deutlich anders erging es mir auf einer Klassenfahrt in den frühen 70ern ins Elsaß, bei der ich in einer Bäckerei ein Stück Kuchen erwerben wollte. In Ermangelung von Französischkenntnissen versuchte ich es auf Deutsch mit dem Ergebnis, daß die Verkäuferin, die sich mir zugewandt hatte, nach meinen ersten Worten den Kopf wegdrehte und sich mit der Kundin neben mir befasste. Ende der 60er besuchten Karen, Hansgeorg und ich Amsterdam. Das Anne-Frank-Huis in der Prinsengracht stand auf dem Programm, Mama schärfte mir ein, nicht zu sprechen, sie würde, wenn nötig, mit 'Vati' Englisch reden. Aber, wie Kinder im Allgemeinen und ich im Besonderen so sind: Das Schweigen war mir nicht gegeben, ich fragte etwas wegen eines Exponates, und zu meiner Überraschung wichen die Menschen vor uns zurück, jemand spuckte vor uns auf den Boden, eine Geste, die ich nicht deuten konnte und die Mama mir später erklären würde.
Heirat oder Vati und das Dienstmädchen
Als ich 10 Jahre alt bin, passiert etwas Unglaubliches: Ein Herr, der in letzter Zeit mit seiner Mutter des öfteren zu Gast und mir als Onkel Hansgeorg präsentiert wird, soll von mir, so erfuhr ich eines Abends von Mama beim ins Bett gehen, künftig mit dem Titel „Vati“ angesprochen werden.
Aha. Beim Verlassen des Zimmers nach dem Nachtgebet ( „Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm. Amen, gute Nacht“ Dann folgte eine Aufzählung aller Namen meiner Lieben als Fürbitte... ) kehrt ‚Vati‘ noch mal zurück: „Stell Deine Hausschuhe gefälligst ordentlich hin. Deine Mutter ist schließlich nicht Dein Dienstmädchen.“
Mein Gefühl, daß mit diesem Tag mein Leben eine entscheidende Wendung erfuhr, sollte sich bewahrheiten ...
Großmama
Seine Mutter, Anna Elisabeth Hamann, war im Gegensatz zum handfesten Pragmatismus, zur Herzenswärme, zur Natürlichkeit und Dünkellosigkeit Irmgard Ottos eine feine, kultivierte, manierierte, gebildete Dame, die fließend Englisch und Französisch sprach und meine Mutter unverhohlen und abgrundtief hasste, da diese ihr den Sohn wegnahm. Sie kam mit ihrem Sohn oft zu Besuch, meist um die Mittagszeit, um von der Großzügigkeit meiner Großmutter zu profitieren und sich, nennen wir es beim Namen, kostenlos durchzufressen. Ihr Auftreten war anmaßend, war sie doch Gattin des deutschen Konsuls in Sierra Leone gewesen, hatte lange in Afrika gelebt, besaß faszinierenden Elfenbeinschmuck, insbesondere einen breiten, schlichten, soliden Armreif, für den mit Sicherheit ein bedauernswerter Elefant sein Leben hatte lassen müssen, und hatte die Auffassung ihres Gatten, daß man die schwarzen, von Natur aus faulen Dienstboten am effektivsten mit der Peitsche antreibt, durchaus geteilt, wogegen Irmgard, die vor Aufregung zitterte, wenn Frau Hamann mit Sohn vor der Türe stand, kein Rezept hatte. Ihr war ein derartiges Benehmen fremd. Irmgard war ‚Oma‘, Anna Elisabeth ‚Großmama‘ für mich. Ich kam trotz allem mit ihr sehr gut aus, es mangelte uns nie an spannenden Gesprächsthemen. Wir hörten an zwei Nachmittagen eine Einspielung von Beethovens Missa Solemnis, mit Karl Böhm als Dirigent. Nach einem Schlaganfall, dessen Folgen sie mit eherner Energie forttrainierte, lebte sie, viel bescheidener und menschlicher geworden, in einer Seniorenwohnanlage in der Schillerstraße, in der ich sie regelmäßig nach dem sonntäglichen Kirchgang besuchte. Als sie 1978 überraschend starb, trauerte ich sehr um sie - wenn auch weniger liebe-, mehr respektvoll. Ja, sie war eine Dame. Ich mochte sie. Bewunderte sie? Irgendwas dazwischen, denke ich. Den Grund dafür kann ich nicht nennen. Vielleicht mag man manchmal auch Menschen, die zur Sympathie nur wenig Anlaß geben.
Hansgeorg
Hansgeorg hatte mit Ausnahme seiner Internatszeit an einer Hermann-Lietz-Schule in Scheeßel 43 Jahre an der Seite seiner Mutter gelebt, arbeitete im Hamburger Bankhaus Herms&Co.. Seinen ursprünglichen Berufswunsch, Zahnarzt zu werden, hatte er, geboren 1926, dem Weltkrieg opfern müssen. Er war ein gut aussehender Mann, allerdings ein seelischer Krüppel. Er saß tagelang vor irgendwelchen Bilanzen, Pfennige suchend.
Der zehnjährige Peik geht zu seinem Sparschwein und legt ihm zwei Ein-Pfennig-Münzen auf den Schreibtisch. Er erntet Häme dafür. Das nütze nichts. Die Bilanzen hätten zu stimmen.
Ich glaube, ein wirklich erotisches Verhältnis hatte er nur zu Zahlen. Meine Mutter, die ihn geheiratet hatte, weil „eine alleinstehende Frau mit kleinem Sohn anrüchig wirkte“, berührte er nie. Diesen Umstand beichtete mir Karen in einem der wenigen wirklichen Gespräche zwischen Mutter und Sohn, kahlköpfig nach der Bestrahlung der Hirnmetastasen, kurz vor ihrem Tod. Die wenigen sexuellen Erlebnisse, die sie nach ihrer Scheidung, dies allerdings wiederholt, erlebt hatte, verdankte sie dem griechischen Bademeisters des Hotels auf Kreta, das sie einmal im Jahr frequentierten. Unvorstellbar! Meine Mutter wartet, bis ihr Mann eingeschlafen ist, um dann auf Zehenspitzen, und voll sexueller Energie, aus dem Zimmer zu schleichen!
Ist das eine klassisch deutsche Eigenschaft? Immer nur darauf achten, dass die Fassade stimmt? Die glückliche, erfolgreiche Familie, Vater-Mutter-Kind-Modell? Ich war glücklich in den Phasen, in denen ‚er‘ nicht zugegen war. Dann durfte es Steckrüben geben. Man wurde nicht ununterbrochen zum Sparen angehalten ( „Dreh die Heizung nicht so weit auf! Mach das Licht aus! Lass nicht so viel Wasser laufen!“ ). Ja, ich weiß. Aus heutiger Sicht ökologisch gedacht, so scheint’s. Allerdings war das damals kein Thema. Es handelte sich um Geiz. Einfach nur Geiz.
Erziehung
Ich wurde durch ihn plötzlich streng erzogen. Aus heiterem Himmel. Darauf hatte man mich nicht vorbereitet. Teil Eins meines Lebens war ein liebe- und fantasievolles, nicht enden wollendes Spiel gewesen. Einige Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens hatte ich ja auch bereits verinnerlicht, zum Beispiel, im Bus aufzustehen, wenn ein älterer oder behinderter Mensch oder eine schwangere Frau den Platz benötigte - auch wenn mir anfänglich nicht klar war, woher Mama wusste, dass eine Frau schwanger war. Respekt zu haben vor Autorität und Wissen. Mir beim Essen nur so viel zu nehmen, wie ich aufessen konnte. Dummheit zu verachten, wenn sie nicht gutmütig war ... Mein Verhalten wurde nur ein einziges Mal mit einer Ohrfeige bedacht, als ich aus der Schule heimkam, Mama fragte, ob mir das Pausenbrot geschmeckt habe, und ich beichtete, daß ich es nicht gemocht und weggeworfen hätte. Karen bebte vor Zorn. Sie habe als kleines Mädchen nach dem Krieg Hunger gelitten, und der Herr Sohn schmeiße Brot weg!
Und nun? Das nächste Leben, bitte! Mir wurde verboten, meine Mutter beim Vornamen zu nennen. Bei Tisch zu reden. Den Teller zu füllen und dann wohlmöglich nicht leer zu essen. Und ich wurde gedrillt. Ich bekam zwei Reclam-Büchlein unter die Arme geklemmt, rechts Gottfried Kellers "Kleider machen Leute", links Annette von Droste-Hülshoffs "Die Judenbuche". Diese durften, wenn ich mit Messer und Gabel aß, was ab sofort meine Bestimmung war, nicht zu Boden fallen. Ich lernte, welches Glas für welches Getränk zu wählen war, wie sich das mit der Reihenfolge beim Besteck verhielt ( „immer von außen nach innen!“ ). Ich lernte, daß der Herr immer der Dame vorgestellt wird, es sei denn, der Herr ist ranghöher oder älter. Ich lernte, dass beim Handkuss die Lippen nie wirklich die Hand berühren und dieser nie unter freiem Himmel stattfindet. Und vor allem: „Was Deine Mutter gekocht hat, schmeckt immer köstlich. Iss auf!“
Leider galt daß auch für Buttermilchpudding, den ich so schnell wie möglich in mich hineinschaufelte, sonst hätte ich mich übergeben müssen. Für Hansgeorg selbst galt diese Regel nicht: In Kriegsgefangenschaft hatte er so viel Steckrüben essen müssen, daß er sich deren Zubereitung verbat. Dass ich Steckrüben liebte, fiel nicht ins Gewicht. Auf ihn wurde Rücksicht genommen, nicht auf mich.
Le Petit Prince
Ich stamme aus der Generation, in der Lesen die Hauptbeschäftigung der Kinder war, und ich konnte jederzeit und aus jeder Lage in eine bunte Fantasiewelt entkommen, die von Erich Kästner, James Krüss, Astrid Lindgren, Michael Ende und Otfried Preußler, zudem Enid Blyton und Karl May erdacht worden war, aber auch aus den Schönsten Sagen des klassischen Altertums, den Fabeln von Lafontaine sowie den Germanischen Heldensagen bestand.
An meinem 14. Geburtstag, den ich im „Beau Rivage“ in Locarno in der Schweiz feierte, lag auf dem Gabentisch eine Schallplatte, auf der zwei Sprecher, Leopold Biberti und Valerie Steinmann, mir die Geschichte des Kleinen Prinzen von Antoine de Saint-Exupéry erzählten. Die Geschichte sollte mich nie wieder loslassen. Die Aussagen waren klar und einfach: Behalte ein reines Herz wie ein Kind, sieh hinter die Oberfläche, kämpfe um Liebe und Freundschaft und fühle und lebe die Verantwortung für den oder das, was Du liebst.
Ich hörte diese Schallplatte auf dem guten, alten SK 4 so oft, daß ich lange Textpassagen noch heute auswendig rezitieren kann. Ich kaufte den Text auf Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch, ohne die Sprachen - Englisch ausgenommen - wirklich zu beherrschen, arbeitete mich jedoch tapfer hindurch.
Seit dieser Zeit versuchte ich, Menschen zu finden, die dies Buch verinnerlicht haben. Bekannt ist es vielen, aber „die großen Leute sagten: 'Das ist ein Buch.' Dann stellte ich mich auf seinen Standpunkt und sprach mit ihm über Bridge, Golf, Politik und Krawatten ...“
Schallplatten besaß ich drei: Neben dem kleinen Prinzen noch von Ewald Balser gesprochen eine Mozartplatte für Kinder, „Wolfgang von Gott geliebt“, und den Soundtrack zu dem ersten Kinofilm, den ich im Alter von 7 Jahren, also 1964, im Bali in Cuxhaven sah: „Mary Poppins“ mit Julie Andrews und Dick van Dyke.
Ich verdanke Hansgeorg nicht nur schlimme, sondern auch zwei schöne Erinnerungen, 1972 meine Konfirmation, bei der er eloquent und charmant die Honneurs machte, und mein Abitur, zu dem er mir, der ich gerade die Deutschprüfung bei Herrn Ulrich Granzin auf „Sehr gut“ versemmelt hatte, mit einem DM 50-Schein herzlich gratulierte.
Abitur
Eine Deutschprüfung auf „Eins“ hat es schon lange nicht mehr gegeben. Das komplette Kollegium ist versammelt. Ich bin hervorragend vorbereitet; Themen meiner Prüfung, so ist es vereinbart, sind Erich Kästner und Marieluise Kaschnitz, zudem Novelle, Kurzgeschichte und Hörspiel. Ich betrete mit Granzin den Vorbereitungsraum. Der leicht gelbliche Zettel, auf dem mir in lila Buchstaben die Aufgabenstellung verkündet wird, liegt auf einem Tisch am Fenster mit Blick auf die Abendrothstraße sowie das Gebäude der Stadtsparkasse. Ibsen und Drama. Das Blut schießt mir in den Kopf. Mir wird schwarz vor Augen. Ibsen und Drama? Stelle die zitierte Textpassage in den Zusammenhang des Dramas, charakterisiere die handelnden Personen. Nimm Stellung zu der Frage, inwieweit autobiografische Hinweise in der Handlung zu finden sind. Ich fange an zu arbeiten. Ein ‚Sehr gut‘ ist soeben in unerreichbare Ferne gerückt, aber ich kann immerhin meine Vorzensur, eine gute Zwei, verspielen, wenn ich schweigend dasitze.
