( Fortsetzungsroman gefällig? Ich erzähle ja gerne mal Geschichten. Alle 7-10 Tage ist eine Fortsetzung geplant. Den ersten Teil poste ich auf meiner Timeline UND auf den bekannten Adressen, also https://de-de.facebook.com/PeikVolmerAutor/ bei Facebook und www.peik-volmer.com. Ab dem 2. Teil gebe ich auf der Timeline nur noch Hinweise. Sonst muss man so lange herunterscrollen. Im Newsfeed will man sich ja doch lieber mit Neuigkeiten füttern lassen, oder?
Ich freue mich über Feedback. Begeisterung. Kritik. Und ich hoffe, Euch hier ein wenig unterhalten zu können.
Genannt habe ich das Ganze )
„Ich les' ja nicht so gern Mystery. Du etwa?“
Und das 1. Kapitel habe ich überschrieben
„Der Duft von Chanel No. 5“
Es gibt ein Lebensalter, in dem es ganz normal ist, wenn die Menschen um einen herum sterben. Die Großeltern sind meist schon tot, dann folgt ein guter Bekannter, eine Freundin. Ja, und dann sind die Eltern an der Reihe, meist beginnend mit dem Vater. Frauen leben ja, statistisch gesehen, ca. 9 Jahre länger.
Mein Fall liegt da deutlich anders. Ich war erst 35, als sich der Unfall ereignete. Mama und Papa, Mitte 50 bzw. Anfang 60, erfreuten sich bester Gesundheit. Ich lebte natürlich nicht mehr zu Hause, sondern in einer 80 qm Mietwohnung in derselben norddeutschen Kleinstadt, einen Steinwurf weit vom Haus meiner Eltern entfernt. Das hatte erhebliche Vorteile. Man konnte sich mal eben zum Mittagessen einladen, wenn der Kühlschrank leer und die Lust auf Pizza vom Lieferservice begrenzt waren. Man konnte Mama mit der Bügelwäsche betrauen. Oder Papa bitten, den tropfenden Wasserhahn in der Küche zu reparieren. Oder zu erklären, wo der Haupthahn saß, um, wenn nötig, allenthalben die Wasserzufuhr zu blockieren.
Die Nachteile lagen in der andauernden Überwachung. Und in der Erwartung der Eltern, dass man sie ständig besuchte, wozu ich, wenn ich nichts brauchte, keine Veranlassung sah. Ich hatte viel zu viel mit meinem Privatleben zu tun. Ich meine: Hallo? 35, und keine feste Freundin? Meine Klassenkameraden waren alle in festen Händen. Verheiratet. Christian und Axel hatten sogar schon Kinder - großer Gott! Man stelle sich vor: Kinder! Diese halslosen kleinen Monster, die Schmutz und Lärm verbreiten, ständig schniefen und von Durchfall und anderen Widrigkeiten geplagt sind.
Das war der wundeste Punkt. Immer, wenn ich nach Hause kam, begann Mamas Verhör. Es gab einige Variationen, das Thema allerdings blieb gnadenlos gleich.
Was denn nun sei.
„Womit denn, Mama?“
Sie starrte mich an, mit diesem Blick, der irgendwo zwischen Unglauben und Unverständnis angesiedelt war.
„Du bist 35, mein Sohn. So langsam wird es Zeit, findest Du nicht?“
„Zeit wofür?“
Erstaunlich, wie weit man die rechte Augenbraue hochziehen konnte.
„Ich habe kürzlich Frau Münker getroffen. Stefan heiratet nächsten Monat, die Tochter von Bäcker Gräber aus dem Strichweg. Ein Kind soll auch schon unterwegs sein. Was ist bloß los mit Dir?“
„Ach Mama, nix ist mit mir los. Gönne mir doch meine Freiheit!“
Wenn ich diesen Satz von mir gab, sog sie gern hörbar die Luft durch die Nase ein, so dass ein zischendes Geräusch entstand.
„Freiheit, wenn ich das schon höre! Ich will eine Schwiegertochter. Und Enkelkinder.“
„Hhmmm, das riecht aber gut! Kasseler Rippenspeer, oder? Mit Rosenkohl?“
„Jetzt lenk nicht ab! Natürlich mit Rosenkohl!“
„Und Deiner berühmten Speckstippe?“
„Natürlich mit meiner berühmten Speckstippe!“ Sie lachte. „Du glaubst, dass Du mich damit abgelenkt hast. Aber ich komme darauf zurück. Verstanden? So leicht schüttelst Du mich nicht ab!“
Ja, in der Tat. Sie kam darauf zurück. Immer wieder. Wie ein Bluthund. CIA, Stasi oder die spanische Inquisition waren Waisenknaben hinsichtlich Verhörtechniken und -dauer. Meine Mutter vertrat das Prinzip „Good Cop - Bad Cop“ in Personalunion, lenkte mit Kasseler Rippenspeer und Speckstippe ab, um im nächsten Moment über mich herzufallen.
„Sag mal - Du bist doch nicht schwul, oder?“
„Was hat mich verraten? Mein guter Geschmack? Meine Eloquenz? Meine Stilsicherheit? Oder einfach nur mein gutes Aussehen?“
„Dummer Junge!“
Das ist ein weiteres Mysterium in der Eltern-Kind-Beziehung. Man bleibt der ‚dumme Junge‘. Egal, zu welchen Meriten man es im Leben gebracht hat. Ich war immerhin Oberarzt im Stadtkrankenhaus in der Altenwalder Chaussee. Der jüngste Oberarzt, den es dort je gegeben hatte. Und in dem Moment, in dem ich das Haus in der Wissmannstraße betrat, mutierte ich zum ‚dummen Jungen‘. Ich operierte, diagnostizierte, rettete Leben - und blieb trotz allem für meine Mutter ein dummer Junge. Ein Kind. Ein Lausbub, den man nur mal kräftig zusammenstauchen musste, um ihn wieder auf Kurs zu bringen. Ich war sicher, dass sich daran auch nichts ändern würde. Selbst, wenn die Mutter 80, und das Kind 60 war.
Aber das sollte ich nicht erleben. Es traf mich wie ein Keulenschlag. Mit allem hätte ich gerechnet, aber sicher nicht damit, dass sich mein Leben von einer Sekunde zur anderen ändern würde.
Der Anruf erreichte mich während einer Visite auf der Station. Die leitende Schwester rief mich heraus. „Da ist Telefon für Dich. Dringend. Kommst Du bitte mal?“
Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn ich während der Arbeit gestört werde. Ich bin es gewohnt, mich voll auf meine Tätigkeit zu konzentrieren. Das heißt nicht, dass ich nicht nett und verbindlich mit Menschen rede, aber - Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und ein Patientengespräch, auch wenn es dem unerfahrenen Zuhörer entspannt und belanglos erscheinen mag