Nach 45 min Vorbereitungszeit werde ich in den Prüfungsraum gerufen. „Sehr schade“, beginne ich meine Ausführungen, „dass ich weder das Stück noch den Autor gut genug kenne, um die mir gestellten Aufgaben zu erfüllen. Die vorbereiteten Themen und Inhalte scheinen für Herrn Granzin von minderem Interesse gewesen zu sein.“ Ein Raunen und nervöses Stühlerücken erfüllen den Raum. Ich bin auf heitere Art plötzlich ganz ruhig. Ich schlage mich tapfer, und ich behalte meine Zwei.
Nach dem Verlassen des Raumes hört man zwei Männerstimmen sich anschreien. Granzin, seinem Spitznamen „Lumpi“ alle Ehre machend, kläfft wie ein Dackel, und wird dabei kontrapunktiert durch den volltönenden Bass des Schuldirektors, Dr. Otto Groß.
Ich komme nach Hause. Mama fragt aufgeregt, was es gegeben hat. Ich habe immerhin meine Zwei behalten, für eine Eins hat es nicht gereicht. Tränen der Enttäuschung perlen aus ihren Augen, wortlos dreht sie sich um und verschwindet in ihrem Arbeitszimmer; ja, ich weiß, ich habe einmal mehr versagt und Mama nicht richtig liebgehabt. Dabei hat sie doch immer alles für mich getan, mir ihr Leben geopfert, und ja, sie würde es wieder tun, auch wenn ich undankbar und schlecht sei … Einzig mein Stiefvater gratuliert.
Konfirmation
Will man konfirmiert werden - und jeder will das, denn es hagelt zu diesem Anlass Geschenke, die den Wert der üblichen Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke weit übertreffen - muss man, außer am Montag nachmittags den kirchlichen Unterricht zu besuchen und die 10 Gebote mit Erklärungen, Luthers kleinen Katechismus, ausgewählte Bibeltexte, das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis zu lernen, durch den regelmäßigen sonntäglichen Kirchgang glänzen. Und in diesem „muss-regelmäßig“ liegt das ganze Drama. Wer mag schon tun, was er gezwungenermaßen zu tun hat, und dann gleich noch regelmäßig? Deswegen beschließe ich nach dem großen Ereignis, meine Kirchgänge auf das Weihnachtsfest zu beschränken, wie ja allgemein üblich.
Auf einem Gang in der Schule treffe ich nach ca. sechs Monaten auf meinen lieben, lustigen Pastor Hans-Henning Speckmann, der unumwunden zugibt, wie enttäuscht er von mir sei. Er habe mich doch in die Gemeinde hinein- und nicht aus dieser hinauskonfirmiert.
Seinetwegen - ich habe ihn wirklich sehr gern - besuche ich St. Petri wieder. Ich höre sogar nicht nur ihm, sondern auch seinem Amtsbruder, Pastor Jürgen Rabe, immer aufmerksamer zu. Er lud mich ein, um über seine Predigten zu sprechen. Und aus dem „muss“ wurde ein Wunsch .... Als Höhepunkt werde ich einstimmig als Jugendvertreter in den Gemeindevorstand berufen. Ich mache mir zur Aufgabe, die Abgrenzung von christlichen Sekten zu untersuchen.
( Dahin schauen, wo es wehtut. Das sagte meine Lehrerin fürs Schreiben, die fantastische Annette Wild. Es sich nicht zu einfach machen. Nicht nur die leichten, freundlichen, romantischen Momente betrachten. Begreifen, warum man in bestimmten Momenten so und nicht anders funktioniert. Zum Beispiel, warum ich auf den Geruch von Zimt mit so erheblichem unangemessenen Widerwillen reagiere …
Geld ist alle.
Panik in den Augen meiner Mutter.
Wie bekomme ich den Jungen satt?
Milchreis mit Zucker und Zimt …
Ich mag das Zeug nicht. Aber will ich satt werden, muss ich es herunterwürgen. Und ich will nicht, dass Mama traurig und verzweifelt ist. Das macht mir Angst.
Zimt macht mir Angst.
Na gut. Schauen wir dahin, wo es wehtat …)
Berlin
Ich fühle mich unendlich allein. Ja, auch frei. Endlich der 24/7-Überwachung und der sozialen Kontrolle entkommen. Aber eben auch allein. Die Stadt ist riesig, und schnell, und aggressiv.
Ich werde immer gern zu Festen eingeladen, ich bin giftig und witzig und auch ein wenig bösartig, das mag man gern, um die Stimmung anzukurbeln. Ich benutze Humor als Verteidigungsmechanismus, allerdings auch, um irgendwie sympathisch zu wirken. Und stark. Die Lacher auf meiner Seite zu haben.
Alk oder THC sind nichts für mich. Wenn die Stimmung nur noch von Drogen getragen wird, dann breche ich üblicherweise auf und wünsche mir dennoch, dass einer aufstehen möge, um mich vom Gehen abzuhalten, bleib doch noch, ich mag Deine Nähe, Du bist mir wichtig. Das Wunder passiert nicht, und aus dem bunten Treiben lande ich in meinen 31 qm, die mir ein kaltes und finsteres Zuhause sind. Immer noch mehr Zuhause, zwar, als die Sylter Straße, aber einsam und eben leider leer. Für diese Wohnung überweise ich meinem sehr netten Vermieter, Herrn Friedrich-Wilhelm Dunkel, monatlich DM 179.-. Ich lasse nun immer das Licht an, wenn ich gehe. Ich habe bis heute Probleme, eine dunkle Wohnung zu betreten. Wenn ich weiß, dass ich spät heimkomme, lasse ich das Licht brennen.
Selbst schuld. In meiner Anfangszeit lebte ich in der Forststraße in Steglitz, nahe dem Breitenbachplatz, bei Familie Kretzschmer, reizenden alten Leuten, die mich dadurch sehr in Anspruch nahmen, dass sie immer wieder lieb gemeinte Einladungen aussprachen. Ja, wir wissen ja, Du musst lernen, aber jeden Nachmittag um 17 Uhr trinken wir Tee ... und ich spürte förmlich durch die Wand, dass sie in ihrem Wohnzimmer saßen und auf mein Eintreten warteten, doch auf Konversation mit Menschen um die 75 hatte ich, 20jährig, nur begrenzt Lust. Bei Nacht und Nebel zog ich aus, worüber Edith und Klaus Kretzschmer, die mich immer wieder aufforderten, das formelle „Frau“ und „Herr“ durch ein familiäreres „Tante Edith“ und „Onkel Klaus“ zu ersetzen, was ich nicht konnte und wollte, nie hinwegkamen. Ich kam mir sehr schlecht und egoistisch vor. War mein Gefühl der Einsamkeit eine Art Strafe?
Aber es gibt ja auch nicht nur Trauriges: Von meinem Balkon aus kann ich auf den der Nachbarin sehen. Frau Schmidt.
Ich lerne gerade für eine Klausur. Schmidts selige Witwe betritt die Szene, wie weiland Oma, in ihrer Kittelschürze, und ruft, „Juten Morjen, Herr Student, na, schon mittenmang die Wissenschaft?“ Ich bejahe. „Ham Se Lust uff 'ne frische Bulette? Icke bin jerade an'n Kochen, Rosenkohl und Stampfkartoffeln sind schon fertich!“
„Frau Schmidt, dafür schließe ich Sie in mein Nachtgebet ein! Mindestens!“
„Na, denn komm' Se man rüber! Dafür jibts drei Buletten! Mindestens!“
Das mit der Einsamkeit gab sich dann auch. Ich habe wunderbare Studienfreunde, mit denen ich über die Jahre wesentlich bessere, intensivere Kontakte hatte als mit meinen Klassenkameraden.
Omas Tod
Der Zustand, allein und ungeliebt zu sein, quälte mich genauso, wie er meiner Großmutter, meiner Oma, die kurz nach meinem Abitur, am 14.6.1975, plötzlich und tatsächlich gänzlich unerwartet, starb, zusetzte.
Ich stehe samstags in dem Bad oben in der Sylter Straße. Die Sonne scheint, offenbar steht mir ein schöner Tag bevor, denn ich höre den widerwärtigen Rasenmäher nicht, dessen Brummen bedeutet, dass ich das Gras abzuharken habe, was ich in Hansgeorgs Augen nie sorgfältig genug mache. Ein Wagen fährt vor. Türklingel. Die Tür wird geöffnet, ich höre Mama laut und hysterisch schreien. Der Besucher ist unser Hausarzt, Dr. Hörandel, der verkündet, daß Kurgäste meine geliebte Oma tot in ihrem Bett gefunden haben.
Wir gehen zur Wißmannstraße hinüber. Oma liegt so friedlich in ihrem Bett, zwar hyazinthblau im Gesicht, das sonst wegen der Gurkenscheiben und Niveacreme, die ihr einziges Make up darstellen, eher rosig und im Bereich der Nasenflügel und Bäckchen fein geädert ist. Man spürt, dass sie einfach angstfrei eingeschlafen ist. Ohne Verfall, ohne Schmerzen, ohne Qual. Einfach so. Ihr sanfter Tod ist die Anerkennung eines bei allem Trubel einsamen Lebens, in dem sie nicht immer alles richtig gemacht, in dem sie aber nur das Beste gewollt und ihr Möglichstes gegeben hat.
Freie Universität Berlin
Die Zeit des Studiums verlief einsam, die Anforderungen waren hoch, besonders in der Vorklinik. Ich war leider nicht so perfekt und ehrgeizig wie Heide und Joachim, nicht so genial wie Peggy, nicht so durchgeknallt wie Fritz, dessen Liebe zur Neurochirurgie so weit ging, daß er in der Badewanne seiner Wohnung in der Lilienstraße 7, gegenüber dem Botanischen Garten, immer 5-6 menschliche Gehirne schwimmen hatte. Mit Heide paukte ich Chemie, stur nach Karteikartensystem, das Physikum bestand ich ganz gut, das erste Staatsexamen musste ich leider wiederholen, weil's so schön war. So ein Mist. 60 % hätte ich gebraucht. 58,8% hatte ich. Woran lags? An der amyotrophen Lateralsklerose. Keine Ahnung von dem Mist. Pech.
Mama weinte am Telefon, aber darauf war ich vorbereitet. „Junge, was tust Du mir an“, schluchzte sie. „Was habe ich Dir getan? Du hast immer alles bekommen! Ich habe doch alles gegeben, reicht das denn nicht?“
Doch, mir reichte es. Schon lange. Immerhin war ich endlich in der Lage, sie einfach auszulachen und den Hörer auf die Gabel zu werfen.
Berlin (West) als Studienort war ein sicherer Hort vor der Bundeswehr, die mich zwar gemustert, anlässlich meiner Krankenpflegeausbildung und dann, nahtlos hintereinander, zum Studium vom Wehrdienst zurückgestellt hatte. Ich erhielt immer wieder eigenartige handgeschriebene Kuverts von irgendeinem „Klaus Hoffmann, Soundsostraße, Hannover“, in denen meist eine Aufforderung der Bundeswehr zum Einreichen einer Semesterbescheinigung lag. Weswegen ich das denn immer noch täte, fragte mich der Studienberater. Die Bundeswehr hätte hier nichts zu sagen. So unterließ ich den albernen Verwaltungsakt.
Die kulturelle Szene war prall gefüllt. Als Student genoss man mannigfaltige Ermäßigungen, man konnte für DM 5.- in die Oper. Ich freundete mich mit Florian an. Florian trat regelmäßig in einem Klub in Kreuzberg als Travestiekünstler zusammen mit seinem Lebensgefährten auf und war ein unfassbar lieber Mensch. Leider überlebte er die erste AIDS-Welle nicht. Ich habe versucht, ihm in meinem 2. Roman ein kleines Denkmal zu setzen. Also, falls ich jemals einen Verlag finde, heißt das.
Noch preiswerter war es im Osten, vom Zwangsumtausch mal abgesehen, der ab dem 13.10.1980 vom DM 6,50 auf DM 25,- angehoben wurde. Dafür konnte man preiswert Fachbücher kaufen, für MdN ( Mark deutscher Notenbanken, später Mark der DDR ) 3,50 in sehr guten HO-Restaurants dreigängige Menüs verdrücken und hinterher noch ins Berliner Ensemble oder die deutsche Staatsoper Unter den Linden gehen. Den längsten Kontakt hatte ich zu Lutz Altmann, über den ich die Bekanntschaft zu einem netten Polen, Dariusz Bednarczuk, machte. Leider verloren sich diese Kontakte, originellerweise mit dem Fall der Mauer 1989.
Das zweite Staatsexamen war ein Triumphzug, ich war wirklich brillant. Schade, dass ich das von mir selbst sagen muss. So ein Satz wirkt besser, wenn jemand anders ihn äußert. Egal.
… und dann kam das Praktische Jahr. Ich durchlitt vier Monate Chirurgie im Behring-Krankenhaus in Zehlendorf, bis mich der Chefarzt Professor Dohrmann an die Anaesthesie-Chefin Frau Dr. Pohlhaus, liebevoll ‚Elli‘ von allen genannt, auslieh. Das machte mir Spaß. Sogar soviel Spaß, dass ich versuchte, eine Stelle auf der Anästhesie im Moabiter Krankenhaus … ok, erzähle ich etwas später.
Es folgten grauenvolle vier Monate Innere Medizin im Krankenhaus Neukölln, Station 33, Leukämieabteilung, Chefärztin Frau Professor Irene Boll, die wegen ihres hinkenden Gangs aufgrund ihres Klumpfußes an Mathilde von Zahnd in Dürrenmatts „Physiker“ erinnerte, und war dort dem aggressiv-giftigen Stationsarzt Theo Kurzke unterstellt.
Ich hatte die Aufgabe, bei allen dreißig Patientinnen täglich Blut abzunehmen, was damals nicht unbedingt zu meinen Talenten gehörte. Die Patientinnen meinten, sie seien durch ihre Erkrankung doch wirklich gestraft genug, da müsse nicht auch noch ein unfähiger Student die Qual vergrößern. Theo fluchte. Wenn ich unbedingt einen Beruf ausüben wolle, bei dem man einen weißen Kittel trägt, solle ich doch lieber Friseur werden. Vom gemeinsamen Frühstück sowie den Besprechungen wurde ich dadurch ausgeschlossen, dass man grinsend behauptete, es sei am Tisch kein Platz mehr frei. Gespräche verstummten, sobald ich einen Raum betrat, heute hätte man das vermutlich „Mobbing“ genannt. Da rettete mich ein Oberarzt. Er suche dringend einen Helfer für die Endoskopie. Ich kugelte mir fast die Schulter aus, weil ich mich so heftig meldete. Ich durfte gehen. „Auf Wiedersehen“, sagte ich höflich. „Eilt aber nicht so“, entgegnete Theo Kurzke.
Der Oberarzt der Endoskopie pflegte einen freundlichen Stil, er erklärte ruhig und sachlich alle Handgriffe der ERCP und weihte mich in die Kunst der Venenpunktion ein, so lange, bis ich mir einen wirklich hohen Grad manueller Geschicklichkeit erwarb.
Am 6. Juni 1983 kaufte ich im Kiosk neben einem Kaffee zur Pausenzeit einen "Spiegel", der aufmachte mit AIDS, die rätselhafte Krankheit, und las für meine DM 4.- über die neue, tödliche Erkrankung, die die schwule Szene in Amerika in Angst und Schrecken versetzte. Keine 14 Tage später gab es den ersten Erkrankungsfall in Berlin. Das Leben änderte sich, die unbeschwerte Promiskuität bekam ein Geschmäckle von Unsicherheit und Risiko.
Das dritte Trimester verbrachte ich in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, liebevoll ‚Bonny's Ranch‘ genannt, dem psychiatrischen Landeskrankenhaus. Nach schwierigen Einsätzen auf der Forensik und der Kinderabteilung erholte ich mich auf der „Geschlossenen Frauen“ und fühlte mich dort akzeptiert. Es war sehr anstrengend, es gab aber auch heitere Episoden. So stand bei der Visite eine alte, schizophrene Patientin am Fenster und sah hinaus. „Wo sind wir hier“, fragte sie unvermittelt in unser fachliches Gespräch. „In Wittenau, Frau Müller!“
„Oh, sagen Sie bitte Zoologischer Garten Bescheid? Da muß ich raus!“
Ich lernte Stricken, hatte „meine“ Patienten, schrieb Gutachten und kam mir wie ein richtiger Stationarzt vor, weswegen ich auch gehofft hatte, dort eine Facharztausbildung zu ergattern.
Mit der Stationsschwester Edith verstand ich mich prima, wir gingen meist nach gemeinsamer Frühschicht auf einen Salat zum Italiener am Savignyplatz. Eines Tages - wir stiegen gerade die S-Bahnhofstreppe hinab - wurden wir Zeugen eines schlimmen Unfalls. Ein Motorrad prallte auf einen PKW, der Fahrer flog ein Stück durch die Luft, Menschen schrieen und rannten umher ... Edith, jeder Zoll deutsche Krankenschwester, und ich rannten auf den Motorradfahrer zu, um erste Hilfe zu leisten. „CUT!!! AUS!!! Wer hat die Idioten durchgelassen?“ brüllte eine wütende Stimme. Gelächter am Set.
Vater
Im Mai 1984 bestand ich mein Staatsexamen, 3. Prüfungsabschnitt, und erhielt im Juni meine Approbation als Arzt. Ich hatte meinem Vater Jürgen für die regelmäßige Zahlung des Unterhalts gedankt, ihn von der Beendigung des Studiums informiert und ihn, da ich noch keine Stelle hatte, gebeten, mich nach Möglichkeit noch etwas zu unterstützen. Außerdem hatte ich mir immer gewünscht, meine Geschwister kennenzulernen. Jürgen machte es mir dieses Mal besonders leicht: Er lud mich nach Hemmoor in der Nähe von Stade, wo er seine Anwaltskanzlei betrieb, ein.
Ich sitze im Regionalzug der Deutschen Bahn, der mich sonst nach Cuxhaven, jetzt nach Hemmoor fährt. Einige Stationen eher muss ich das schmutzige Abteil mit den nach Dieselöl riechenden graublau gestreiften Polstern verlassen. Ich bin nervös und spiele mit den Aschenbechern, die man aus den hochklappbaren Armlehnen herausziehen kann. Ich habe nichts essen können, meine Hände sind feucht, mein Herz klopft.
Wie er wohl sein wird?
Werde ich ihn überhaupt erkennen?
Was sagt man zu seinem Vater, den man nur aus einigen Schriftsätzen und durch die Schilderungen der Mutter „kennt“?
Über den Sitzen, unter dem Gepäckträger aus goldfarbenem Metall, hängen drei Holzrahmen, rechts und links Neuschwanstein und der Bodensee, so schön ist Deutschland, fotografieren Sie mit Agfa, in der Mitte ein Spiegel, den man um einige Grad neigen kann. Ich versuche, mich zu erkennen.
Was wird er in mir sehen?
Werden wir eine gegenseitige Enttäuschung hinnehmen müssen?
Dann geh doch zu Deinem Vater, der ohnehin kein Interesse an Dir hat, Du wirst ihm leider sowieso immer ähnlicher ... Wirklich?
Und: Ist das gut?
Die Bremsen des Zuges quietschen mürrisch-unwillig und anhaltend, die sich verlangsamenden Bilder der flachen norddeutschen Landschaft durch die schmutzgetrübten Fenster kündigen das Eintreffen des Zuges an.
Ich bin am Ziel meiner Reise.
Ich bin am Ziel.
Tatsächlich.
Endlich am Ziel ...
Ich habe einen Vater. Ich bin jemand. Ich bin ein Sohn, der endlich seinem Vater gegenübersteht und von diesem in die Arme genommen wird. „Peik“, sagt er zu mir, wie in meinem schönsten Traum, und „endlich“.
Er nennt mich bei meinem Namen. Peik. Ja. Das bin ich. Ich bin Dein Sohn. Ich möchte mich in Deinen Armen verkriechen, ich möchte klein sein, hochgehoben werden wie von Uwe, nie mehr losgelassen werden. Halt mich fest, bitte. Gib mir von Deiner Wärme, und ich werde nie wieder Angst haben. Ich habe einen Vater. Ich habe einen Vater, in dessen Gesicht ich das Meine erkenne. Von Karen habe ich die Hände und die Zähne, von Jürgen alles andere. Ich habe einen Vater, der mich willkommen heißt, in seinen Mercedes einsteigen läßt und mit mir nach Hause fährt. Nach Hause. Ich komme nach Hause! Ich war lange fort, so lange, 27 Jahre, aber jetzt bin ich ja da, und alles wird gut, denn ich bin bei meinem Vater, endlich. Er umarmt mich, er rechtfertig sich für die verlorene Zeit, die nicht mehr nachzuholen ist wie eine verpasste Zirkusvorstellung, aber das macht mir nichts aus, das ist doch nicht mehr wichtig. Ich bin doch jetzt zu Hause, bei meinem Vater, da gibt es nichts mehr zu verzeihen. Wir hören uns sein Lieblingskonzert, das 2. Klavierkonzert von Rachmaninow, an, das ich sofort erkenne, da es auch mein Lieblingskonzert ist. Ich halte die Luft an. Aus Angst, die Magie dieses Augenblicks könnte zerplatzen wie eine buntschillernde Seifenblase. Wir sind eben Vater und Sohn. Sohn und Vater, Jürgen und Peik.
Wie oft habe ich mir das ausgemalt. Wenn ich nachts nicht einschlafen konnte. Mich in den Schlaf weinte. In meiner Fantasie hat er mich vom Zug abgeholt, wir sind nach Hause gefahren, wir essen belegte Brote und Gürkchen und Tomaten und trinken schwarzen Tee. Ich träume, das alles ganz selbstverständlich ist, alles geschieht so, wie wir es immer tun, wenn ich zu meinem Vater heimkehre.
Ich erzähle mein Leben, ich rede und rede. Er nimmt mich in den Arm. Er freut sich. Er interessiert sich. Hauptsache, ich würde glücklich werden, lacht er. Aber das bin ich schon...
Ich bekam die Adressen von Mark, Timm und Imke. Nur Timm meldete sich. Wenn die Zeit reif würde, so schrieb er auf die Ansichtskarte, würden wir uns kennenlernen.
Es war im Sommer 1990, ich war gerade nach Hamburg, in mein nächstes Leben, gezogen, als in unserer Wohnung in der Alten Holstenstraße in Bergedorf das Telefon klingelte. Ich hob ab.
„Volmer!“
„Hier auch.“
Es war Timm. Unser Vater habe einen Schlaganfall gehabt und weigere sich, den Anordnungen der Ärzte Folge zu leisten. Ob ich mit ihm nach Stade fahren wolle ...
Timm ist wunderbar. Sensibel, schön, klug. Klug? Bitte! Hochintelligent! Mit Harvard-Degree. Schlank, sportlich, muskulös. Ein Mensch von nicht enden wollender Freundlichkeit und Herzenswärme. Dabei ein sehr strukturierter, klarer, analytischer Denker. Humorvoll, tolerant. Viel besser als ich. Mein Bruder. Wir einigten uns spontan, das ‚Stief‘ aus unserem aktiven Wortschatz zu streichen.
( So langsam wird es Zeit, dass der Junge erwachsen wird. Und sich mal von diesem ewigen Gejammer freimacht. Ist doch wirklich wahr, oder? Schließlich haben wir alle unsere traurige Geschichte. Und, wie Camus so treffend sagt, jeder Mensch ist - ab einem gewissen Alter - für seinen Gesichtsausdruck selbst verantwortlich. Glücklichsein kann man lernen, Freunde. Lächelt doch morgens im Bad mal aufmunternd Eurem Spiegelbild zu! Wenn es uns gut geht, empfiehlt das Gehirn dem Gesicht einen freundlichen Ausdruck, inclusive Lächeln. Das Ganze funktioniert aber auch umgekehrt. Wenn man ein Lächeln produziert, schaltet das Gehirn auf „vermutlich glücklich“. Also bitte! Kein Selbstmitleid! Keine Leichenbittermiene! So würde Euch kein Arbeitgeber einstellen …. )
Stellensuche
Nach Beendigung meines Studiums an der FU Berlin suchte ich verzweifelt eine Stelle. Die Transformation vom Medizinstudenten zum Arzt war zwar auf dem Papier, nicht aber im wirklichen Leben vollzogen. Ich hielt mich für besonders geeignet, eine Stelle im Fach Psychiatrie zu bekleiden, und versuchte es in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Wittenau, die die einzig freie Stelle lieber Konstantin Krebs, dem Sohn zweier niedergelassener Psychiater, zuerkannten. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie „Wiesengrund“ in Hermsdorf, Chefarzt: Der leicht effeminierte und immer nach „Opium“ von Yves Saint Laurent duftende, Antonio Spilimbergo, wollte mich, hatte aber keine Stelle zur Disposition. Ich schrieb, bescheiden geworden, auch an andere Fachbereiche 150 Bewerbungen und erntete vier Einladungen zu Vorstellungsgesprächen. Die Erste führte mich ins Auguste-Viktoria-Krankenhaus auf die Neurologie. Der Chefarzt entpuppte sich als arrogantes Arschloch. „Wir sind heute, Herr Kollege, in der beneidenswerten Lage, unsere Mitarbeiter aussuchen zu können.“ Ich erhob mich, wünschte weiterhin recht viel Freude beim Suchen, und verließ den Raum.
Die Zweite sollte mich gleich um 8 Uhr im DRK-Krankenhaus Jungfernheide die Chefärztin der Inneren Abteilung besuchen lassen.
„Sie haben ja noch gar keine Berufserfahrung!“
„Wie aus meinen Unterlagen deutlich hervorgeht, ja.“
„Aber wir brauchen jemanden mit Berufserfahrung!“
Wie weiland der Nil, trat ich über die Ufer.
„Und dafür, dass Sie nicht lesen können, musste ich heute um 6 Uhr aufstehen?“
Ich erhob mich so heftig, dass der Stuhl umfiel. Ich verließ ihr Zimmer, die Tür so kräftig, wie ich es vermochte, zuschlagend. Ja, ich bitte um Entschuldigung. Gelegentlich habe ich immer noch ein kleines Problem mit meinem Jähzorn.
Bei Professor Mario Brock, Neurochirurgie, Klinikum Steglitz, hatte ich ein gutes Gefühl, aber ich war ihm dann doch zu neurologisch-psychiatrisch, nicht chirurgisch genug. Jahre später fuhren wir im Fahrstuhl zusammen. Irgendwie käme ich ihm bekannt vor. Genau. 1984 wollten Sie mich nicht. Wo ich jetzt arbeite? Auf der 008, bei den Urologen. Das ist doch kein Beruf für einen erwachsenen Arzt, Sie fangen bei mir an! Nein, leider zu spät!
Aber er grüßte mich fortan herzlich und lud mich einmal in der Kantine zum Essen ein. Fast wäre ich doch noch schwach geworden.
Die letzte Chance hatte ich auf der Anästhesie des Krankenhauses Moabit in der Turmstraße. Außer mir gab es eine Mitbewerberin, der Raum war voller Menschen. Die Chefärztin sagte, dass jeder Mitarbeiter ein Mitspracherecht hätte. Na fein. Lauter Damen und Herren in Birkenstocksandalen und selbstgestrickten Socken, an Kettchen um den Hals Symbole der Friedensbewegung, Kriegsdienstverweigererzeichen und Schwerter zu Pflugscharen, die die Thermoskannen mit Kräutertee öffneten und sich vorstellten mit „Ja du, ich bin der Heiner, ich bin hier Oberarzt, und ich muß gleich noch zum Kreativ-Workshop!“ … Die Mitbewerberin in lila Overall und India-Bluse mit dem selbstgeflochtenen Freundschaftsarmband am linken Handgelenk war alleinerziehende Mutter, ich kam wie ein arroganter Schnösel rüber, der gerade mit dem Studium fertig ist und Mami und Papi auf der Tasche liegt.. Ich hatte mich vorher einem Friseur ans Messer geliefert und mich für die Gelegenheit mit Jackett und Krawatte ausstaffiert, was in diesem Rahmen eher misstrauisch beäugt wurde.
Ja, ich war ein guter Schüler. Ja, ich habe auch die Ausbildung zum Krankenpfleger erfolgreich .... Mein Vater ist Anwalt ... Politisch .... liberal?
Eisiges, fast feindseliges Schweigen.
„Und außerdem war er sogar Stipendiat des Instituts für Begabtenförderung der - Konrad-Adenauer-Stiftung!“, rief der Oberarzt, der Reinhard Mey peinlich ähnelte, wobei er das Wort „Begabtenförderung“ durch spöttisch gespitzte Lippen mit einem ironischen Unterton versah und den Namen des Altbundeskanzlers nach einer winzigen, dramatischen Pause mit herabgezogenen Mundwinkeln aussprach! Igitt. Alle starrten mich mit Abscheu an. So einer bist Du also! Das hätte man sich ja denken können!
Die neben mir Sitzenden rückten von mir ab. Eine Krankenschwester tupfte sich den Schweiß mit einem Recycling-Tuch aus der buschig behaarten Achsel. Ja, schon recht, die Frau brauchte die Stelle natürlich dringender.
Konrad-Adenauer-Stiftung
Das Institut für Begabtenförderung (IBF) der Konrad-Adenauer-Stiftung galt als bestgefördertste Studienstiftung außer der des Deutschen Volkes. Die Seminare fanden meist in Lohmar bei Bonn, im Kloster Walberberg, statt, in dem Pater Basilius Streithofen regierte. Der Mann hieß nicht nur so. Er war erzkonservativ, erzkatholisch, dialektisch hervorragend geschult, kurz, es war eine Freude, mit ihm zu debattieren, und es war durchaus keine Schande, ihm zu unterliegen. ( Also, das hoffe ich zumindest. Ich konnte gegen ihn nie gewinnen, so sehr ich es auch versuchte! ) Es ist immer wieder erstaunlich, zu wieviel umfassendem Wissen und Bildung ein Gehirn in der Lage ist, wenn man es nur zwingt.
So ermöglichte mir die Stiftung mit In- und Auslandsseminaren die Begegnung mit hervorragenden Persönlichkeiten, Eberhard Diepgen, Margaret Thatcher, dem damaligen Lord Mayor of London, dem französischen Präsidenten Valéry Giscard-d'Estaing, um nur einige Namen zu nennen. Aber das war noch nicht einmal das Wichtigste. Am schönsten fand ich die Begegnung mit Kommilitonen aus anderen Fachbereichen, Politologie, Philosophie, Psychologie, Soziologie und natürlich Rechtswissenschaften. Freundschaften, die teilweise jahrelang hielten, an erster Stelle denke ich hier an Johannes „Hannibal“ Hahn, der, aus Gröbenzell stammend, von der philosophischen Fakultät der Uni Heidelberg kam, und der Bremer Peter Robert Kather, der in Augsburg Iura studierte, und später erst in München, dann in Düsseldorf Patentanwalt wurde.
Ich hatte meine Studienfreundin Heide Rodewald auf Peter aufmerksam gemacht. Sie hatte sich zu einem Seminar angemeldet, das mich nicht interessierte; ich wusste aber, dass Peter fahren wollte. Nach ihrer Rückkehr bestätigte sie, dass Peter ein ganz außergewöhnlicher Mensch sei, und so war es nicht verwunderlich, daß wir irgendwann beschlossen, Peter in Augsburg gemeinsam zu besuchen, um ein schönes Wochenende zu dritt zu verbringen.
Wir holten mit Heides Wagen Peter vom Institut ab, er umarmte sie und rief mir, sicher im Spaß, über ihre Schulter zu, „Schade, dass Du mitgekommen bist!“
Tja. Da steht man nun, mutterseelenallein, und bekommt akut Liebe entzogen. Einfach gehen? Bloß wohin? So viel Geld habe ich nicht, und ich kenne mich auch nicht aus!
Die restliche Zeit in Augsburg war die Hölle für mich, ich hatte leider noch nicht einmal genug Geld, um stante pede nach Berlin zurückzufahren. So lief ich entweder hinter den beiden her oder ihnen voraus, auch wenn mir zur Entkrampfung der Situation ( „Stell' Dich doch nicht so an!“ ) nüchtern versichert wurde, es sei ja nur ein Scherz gewesen. Der Kontakt zu Peter brach ab, und lebte erst anlässlich der Heirat von Heide und Michael wieder auf, da ich ihm und seinem Lebensgefährten einen Schlafplatz anbot.
Franziskus-Krankenhaus
Gerhard Bamberger, ein Freund und Wissenschaftler aus Wien, kam mich besuchen. Ich war an Ablehnung gewöhnt, in jeder Hinsicht, aber ich wollte endlich Schluss machen können mit den ewigen Nachtwachen im Paulinenkrankenhaus in Neu-Westend.
Was ich denn schon unternommen hätte, fragte Gerhard bei einem Kaffee. Ich berichtete. Und Tageszeitungen? Nein, nur Fachzeitungen, und aufs Geratewohl.
„Ist eine Trafik in der Nähe?“
Er stand auf, querte die Ansbacher Straße zum gegenüberliegenden Kiosk, und hielt, zurückkehrend, eine „Berliner Morgenpost“ und einen „Tagesspiegel“ in der Hand. Im Tagesspiegel stand eine Anzeige, dass das Franziskus-Krankenhaus in der Burggrafenstraße einen urologischen Assistenzarzt suchte.
Das Krankenhaus war ca. 5 Gehminuten entfernt. „Da gehen wir jetzt hin!“ Aber ich habe nichts dabei, keine Unterlagen, nur T-Shirt und Jeans und Turnschuhe ... „Macht nix, pack’mers!“
Frau Döpping, die Chefsekretärin, schmolz angesichts des Feuerwerks an Wiener Charme und Schmäh wie Nockerln an der Sonne. Gehn’s, gnädige Frau, küss die Hände, mein Freund hier braucht die annoncierte Stelle dringend, die Bewerbung bringen wir mit zum G'spräch, das - wann sagten Sie gleich, stattfinden soll?
Morgen? Donnerwetter! Nicht nur apart, auch noch eine Dame mit Entschlusskraft! Küß die Hand, gnädige Frau!
Er brachte ihr ein „aber geh, das g'schamige Sträußerl“ mit, ich dem Chefarzt, Professor Arne Andreas Kollwitz ( „Gesundheit ist der Zustand unentdeckter Krankheit“ - „Wenn wir dem Patienten nicht nützen können, sollten wir ihm wenigstens nicht auch noch Schaden zufügen“ ), dem Enkel von Käthe, die Bewerbung. Ich stellte mich dem Verwaltungsleiter ( „Lehrjahre sind keine Herrenjahre!“ ), den beiden Oberärzten, Dr. Hindermann ( „Urologe? Sind Sie sicher? Da verdient man doch nichts!“ ) und Dr. Witt, der Stationsschwester, der sehr lieben, runden, kordialen Ehrw. Schwester Konradine, vor; das letzte Wort hatte Mutter Oberin, die Hochwürdige Schwester Georgia. Die Einstellung war dann nur noch eine Formsache.
Da war ich nun in der Urologie, meinem nächsten Leben, angekommen, viel lieber wäre ich ja Psychiater geworden, aber ich war kniefällig dankbar, endlich eigenes Geld zu verdienen und eine Aufgabe zu haben.
Dr. Hindermann liebte mich und hasste alle sonst. Ich trottete als sein Assistent und Adlatus hinter ihm her und durfte bereits nach einer Woche eine Vorhaut operativ entfernen, nach vier Wochen führte ich unter seiner Anleitung eine Nierenbeckenplastik durch. Nach diesem Eingriff bemerkte ich ein entscheidendes Moment, das mein Leben und meine Lungen verändern sollte.
Raucher
Ich fand es schrecklich, von den OP-Schwestern zum Auf- oder Ablegen häufig übergewichtiger Patienten, die von der Narkoseärztin, Frau Scholz, im Bett eingeleitet worden waren, auf den OP-Tisch oder von diesem wieder herunter, herangezogen zu werden. Ich gab mir den Anschein intensiver Beschäftigung mit der Kaffeetasse, was weder Christa noch Gaby beeindruckte. „Stell' hin, hilf mit!“ Als zweiten Versuch genehmigte ich mir ein belegtes Brot, wurde aber ebenso zum Helfen kommandiert wie bei der voraufgegangenen List.
Nach der gelungenen Nierenbeckenplastik nun drängte der Oberarzt mir eine filterlose Rothändle auf, mein dezenter Hinweis, ich sei Nichtraucher, verhallte unbeachtet. Widerwillig schob ich das Ding zwischen meine Lippen, die Glut des Feuers fraß die ersten Millimeter, ich kämpfte mit den Tabakkrümeln auf der Zunge, dem Schwindelgefühl im Kopf und dem Hustenreiz im Kehlkopf. Christa betrat den Raum, erneut auf der Suche nach Lagerungshelfern. „Ach, ihr raucht gerade“, stellte sie fest. „Na gut, raucht erstmal auf!“
An diesem Tag kaufte ich meine erste eigene Schachtel Zigaretten der Marke „Astor“.
Dr. Witt war sehr streng mit mir. Die Sätze „Bitte helfen Sie mir nicht, es ist allein schon schwierig genug!“ und „Erzählen Sie mir nicht, was sie für Probleme haben, erzählen Sie mir, wie Sie sie lösen“, klingen mir heute noch im Ohr. Am schlimmsten war es, wenn er bei den ersten Blasenspiegelungen hinter mir stand, auf den Fußspitzen wippend, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Gehts, oder soll ich übernehmen?“
Marta D. ( Name wurde natürlich geändert )
Ich betrete den Behandlungsraum des Chefs, weil ich einen der dort deponierten Spülkatheter benötige. Eine Frau liegt auf der Trage, auf der Nase eine riesige Brille mit getönten Gläsern, knallroter Lippenstift, die dunklen Haare zu einem großen Knoten am Hinterkopf gedreht, wie Oma, an den Ohren große, goldene, gedrillte und teilweise mattierte Kreolen, mit Strickjacke, hellgrauer Seidenbluse und einem Tweedrock, an den Füßen rotbraune Stiefelchen mit kleinem Absatz, offenbar eine Privatpatientin. Trotz einiger Körperfülle wirkt sie zart, zerbrechlich beinahe, aber mitnichten schwach, sondern voll Energie. Ich sage höflich guten Tag, und in diesem Moment erkenne ich sie!
„Sie sind Marta D.“, stoße ich hervor.
„Ich weiß, mein Junge“, lächelt sie mild.
„Ich habe Sie gerade mit Antje Weisgerber und Martin Held im Schloßparktheater in „Einmal Moskau und zurück“ gesehen, Sie waren großartig, auch im Schillertheater mit Carl Raddatz, in „Ne scheene Jejend is' det hier“, und in der Blechtrommel, und in Es geschah am helllichten Tag .... und jetzt liegen Sie hier einfach so vor mir! Ich bin Ihr Fan!“
Sie freut sich ehrlich. „Wann immer Sie ins Theater möchten, verlangen Sie an der Abendkasse die Steuerkarten von Frau D.“
Mir dreht sich alles im Kopf, ich habe das Gefühl, kaum atmen zu dürfen, um nicht aufzuwachen. Ich danke ihr herzlich, haste zum Sekretariat, sage Frau Döpping, ich sei mal kurz außer Haus, Blumen kaufen. Das Sträußchen, das ich erwerbe, besteht in der Hauptsache aus kleinen rosafarbenen Teeröschen. Ich eile den Weg zurück und reiße die Tür zum Untersuchungsraum auf. Er ist leer.
Frau Döpping sieht mich mitleidsvoll an. Frau D. sei vor fünf Minuten gegangen.
Die Enttäuschung in meinem Gesicht muß wohl grenzenlos gewesen sein. Frau Döpping ist so gerührt, daß sie Frau D. anruft und ihr das Geschehene berichtet. Die große Dame schickt ihren ältesten Sohn, den äußerst liebenswürdigen, freundlichen, älteren Bruder von G., Jan, der die Blumen abholt.
Ich lernte Regisseure und Schauspieler mit zu großer Prostata, Opern- und Schlagersänger mit Nierensteinen und Harnwegsinfekten, Fernsehkommentatoren mit Nierenkarzinomen, Sportler und Travestie-Künstler mit Potenzproblemen, Maler und Schriftsteller mit bösartigen Blasen- oder Prostataerkrankungen kennen.
G.G. ( hier natürlich auch. Name geändert, meine ich! )
Ein Nobelpreisträger für Literatur trommelt mich im Nachtdienst aus meinem Bett. Ich möchte dringend zu Herrn G. kommen, sagt die Nachtschwester. Der Patient ist am Tag operiert worden, und mich durchfährt ein heftiger Schreck: Hoffentlich nichts Schlimmes! Ich sehe in "Bild" und "BZ" schon die Schlagzeilen: Berühmter Schriftsteller wegen Fehler des unerfahrenen Assistenzarztes gestorben!
Der berühmte Schriftsteller und Nobelpreisträger sitzt, an seiner Pfeife ziehend, im grauweiß gestreiften Schlafanzug auf der Bettkante und drückt auf der Fernbedienung für den Fernseher herum. „Ich bekomm das Dritte nicht rein, machen Sie mal.“
Der Assistenzarzt mag es nicht glauben. Nicht die für einen Literaturnobelpreisträger etwas zu platte Formulierung, sondern die Tatsache, daß ich wegen dieser Lappalie in Anspruch genommen werde. Mit dem letzten Rest von Selbstbeherrschung verbiete ich in ärgerlichem Ton die Pfeife und ordne umgehend Schlafenszeit an.
Als der Patient entlassen wird, schenkt er mir eins seiner Werke mit einer sehr netten, persönlichen Widmung...
Mit den anderen Assistenten verstand ich mich, so lange ich als Jüngster für die älteren Kollegen mitarbeitete, gut.
Irgendwann hatte ich dazu keine Lust mehr. Und kümmerte mich nur noch um meine Sachen, was dazu führte, dass Prof. Kollwitz ein Mitarbeitertreffen ankündigte. Ich fragte die Kollegin Helena Lehr, ob sie wisse, worum es geht. Sie schaute mir mit weit aufgerissenen, unschuldsvollen Augen direkt ins Gesicht. „Nein, wirklich nicht ... er war schon den ganzen Tag so komisch!“
Nachdem wir, Helena, Hans-Wilhelm Wechsel und Jürgen Mangels, und ich uns in Kollwitz' Zimmer versammelt hatten, sprach dieser mich direkt an. Die Kollegen hätten sich über meine mangelnde Teamfähigkeit beschwert. Ich sei unkollegial und nie hilfsbereit.
„Helena, Du falsche Schlange“, entfährt es mir. „Glaubst Du nicht, dass ich Dir rhetorisch gewachsen bin?“
Ich erkläre mit Vehemenz, dass ich nicht gedenke, für die Kollegen deren Arbeit mit zu erledigen, und schon gleich gar nicht für Kolleginnen, die aus Disziplinlosigkeit ihren Hintern unpünktlich aus dem Bett bewegten. Und als ich den Chef auffordere, mich zu unterstützen, ist sein Engagement so halbherzig, dass ich das Ende meiner Laufbahn im Franziskuskrankenhaus ankündige. Kollwitz lacht mich aus. „Sie finden sowieso nichts, es gibt in Berlin keine freie Urologiestelle.“
Am Folgetag habe ich Nachtdienst und werde auf die chirurgische Intensivstation gerufen. Ich versorge die Patientin und unterhalte mich anschließend etwas mit ihr. Ich stelle fest, dass sie einer Studienfreundin sehr ähnlich sah. Ja, ihre Tochter habe Medizin studiert. Ob sie Margrit heiße? Ja!
Ich erfahre, dass sie auf der Urologie im Universitätsklinikum Steglitz arbeitet und auch in der Viktoriastraße in Lichterfelde wohnt - wie ich! Zufälle gibt's! Meine Traumstelle!
( Ist das jetzt Leben? Ich hab den ganzen Kram noch mal durchgelesen, und ich habe inzwischen fast Mitleid mit mir. Also, hätte mich jemand derart zugetextet, hätte ich vermutlich die rechte Augenbraue hochgezogen ( Links kriege ich nicht hin. Wenn ich es versuche, fragen die Menschen mich unweigerlich, wie lange er denn zurückliegt, der Schlaganfall. ) und gesagt, jetzt hör mal auf zu jammern! Du tust ja gerade so, als trügest Du die Last der Welt, Du armes Lamm! Um das noch mal klar zu machen: meine ersten zehn Jahre waren unfassbar und beneidenswert schön. Ich wollte, dass jedem Kind auf diesem Planeten so viel Glück widerfahren würde. Dann wurde es etwas schwieriger. Das geht niemandem anders.
Und wenn ich das mal betonen darf: Ich habe immer wieder Glück gehabt. Ein Schweine-Glück. Besonders, die wunderbarsten Menschen kennenzulernen. Ja, Dich meine ich. Und Dich und Dich auch. Du brauchst gar nicht rot zu werden. Aber auch mit allem anderen. Zum Beispiel mit der Arbeit … )
Universitätsklinikum Steglitz
„Dann bewerben Sie sich doch!“, sagte die Mutter meiner Studienfreundin. Von Margrit wisse sie zuverlässig, dass jemand mit Berufserfahrung gesucht werde, da in zwei Monaten ein Kollege dort ausscheiden würde.
Ich rufe Margrit an, übergebe ihr meine Bewerbung. Die Einladung zum Vorstellungsgespräch erreicht mich einen weiteren Tag später. Im Vorraum sitzen lauter schicke, gescheitelte, krawattengeschmückte Aktenkofferträger, in welchen sie ihre neuesten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Vorträge und „papers“ spazieren führten, in elegantem Zwirn. Ich bin etwas verschwitzt vom OP direkt in einen weißen Kittel und so ins Taxi gesprungen, und falle rein optisch, die Abdrücke von Mundschutz und Haube noch im Gesicht, mit schweißverklebten, strubbeligen Haaren, gegen die künftigen, wohlfrisierten Professoren doch deutlich ab.
Als die Reihe an mir ist, unterdrücke ich tapfer den Fluchtreflex. Die erste und einzige Frage der Professoren Kelami und Fiedler fliegt mir um die Ohren: Wie ich es wagen könne, mich ohne Doktortitel an einer Universitätsklinik zu bewerben. Verdammt. Sie haben sogar recht damit. Ich spüre wieder Jähzorn in mir aufsteigen. Reiß Dich zusammen, Junge. Jetzt nicht. Jetzt nicht! Das passt nicht!
„Ich bin gut. Ich kann operieren. Ich muss nicht wegen jeder Kleinigkeit den Oberarzt wecken. Ich kann Sonografieren, Cystoskopieren, Schlingen und Schienen legen, Röntgen. Ich bin belastbar, humorvoll und freundlich. Und ich will diese Stelle unbedingt. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Den Doktor hab ich in 2 Jahren. Und zwar mit Prädikat.“
Ich darf mich zurückziehen. Ich hätte heulen können. Nichts hatten Chef- und Oberarzt gesagt. Nur höflich gelächelt. „Sie hören dann von uns...“ Von wegen! Bitterufensieunsnichtanwirrufensiean, das kennt man ja. Naja. Ich muss eben weitersuchen.
Am nächsten Tag bekomme ich in den OP die Nachricht, ich solle dringend im Klinikum Steglitz anrufen. Hindermann, der als einziger eingeweiht ist, läßt mich vom Tisch treten. Seine Augen über seinem Mundschutz strahlen mich vergnügt an.
Ich hatte die Stelle. Und schon wieder begann ein neues Leben.
Ich ging zu Kollwitz und bat ihn, mich per 31.12.1988 zum 1.1.1989 in gegenseitigem Einvernehmen aus dem Vertrag zu entlassen. Er sah mich ungläubig an. „Stellen Sie sich das nicht so einfach vor, Herr Volmer. Ich habe dort gearbeitet, und: Mein Magengeschwür habe ich aus diesem Haus!“
Zusammenfassend kann ich sagen: Es war eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Wir waren 11 wissenschaftliche Mitarbeiter und sind heute noch miteinander befreundet. Ach ja: Den „Dr.med.“ habe ich tatsächlich 2 Jahre später bekommen. Mit Prädikat.
Ich war immer sehr stolz, Steglitzer zu sein. Wir hatten einen guten Ruf, die Patienten liebten die Station, das Personal der Poliklinik, der vier Pflegegruppen, der OPs und auch der eigenen Radiologie arbeitete reibungslos, aufopferungsvoll, patientenorientiert und in herzlicher Fröhlichkeit miteinander. Die Nachtdienste waren spannend, ein bekannter Schlagerbarde, der in autoerotischer Absicht einen Vibrator rektal eingeführt und dann die Kontrolle über den elektrischen Freudenspender verloren hatte, dergestalt, dass das Ding nach innen verschwand und für ihn nicht mehr zum Herausziehen erreichbar war, so dass ich den noch laufenden Apparat mit einer Kornzange aufspüren und entfernen musste. Ein katholischer Prälat, der zu viel Viagra genommen hatte und deswegen einen Priapismus beklagte. Eine Patientin, der es Freude bereitete, kleine Modellautos durch die Harnröhre in die Blase zu praktizieren. Ein junger Mann, der jeden Abend kam, um seine Hoden untersuchen zu lassen, jedesmal mit anderer, teilweise farbenfroher Begründung: Er sei gefallen, sei beim Übersteigen eines Zauns ausgerutscht, habe beim Kaffeekochen heißes Wasser darüber gegossen etc. Es war eine abwechslungsreiche, freundliche Zeit. Mit meinen stationären Patienten kam ich sehr gut klar, neben dramatischen gab es auch immer wieder heitere Erlebnisse; so wurde ich zu einem neu aufgenommenen Patienten gerufen, der Stefan Kittel hieß. Lachend ging ich auf ihn zu: Ich hätte mal im Stadtkrankenhaus Cuxhaven auf der Station von Pfleger Stricker mit einer Schwester Stefanie Kittel gearbeitet! Es handele sich bei diesem Exemplar um seine Mutter, sagte Stefan. Und ich erfuhr, dass sie inzwischen wegen ihrer Zuckerkrankheit fast blind sei, sich sonst aber guter Gesundheit erfreue. Vor allem begriff ich, dass der mir gemachte Vorwurf, ich sei unkollegial, schlicht falsch war. Ich war beliebt, bei den Oberärzten, und bei den Kollegen. Besonders bei meinen Patienten. Peter Kühne rief einmal, „Ach, da kommt ja Dr. Peik Volksnah!“ Das fasste ich, obzwar alle in fröhliches Gelächter ausbrachen, durchaus als Kompliment auf. Ich war fachlich gut. Ich kam nur mit dem neuen Chef, dem berühmten Professor Hartwig Huland, nicht klar. Das zeigte sich sehr bald, am 12. April 1989.
Huland, ein sehr gut aussehender Mann mit perlweiß schimmernden Zähnen, die er anlässlich seines breiten Lächelns, das er gern und häufig aufsetzte, möglichst vollzählig zeigte. Damit hätte er fast jeden Narren können, wären da nicht die eiskalten Haifischaugen gewesen, die man sich auch gut über Schusswaffen hätte vorstellen können. Er hatte an diesem Mittwoch eine spontane Fortbildung angesetzt, um 18 Uhr. Ich klopfte an seine Tür und bat, anlässlich meines Geburtstages gehen zu dürfen. Der professorale Herr Chefarzt geruhte, zu brüllen. Er brüllte uns alle an, Peter Kühne, Dagmar Rummert, Jean-Claude Pecqeux, Helmut Knispel, Christian Wachs, Rolf Ludwig, Josef Dieringer.... Wenn er aus sentimentalen Gründen immer die Klinik verlassen hätte, schrie Huland, wäre er heute nicht da, wo er stehe. Und wenn wir nichts lernen wollten, wenn man nicht merken sollte, daß wir ‚aus einem guten Stall‘ kämen, dann habe er auch keine Lust auf uns. Schrie's, feuerte das American Journal of Urology auf den Tisch, und verschwand, die Tür geräuschvoll hinter sich schließend. „Na, dann kann ich ja jetzt wohl gehen!“, sagte ich so laut wie möglich.
Einige Tage später schickte meine liebe Stationsschwester Wally mich zu einem Patienten, dem einer der Oberärzte gerade die Diagnose Hodenkrebs an den Kopf geworfen hätte. Der Junge war 18, und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.
Ich setzte mich zu ihm aufs Bett, nahm ihn in den Arm, legte meine Hand auf seinen Rücken, um ihm Halt zu geben, und versprach ihm, daß er alles überstehen und ein alter Mann werden würde. Die Tür wurde geöffnet, Huland kam herein. Er erstarrte. Mit dem letzten ihm möglichen Rest von Höflichkeit forderte er mich auf, ihm augenblicklich zu folgen. Auf dem Flur wurde er laut: Ich mache mich gemein mit den Patienten. Ich hätte professionelle Distanz zu wahren. Zudem wünsche er, dass diese Duzerei unter uns Ärzten und zwischen uns und dem Pflegepersonal aufhörte. Ich widersprach wütend. Es sei hier ein psychotherapeutisches, kein urologisches Eingreifen erforderlich gewesen, und ich würde wieder so handeln, jederzeit, wenn in meiner Gegenwart die Welt eines Jungen, der nicht alt genug sei, um Gegenwehr zu leisten, plötzlich auseinander bräche.
Meine liebe Wally und ich spielten, wie alle anderen auch, Komödie.
„Schwester Waltraud, sind die neuen Patienten zur OP gemeldet?“
„Oh gewiss, Herr Dr. Volmer!“
„Blutwerte abgenommen?“
„Selbstverständlich, Herr Dr. Volmer.“
„EKG und Thorax liegen vor?“
“Entsprechend Ihrer Anweisung, Herr Dr. Volmer.“
Dann summten wir die Titelmelodie der Fernsehserie „Die Schwarzwaldklinik“, alle freuten sich. Zumindest, solange der Chef nicht zugegen war.
Dennoch war Huland der genialste Operateur, mit dem ich je am Tisch stand. Komplikationen waren nie erschreckend oder bedrohlich. Sie gehörten dazu, und wurden gelöst. Außerdem habe ich erkannt, dass man die einfachen Fragen stellen soll, und dass man nie alles weiß bzw. wissen kann. „Das haben wir von den Amerikanern gelernt“, war eine seiner Standardformulierungen. Er war ein lausiger Arzt, aber ein hervorragender Mediziner, der heute, wenn wir uns auf einem Kongress begegnen, verzweifelt versucht, mich zu übersehen. Ich allerdings mache mir einen Spaß daraus, laut ein „Gott zum Gruß, Herr Professor!“ zu rufen. Dann guckt er immer so schön gequält!
Moshe
Ich wünsche mir einen Hund. Ein Bobtail muss es sein. Unbedingt.
Die Bobtailzüchterin heißt Frau Korn, ist laut, herzlich und üppig und lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe des Klosters Nütschau in Schleswig-Holstein auf einem großen Hof. Sie ruft an: Ihre beste Zuchthündin hat geworfen, wenn die Welpen von ihrer Mutter getrennt werden können, erhielte ich einen aus diesem Wurf.
Ich schaue mir die Kleinen an: Unfassbar süße, schwarzweiße Knäuel, die über- und untereinander purzeln und ständig pinkeln. Auf der Wiese tollen vier Hunde herum, die laut Frau Korn aus einem früheren Wurf stammen und bereits drei bis vier Monate alt sind. Ich nähere mich dem Zaun. Eins der Tiere löst sich aus der Gruppe, rennt auf mich zu, überwindet mit einem Satz das Gatter und legt sich zu meinen Füßen nieder, den Kopf entspannt auf meinen linken Schuh.
„Es scheint“, deklamiert Frau Korn feierlich, „als wurden Sie eben ausgesucht. Allerdings: Diese Hunde dürfen nicht werfen, sie haben eine Zahnfehlstellung im Unterkiefer.“
Ich sehe mir die Zähne an: Es ist die schönste Fehlstellung der Welt.
Moshe ( der da noch gar nicht so hieß, Anke verlieh ihm den Namen nach Moshe Dayan, dem israelischen Politiker mit der schwarzen Augenklappe - auch der Hund hatte ein schwarzes Auge! ) ist ein wunderbarer, fröhlicher Hund. Anfangs ist es schwer, vor allem, was er nicht kennt - und es ist ja alles neu für ihn - scheut er. Bei seiner ersten Autofahrt, der von der Züchterin nach Bergedorf, kotzt er das Auto voll. Kaum zu glauben, dass er vier Wochen später mit einem Satz in den Wagen springt, sobald der Motor angelassen wird. Notgedrungen schleppe ich den großen, haarigen Hund durch die Gegend. Die Leute lachen. Ob er nicht laufen könne.
Ganz langsam gewöhnt er sich. Er schläft, vor dem Fußende des Bettes liegend, und freut sich so sehr über den Umstand meines Erwachens, dass er vor heller Begeisterung auf den Teppich pinkelt. Es gelingt mir, dies durch einen gezielten Wurf mit meinem Schlüsselbund, abzustellen. Er spielt mit mir, bellt nie, es sei denn, er hat das Gefühl, mich beschützen zu müssen. Einmal in der Woche wird er shampooniert, zweimal mit Kamm und Bürste bearbeitet, was gut und gern zwei Stunden dauert. In der Öffentlichkeit ist er so ruhig, dass ich ihn einmal im Café Bax im Marktkaufcenter in Bergedorf, in dem ich jeden Sonnabend frühstücken, vergesse. Wegen eines Sehnenabrisses muss er operiert werden. Ich weiche nicht von seiner Seite und kampiere vor der Tierarztpraxis in der Nähe von Lüneburg. Als die Arbeit in der Praxis immer mehr wird, habe ich Angst, mich dem Tier nicht genug widmen zu können. Ich gebe klein bei, und ich bitte die Züchterin, sich des Hundes weiter anzunehmen. Sie erscheint, öffnet die Heckklappe ihres weißen Passat, und Moshe, der von Autofahrten inzwischen nicht genug bekommen kann, besonders, wenn er durch ein offenes Fenster sein Kopf stecken und seine Ohren im Fahrtwind flattern lassen kann, springt hinein. Ich habe meine kleine Familie verloren. Ich bin, mal wieder, allein, an der Schwelle zum nächsten Leben.
Mauerfall
Mein informativer Abend bestand in drei Nachrichtensendungen: Von 19:00-19:30 Uhr „Heute“, von 19:30-20:00 Uhr „Aktuelle Kamera“ auf DDR 1, von 20:00-20:15 Uhr „Tagesschau“, so auch am 9. November 1989. Das Mitglied des Politbüros des ZK der SED und Abgeordnete der Volkskammer der DDR Schabowski hielt eine Pressekonferenz ab, in der er ankündigte, daß ab sofort DDR-Bürger Reisefreiheit genössen.
Ich rufe meinen Ostberliner Freund Lutz Altmann an, der aus der Hagenower Straße in Prenzlauer Berg in die Heinrich-Heine-Straße in Mitte umgezogen ist. Ob er das auch gehört ... ja, aber das kann doch gar nicht ... Zusammen, übers Telefon verbunden, es knackt, aha, die Stasi hat sich eingeklinkt, sehen wir die Tagesschau. Da wird die Neuigkeit auch verkündigt, mit verhaltenem, fast ungläubigem Optimismus.
Ich fahre zum Moritzplatz, der Westseite der Heinrich-Heine-Straße, die auch Grenzübergang ist. Ich warte. Plötzlich steht Lutz vor mir. Ich brülle seinen Namen, wir fallen uns um den Hals. Wir beschließen, gemeinsam in den Ostsektor zu gehen. Ein kurzer Blick in meinen grünen ‚behelfsmäßigen Personalausweis‘ - den grauen Bundespersonalausweis hatte ich wegen der Bundeswehr zurückgegeben - genügte. „Los, wieder 'rüber!“
„Nu saachen Se mal“, fragt der Grenzer in breitestem Sächsisch, „was machen Se hier eigentlisch?“
Na, Reisefreiheit praktizieren! Geschichte erleben! Normalität feiern!
Karen oder Frau Urmetzer?
Meine Mutter bewerkstelligte es, alle Menschen vor den Kopf zu stoßen, stets das Gute wollend, und stets das Böse schaffend. Sie mokierte sich gern darüber, daß Uwe in seinem Studium nicht vorankam und machte unpassende Bemerkungen wie: Sie wette, ihr Sohn sei noch vor ihrem Bruder fertig. Derlei Spitzen, mit denen sie vergeblich glaubte, hilfreich Uwes Ehrgeiz wecken zu können, machten es ihm schwer, mich als eigenständige und wohlmöglich auch noch sympathische Person zu betrachten, und so kühlte die Liebe zu dem possierlichen Kleinkind doch spürbar ab. Hinzu kam, daß seine extravagante Freundin Helma weder Oma noch Karen gefiel. Immer weiter zog er sich zurück, gelegentlich besuchte ich ihn in Hamburg in der Heilwigstraße 42, wo er zur Untermiete bei einer Frau namens Nanne im Dachgeschoss wohnte, aber wenn die Entfernung auch nie weit war: Die Distanz zwischen uns wuchs.
Das Telefon klingelt selten nach 23 Uhr, und wenn, dann ist es bestimmt nichts Gutes. Es ist der 6. Januar 1992, ich stehe in der Küche unseres scheußlichen kleinen Reihenhauses in Boberg. Es ist mein Stiefvater. Ich erfahre, daß Mutti „so komisch“ sei, ihren Sessel im Wohnzimmer nicht verlassen wolle oder könne, nicht spräche, und an die Raumdecke starre. Ich begreife sofort, was geschieht, und weise Hansgeorg an, Karen mit einem Krankenwagen umgehend nach Bremerhaven-Reinkenheide zu transportieren. Ich telefoniere mit dem radiologischen Kollegen vom Dienst, der schon mal das CT hochfährt. Ich schildere den Fall und meine Verdachtsdiagnose professionell und kalt. Der Kollege fragt, ob ich der behandelnde Hausarzt sei. Frau Karen Urmetzer sei meine Mutter, behaupte ich. „Oh“, erwidert der Kollege erstaunt und betroffen.
Kurz vor zwei Uhr ruft er mich an.
„Ahnen Sie den Befund der CCT?“
„Ja. Das Gehirn meiner Mutter ähnelt einem Emmentaler.“
Er hätte es nicht besser formulieren können, räumt er ein.
Uwe
Uwe machte als Leiter der VHS Rotenburg/Wümme seine Karriere, Zugang zu ihm fand ich erst wieder durch Karens Sterben und Tod. Wir verbrachten, auf das Ableben meiner Mutter wartend, viel Zeit miteinander. Wir machten zu sechst Ausflüge nach Cuxhaven, Helgoland, fuhren zu einer Nabucco Inszenierung nach Bregenz, feierten in Guldental auf dem Weingut eines Freundes von Uwe, Ernst Schmitt, und seiner Lebenspartnerin Petra seinen 50. Geburtstag.
Ich bin immer stolz auf Uwe, der, genau wie Anke, nicht zu altern scheint. Ich habe viel von ihm, so können wir - zum Entsetzen der begleitenden Angehörigen, mit jeder Kassiererin, jeder Kellnerin, jedem Busfahrer ein tiefgründiges Gespräch beginnen, das alle Lebensprozesse wirksam entschleunigt - was allerdings die Menschen, die an der Kasse hinter einem warten, in der Regel nur ungern zulassen.
Uwe ist humorvoll, ein intelligenter Mensch, sensibel, und mit Sicherheit ein guter Freund. Genau wie ich Anke liebe, habe ich nie aufgehört, ihn zu lieben.
Wie sehr man jemanden braucht, merkt man immer erst dann, wenn man kurz vor dessen Verlust steht. Eine abgerissene Herzklappe behinderte die korrekte Flussrichtung seines Blutes. Die Operation in St. Georg endete in der Komplikation einer Herzbeuteltamponade, die auf dem Weg zur Rehabilitation zum Tragen kam und in der Lübecker Universitätsklinik notfallmäßig revidiert werden mußte. Lange Wochen verbrachte er in künstlichem Koma auf der Intensivstation, ein Besuch von mir wurde nicht empfohlen, Ankes und Petras Mails und Anrufe hielten uns auf dem aktuellen Stand. Erweckt, hatte er nicht nur mit massiven psychischen, sondern auch mit somatischen Beschwerden zu kämpfen: Aufgrund von Lagerungsfehlern erlitt er noch Peronaeusparesen beidseitig.
Egal, wie gut oder schlecht wir uns verstehen: Uwe und Anke sind ein Teil von mir. Man macht leider immer den Fehler, dass man, setzt man Menschen als selbstverständlich voraus, sich weniger Mühe gibt, diese Beziehungen zu pflegen. Wieso denn auch? Der enge Verwandtschaftsgrad erübrigt doch derlei Anstrengungen.
Oder irre ich mich?
( Also: Erstmal möchte ich mich sehr bedanken. Es hört sich wie Koketterie an, ist aber wirklich so gemeint. Ich hatte damit gerechnet, dass jemand sagen würde, ja, ist ja ganz nett, aber behält das mal alles für Dich. Das ist ungefähr so interessant wie das Foto von den Beilagen Deines Schnitzels. Und dann … Danke für die vielen Kommentare, die Anrufe, E-Mails, PNs, WhatsApps. Danke, dass ich Euch das alles erzählen durfte. Ihr seid die Besten.
Ja, und nun versuche ich, ein paar weitere Kapitel zu er-leben. Wieviel Zeit mir bleibt, die dann hinterher aufzuschreiben, weiß ich natürlich nicht. Deswegen verfasse ich jetzt schon mal vorsorglich den … )
Epilog - vorerst!
Die Zeit verändert sich und verändert auch mich. Lange habe ich mich gegen Mobiltelefon, Computer und Internet gewehrt, habe aber begriffen, daß man die neuen Medien für sich durchaus nutzbar machen kann, einmal als unendliches Lexikon, aber auch, um mit Menschen in Verbindung zu bleiben, mit Menschen in Kontakt zu treten, oder Menschen wiederzufinden. So fand mich Rosemarie Meinck wieder, die mir wegen ihres lauten, ungekünstelten, kehligen Lachens und ihres freundlichen Humors immer die liebste Freundin meiner Mutter war. Sie war die Frau von Harro Meinck, der im Cuxhavener Stadtkrankenhaus als Urologe arbeitete, lustig, unprätentiös, immer mit einem Augenzwinkern.
Und, zu meiner größten Überraschung, begann ich plötzlich, mich für Fußball zu interessieren. Manchmal kommt man aus dem Staunen nicht heraus, und sei es auch nur, über sich selbst! Tempora mutantur, et nos mutamur in illis!
Krank ... Na gut. Sehr krank.
Es geht mir seit einiger Zeit nicht gut. Ich schiebe meine mangelnde Belastbarkeit auf mein Übergewicht, und ich entwickele so etwas wie Melancholie, was ich mit wachsender Sorge sehe. Ich beschließe, in ein Fitnessstudio zu gehen. Ich stehe auf dem Laufband, fasse an die Kontaktflächen zur Pulsmessung. Die Herzfrequenz soll angeblich 196 /min betragen. Ich lache. „Habt ihr das Ding auch in heil?“ Auf zwei anderen Geräten zeigen die Displays gleiche Werte.
Ich bekomme immer schlechter Luft. Die Treppe zum S-Bahnhof Wellingsbüttel schaffe ich nur mit drei Pausen, in denen ich nach Atem ringe. Ein kleiner Urlaub auf Sylt mit sehr langsamen Spaziergängen lindert, aber ich beschließe dann doch, meinen Lungenfacharzt aufzusuchen. Mir ist klar, irgendeine vernichtende Erkrankung wird er diagnostizieren, ich bin voller Krebs, Junge, sogar in der Lunge ...
Die Lunge sei in Ordnung, aber ich solle dringend zum Kardiologen, sagt Robert Osterloh, Wasser bis obenhin. Jens Stadtmüller nimmt sich sofort Zeit. Offenbar habe ich es etwas eilig, scherzt er. Meine Herzfrequenz liege um 200 /min - ein Wunder, dass ich das Studio überlebt habe! Er versucht verzweifelt, ambulant die viel zu schnelle Schlagfolge zu senken, da ich nicht in die Klinik will. Ich leite eine Praxis, ich muss arbeiten, das Los der Selbständigen.
Es ist der 5. Dezember 2008, ich bin Donnerstag vormittags in der Praxis, um Papierkram, Atteste, Gutachten, Anfragen von Krankenkassen zu erledigen. Mir wird schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir komme, rufe ich ein Taxi und fahre nach Billstedt zu Jens Stadtmüller. Bei jedem Schritt zieht sich ein enger Gürtel um meinen Brustkorb zusammen. Einige Körperfunktionen kontrolliere ich kaum noch, gestern nach der Praxis habe ich den Urin, als sich massiv der Harndrang einstellte, nicht mehr halten können, es war schon dunkel, gottseidank, und das mir als Urologen! Der liebe Gott hat Humor, wenn auch vielleicht manchmal etwas schwarz.
Ich erreiche nach Vortasten im Schneckentempo den Hauseingang am Billstedter Marktplatz. Alle Geräusche erreichen mich wie durch Watte, ich sehe nur schemenhaft. Jemand kommt auf mich zu, Herr Doktor, geht es ihnen nicht gut, kann ich was helfen? Ich erkenne niemanden, nein, sehr nett, danke, es geht schon.
So fühlt sich also Sterben an. Komisch. Warum habe ich, der ich beim bloßen Gedanken an den Tod panisch werde, der ich mich nicht einzuschlafen traute, nachdem Oma im Schlummer gestorben war, keine Angst? Es ist alles so undramatisch, so logisch. Diese Maschine funktioniert nicht mehr, und wenn nicht jemand was an ihr repariert, ist es vorbei. Na gut, so macht es auch keinen Spaß. Panik? Ich sehe den großen Schnitter mit schwarzem Kapuzenumhang und seiner Sichel. Komm nur, ich hab keine Angst, ich will nur nicht mehr nicht atmen können.
Stadtmüller schickt mich in die Klinik, sofort. Man versucht dort erfolglos einige Cardioversionen, ich wache aus der Narkose auf, es riecht wie im Steakhaus, das bin ich, durch die Elektrizität habe ich Verbrennungen davongetragen, die aber nicht schmerzen. Ich liege nun, völlig verkabelt, auf der Intensivstation, und bekomme 6 x 200 mg Amiodaron täglich, zum Aufsättigen, ein besonders nebenwirkungsreiches Antiarrhythmikum. Mit diversen anderen Chemikalien schlägt mein Herz nur noch 110 x/min. Na also! Neben mir liegt ein 72jähriger Mann, Dieter, mit dem ich mich sehr gut verstehe. Seine Frau nennt ihn Täubchen, das tue ich auch. Die Stimmung ist gut. Da er morgens Pfefferminztee trinkt, bekomme ich seine Kaffeesahne. Er erhält meinen Honig, ich seine Marmelade. Abends tauschen wir Wurstscheiben und Käse, er mag keine Tomate. Und seine Frau bringt mir anlässlich des Wochenendes eingelegten Matjes mit.
Ich habe Angst vor den Untersuchungen. Woher soll ich wissen, wie ein Schluckecho oder eine Herzkatheteruntersuchung abläuft? Wissen Sie das? Eben, ich auch nicht! Zudem werde ich heftig entwässert, alle 15 Minuten ist meine Blase voll und fordert unwiderstehlich eine sofortige Entleerung.
Ich werde zum Schluckecho abgeholt. Zwei etwas ruppige Jungs vom Transport treten mit Wucht die Bremse meines Bettes los, werfen meine Krankenakte auf meine Beine, an der Decke blitzen im Tempo der Fahrt rhythmisch die Deckenlampen auf, dunkel - hell - dunkel - hell, hypnotisch. Ich werde in die Schlange der Betten der Mitpatienten eingereiht, der Pfleger wünscht humorig viel Spaß, ich werde angemeldet, „Da ist Dr. Volmer von der Intensiv!“ Der „Doktor“ hört sich surreal an. Bin ich gemeint? Ich bin schwach, ich habe Angst. Die Blase drückt schon wieder. Ich weiß nicht, ob ich aufstehen darf, und zur Toilette gehen. Und wenn ich dürfte, weiß ich nicht, ob ich es schaffe. Und gelänge mir der Hinweg, zweifele ich am Weg zurück. Eine Tür öffnet sich, eine sonnenbraune, blonde Schwester tritt an mein Bett.
„Guten Morgen, Dr. Volmer, ich bin Schwester Birgit. Machen Sie sich keine Sorgen, ich begleite Sie ab jetzt durch die Untersuchung. Ihnen wird nichts passieren, alles wird gut.“
Ich bin unendlich froh und dankbar, ich erzähle ihr, dass ich Sorge habe, ihr auf den Tisch zu pinkeln. Sie reicht mir eine Urinflasche, und lächelt. „Denken Sie gar nicht darüber nach. Das ist mein Beruf, auch mal kleine Pannen zu beseitigen.“
Mir fällt der alte Mann ein, den ich in meiner Krankenpflegeausbildung als Patienten kennenlernte. Sehen Sie, Herr Templin, ich habe es vorausgesehen. „So, jetzt schlafen Sie gleich ein, suchen Sie sich einen schönen Traum aus, Urlaub am Meer, Nordsee ...“ Ich entgegne, bereits mit verwaschener Artikulation, ich möchte lieber Sylt, immerhin sei ich Privatpatient ... das Gelächter nehme ich noch wahr. Nach der Untersuchung frage ich, ob etwas Peinliches passiert sei. Mitnichten, behauptet die Fachkraft. Ich glaube ihr nicht so recht, immerhin war die Blase beim Einschlafen voll, und jetzt nicht mehr, aber .... ich lasse es einfach gelten.
Besuch will ich keinen, unter keinen Umständen. Ich habe 10 Tage nicht geduscht, die Haare kleben am Kopf, ich rieche nicht nur herb, ich stinke. Das ist mir besonders peinlich, weil ein offenbar sehr selbstbeherrschter, junger, hübscher, iranisch-stämmiger Krankenpflegeschüler an mein Bett tritt, um bei mir ein EKG abzuleiten. Täglich. Wirklich. Jeden Tag. Und mein Aroma verstärkt sich zuriechends.
Aus Münster kommt mein Bruder Timm. Nur für eine Stunde, um mich zu sehen. Trotz widriger Straßenverhältnisse. Auch er weint.
Kurz vor der Entlassung darf ich endlich duschen. Ich hatte bereits das Gefühl, im Dunkeln zu leuchten.
Täubchen geht einen Tag vor mir. An diesem Tag wird nachmittags noch einmal cardiovertiert. Ich erwache, das Display am Monitor zeigt 60 /min. Ich bin diesmal derjenige, der weint. Kaum traue ich mich, mich zu bewegen. Professor Groenefeld nimmt mich in den Arm: „Keiner hat geglaubt, dass Sie das alles so gut schaffen würden!“
Wieso? Ich? Schaffen? Ich hab nur blöd dagelegen. Und vor mich hin gestunken. Geschafft haben das andere!
Noch monatelang fühle ich halbstündlich meinen Puls. Er bleibt stabil. Offenbar bin ich noch nicht bereit für das nächste Leben!
Es weihnachtet sehr.
Liebe und so …
Ja. Oft. Gerade in Berlin. Als Student. Komm, da erwartet man das doch von einem, oder? Glaubt Ihr denn, ihr jungen Leute, das One Night Stands Eure Erfindung seien? Ha! Weit gefehlt!
Dann wurde es ernster. Große Liebe, und so. Die endete nach vier Jahren durch einen Selbstmord. Da hatte ich dann erstmal die Nase voll. Ich mag nicht tote Menschen finden, wenn ich heimkomme. Was man vielleicht versteht.
Dann passierte es wieder. 16 Jahre. Verflucht, SECHZEHN JAHRE! ( Wir hatten immer die Sektflaschen von Silvester aufbewahrt, blöd, oder? 16 standen im Keller, oben auf dem Holzregal … ) Aber eine Lungenembolie überlebt man manchmal nicht. Pech, wirklich. 16 Jahre. Ich war 40. und ich war fest entschlossen, nu’ is’ aber gut. Ich habe auf die Scheiße keine Lust mehr! Erledigt. Schicht im Schacht, Ende Gelände!
Und da passierte es, dass eines Tages in die Praxis …
„Was machst Du da? Schon wieder Facebook?“
„Äähh, nein, ich schreibe nur ein paar Sachen auf!“
„Was schreibst Du auf?“
„Ach, nur so Zeugs, die Leute lesen das gern, weißt Du …“
„Was lesen sie gern?“
„Naja, Geschichten aus meinem Leben, eben!“
„Komme ich drin vor?“
„Komisch, dass Du das sagst! Gerade will ich …“
„Wehe! Ich töte Dich!“
„Warum das denn? Ich schreibe nur Gutes über Dich, wie hübsch Du bist, und klug, und jung …“
„Wage es nicht. Wehe! Kein Wort. Bevor Du es postest, lese ich es mir durch.“
„Aber Schatz, schau doch mal …“
„Ich habe nein gesagt. Nein heißt nein. Keinen Text, keine Fotos, keine Namen.“
„Ich könnte doch wenigstens ein ganz kleines Foto, ganz unscharf, auf dem Du kaum zu erkennen bist ….“
„Versuchs, und ich lass mich scheiden.“
„Sahnetörtchen, nach 20 Jahren! Das ist doch lächerlich!“
„Jaja. Sehr lächerlich. Dann kannst Du hier darüberschreiben, „Letztes Werk des Autors“. Und ich kassiere die Tantiemen.“
„Aber ohne Dich ist doch mein Leben gar nicht vollständig erzählt! Das musst Du doch verstehen!“
„Du solltest Krimis schreiben. Plötzlich, kurz vor dem Schluss, taucht der Täter auf, mit dem keiner gerechnet hat. Das bin dann ich. Und ich ermorde Dich. Vielleicht. Also: Kein Wort, hörst Du?“
„Immer hab ich alles für Dich getan, und so dankst Du es mir jetzt!“
„Oh neee, nicht die alten Geschichten wieder!“
Sie haben/Ihr habt es gehört. Kein Wort.
Gesundheitspolitik/Banken
Es ist ja auch kein Wunder. Man kann doch nur krank werden, bei der permanenten existenziellen Bedrohung durch die Banken auf der einen und dem Finanzamt auf der anderen Seite. Ärzte sind die einzige Berufsgruppe, die ihr Geld sechs Monate später bekommen, und da man nie weiß, wie der Punktwert gerade steht, wie viel von der geleisteten Arbeit schlicht wegbudgetiert und/oder wegquotiert wurde, kann es schon mal vorkommen, daß der Überweisungsbetrag um 50% geringer ausfällt, als berechnet. Hilfe hat man von nirgendwoher zu erwarten. Die Patienten, die die Inspektion ihres Wagens oder die Modelage ihrer Fingernägel als gottgegebene Notwendigkeit erachten, sind empört, wenn sie für Leistungen des Arztes dazubezahlen sollen. Die Banken lassen Lastschriften platzen, die Finanzämter pfänden die Konten - all dies habe auch ich erlebt.
Am unverschämtesten benahm sich die Dame der Hypovereinsbank, Frau Sigrid Bissel. Sie habe, so teilte sie mir mit, nun leider endgültig ihre Geduld mit mir verloren und gäbe meine Akte zur Regulierungsstelle für Fälle wie mich nach Leipzig, mit einem Schufa-Eintrag hätte ich zu rechnen. Immer hätte sie alles für mich getan, aber ich hätte es ihr nicht gedankt. Jetzt wäre dann Schluss.
Ich suchte einen Anwalt auf, der nach drei Minuten die Lebensversicherungen, durch die meine Restverbindlichkeiten abgesichert waren, gefunden hatte. Er untersagte die Schufa-Meldung und gab den Leipzigern die Anweisung, die Lebensversicherungen zwecks Tilgung der Schulden zu veräußern.
Ich hatte auch die HASPA um Hilfe gebeten, die Herren bedauerten. Ich ein zu unsicherer Kunde. Ob ich mir nicht privat von jemandem … ?
Die Zahlungen der kassenärztlichen Vereinigung wurden von der Hypovereinsbank geschluckt, der Verkauf wurde absichtlich verzögert, um mich fertigzumachen. 7 ( SIEBEN! ) Monate habe ich mit dem Geld der Privatpatienten überlebt, Rechnungen konnte ich erst nach 3 Mahnungen bezahlen, mit Miete und Gehältern war ich im Rückstand. Irgendwann gab die Bank auf. Ich hatte gewonnen.
Noch ein Nachsatz: Es gelang mir vorübergehend sogar, mein Konto ins Plus zu fahren. Grund für die HASPA, anzurufen und mich zu fragen, ob man mir nicht mit einem Kredit, z.B. für ein neues Auto, behilflich sein könnte. Was sagte Max Liebermann über die Nazis?
„Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.“
Jürgen Volmers Beerdigung
Die Beerdigung meines Vaters Jürgen, die im November 2008, kurz vor meinem Zusammenbruch, stattfand, war von ungleich mehr Menschen begleitet, die ich allerdings kaum kannte. Ich sah Timm mit seiner Frau, in Tränen aufgelöst, ich sah Jürgens Schwester, meine Tante Traute, sehr schick in schwarz-weiß gekleidet mit einem topmodischen, auffälligen, dazu passenden Brillengestell, sowie Ehefrau Nummer Drei, Monika, mit ihren drei farblosen Kindern. Nicht erschienen waren Irmgard als Ehefrau Nummer Zwei sowie Mark und Imke, auch von Irmgards Tochter Ulrike keine Spur. Das, was 1984 zwischen uns so prallvoll mit Liebe und Hoffnung begonnen hatte, war leider versandet. Untergegangen. Ich kam in seiner Gedankenwelt nur vor, wenn ich ihm gegenübersaß. Immer wieder hatte ich ihn gebeten, sich doch auch einmal bei mir zu melden, aber dies, trotz mannigfaltigen Willenserklärungen und Beteuerungen, geschah nie. Irgendwann gab ich, kraft- und lustlos geworden, den Kampf um die Kontinuität seiner Liebe auf.
Wenn man unterstellt, dass die Rednerin natürlich von Nr. 3, Monika Volmer, instruiert wurde, war die unterdurchnittliche Qualität der Traueransprache wenig überraschend. Der persönliche Teil war nett, gelegentlich beinahe lustig. Man erfuhr staunend, dass, wann immer im norddeutschen Raum ein Ball, ein Fest, eine Feier stattfand, bei der Jürgen zugegen war, er den Saal ausfegte und das Licht verlöschen ließ. Ja, das war mir bekannt. Er qualmte wie ein Fabrikschornstein, leerte Flasche um Flasche Hochprozentiges - Wein, Weib und Gesang.
Keinerlei Erwähnung fand meine Mutter Karen als erste Liebe und Ehefrau Nummer Eins. Auch die Mutter von Mark, Timm und Imke sowie Ulrike, ihrer Tochter aus erster Ehe, Irmgard, blieb unerwähnt.
Und als die Dame, die die Ansprache verzapfte, verkündete, Jürgen habe erst bei Monika als Ehefrau Nummer Drei eine wirkliche Heimat gefunden und unter anderem immer so gelitten, weil der Kontakt zu seinem ältesten Sohn Peik so sporadisch war, hielt mich nur äußerste Selbstbeherrschung vom Sprung auf die Kanzel ab. Die dumme Kuh! Keine Ahnung von den Verhältnissen, aber klugscheißerische Statements abgeben! Es ging mir nicht gut, das Herz, das Atmen machte mir große Probleme, Aber ich stürzte mich auf die Gans wie ein Habicht und stellte sie vor der Kapelle zur Rede, wie weiland Kriemhild ihre Konkurrentin Brunhilde.
Ich war doch bei ihm gewesen, immer wieder! Ich habe es unablässig versucht! Ich hätte mir nichts mehr gewünscht, als ihn regelmäßig zu sehen, und sei es auch nur auf einen Kaffee!
Er war es doch, der sich sich nie gemeldet hat! Und ich hatte es irgendwann satt, einem Phantom hinterherzulaufen und um Liebe zu betteln. Ich hatte es so sehr gehofft, aber ich musste einsehen, dass man verpasste Liebe nicht mehr einholen kann, wie einen versäumten Bus. Vatergefühle müssen Raum zum wachsen haben. Irgendwann steht man sich vielleicht wohlwollend, aber doch distanziert gegenüber. Allerdings kann man auch durch Stolz entgangene Gelegenheiten nicht mehr zurückholen; dies aber lernt man am wirkungsvollsten an einem offenen Grab. Die Verlogenheit der Veranstaltung nahm mir die Lust auf das anschließende Treffen in einem Restaurant. Ich fuhr nach Hamburg zurück.
Leben. Eine kleine (Zwischen)Bilanz.
Was kann ich über mein bisheriges Leben sagen? Es läuft wie selbstverständlich und muss nicht hinterfragt, begründet, gerechtfertigt werden. Ich habe viele Interessen und an vielem kindischen Spaß. Meine Sammelleidenschaft für Überraschungseifiguren, PEZ-Boxen, Starbucks-Bären sowie Spielzeug von McDonalds und Burger King, zum Beispiel. Facebook. Musik. Lesen. Ach ja, Schreiben … wer hätte das gedacht!
Hilft Ihnen/Euch von dieser Lebensbeschreibung irgendein Aspekt weiter? Erkennt Ihr Fehler, die Ihr niemals gemacht hättet? Entdeckt Ihr Gemeinsamkeiten, die Euch erschrecken? Seid Ihr durch meine Schilderungen bewegt, schockiert, entsetzt? Enttäuscht Euch mein Lebensentwurf? Findet Ihr ihn eher spießig oder doch provokant? Und ist es nicht wirklich schlimm, dass von dem niedlichen, kleinen Peik, den man mit lachenden Vagabunden und Tom Dooley beeindrucken konnte, der ein vaterloses Muttersöhnchen im schlimmsten Sinne war und sich wegen und mit seinen kleinen Besonderheiten endlich davon befreite, nichts mehr übrig ist? Der ein einsam-depressiver Student und partnerschaftlich immer wieder von Neuem zu beginnen gezwungen war? Dass von seiner Geburt bis zum Facharzt für Urologie, der die Praxis verkauft hat und täglich betet, dass die Kohle bis zum Beginn der Rentenzahlung reichen möge, nur gerade 137 Seiten liegen? Der Worte wie ‚Altersteilzeit‘, ‚Rente‘ und ‚vererben‘ in seinen aktiven Wortschatz übernommen hat? Warum geht alles so schnell? Aber vermutlich ist das gut so. In dem 1939 von Marika Rökk gesungenen Durchhalteschlager heißt es, „Im Leben geht alles vorüber, auch das Glück, doch zum Glück auch das Leid.“ Die Schlusszeile des Schlagers lautet „nützt die Zeit, lasst uns heut' glücklich sein!“
Irgendwo in der Ferne höre ich Omas Stimme, die einen ihrer Sprüche zum besten gibt: Der liebe Gott lege Niemandem mehr auf seine Schultern, als er tragen könne. ( Ihr Lieblingsspruch, der immer allen viel Freude bereitete, war allerdings, dass eine Mutter 10 Kinder ernähren könne, aber 10 Kinder nicht eine Mutter. ) Das ist wahr, soweit es mich betrifft. Ich habe mir manchmal erhebliche Sorgen gemacht, aber das ist nunmal Leben, dessen Unbeschwertheit und Leichtigkeit uns niemand zugesagt hat. Und, wunderbarerweise: Ich habe immer wieder Menschen getroffen, die mir halfen, die mich trösteten, mir beistanden, an mich glaubten, mich unterstützten, mich verstanden, mich retteten. Und deswegen, bei allen Problemen, habe ich immer das Gefühl gehabt, dass da irgend eine Macht, ein übergeordnetes Prinzip - vielleicht doch ein „Gott“ - mich liebt ... auch wenn man sich nicht so sicher sein soll, wie Marieluise Kaschnitz sagt.
Warum ich das alles aufschreibe? Weil ich es nicht erzählen kann. Schon bei dem Versuch, es vorzulesen, versagt mir bei einigen Situationen die Stimme, aber Schreiben geht. Ich schreibe es für mich auf, und Euch, um mit den Dingen ins Reine zu kommen, um zu verstehen, um traurig oder stolz zu sein, zu lachen, um zu verarbeiten, um nicht zu vergessen. Und vielleicht auch, um dem einen oder anderen mitzuteilen, wer ich bin, und wer ich war. Peik. Ja, Peik nur. Nein. Wirklich niemand Besonderes. Ein Mensch, der wie alle anderen Menschen auch, begleitet von teilweise unlösbaren Problemen und Schwierigkeiten, letztlich doch seinen Weg gemacht hat.
Unlösbar? Ich bin umtrainierter Linkshänder. „Gib das schöne Händchen“, sagte Mama. Ich habe nie begriffen, was an meiner rechten Hand schöner war als an meiner linken, aber ich tat es - mit der Folge, dass ich eine ausgeprägte Links-Rechts-Schwäche habe und mich besonders bei Sichtung medizinischer Befunde sowie beim Autofahren nur hochkonzentriert ans Werk machen kann.
Was sonst? Ich kann keine Schleife binden. Ich forme zwei Schlaufen, die ich dann miteinander verknote. Dankenswerterweise braucht man chirurgisch nur zu knoten, Schleifen gibt es keine.
Ich kann nicht rückwärts einparken, und ich kann nicht Rad fahren. Seit meiner Mittelohrentzündung hapert es mit meiner Balance. Ich leide unter zwei mit dem Alter immer heftiger werdenden Ängsten: Der vor Höhen/vorm Fliegen sowie der vor engen Räumen. Ich habe Probleme, die Uhr abzulesen, wenn keine Ziffern dastehen. Ich kann nicht unpünktlich sein. Ich bin bis zu einer Stunde vorher an meinem Termin. Gelingt mir das nicht, sage ich lieber in letzter Minute ab, als zu spät zu kommen. Womit ich schon Menschen verärgert habe.
Und wer weiß, was aus mir geworden wäre, hätte man meine eigentlichen Talente, Schauspiel und Gesang, gefördert, statt mich Klavierspielen und Fechten zu lassen.
Ich habe gern gelebt, und ich lebe gerne. Ich habe überlebt. Ich habe versucht, authentisch zu leben. Ich bin emanzipiert, und wenn ich jemanden mag, kann ich das äußern. Durch Worte, und Nähe. Das mag auch nicht jeder.
Ich habe nicht aufgegeben. Ich bin trotz allem oder wegen allem oder mit allem glücklich und zufrieden. Ich bin, auch wenn einiges dagegen sprach, angekommen. Subsumiere ich alles, finde ich, dass ich ein glückliches Leben gelebt habe. Das ist die eigentliche Gnade des Älterwerdens. Die miesen, schlimmen, kleinen Momente schrumpfen zusammen. Das Schöne, Erhebende, Fröhliche behält die Oberhand.
Das wäre ja wohl noch schöner!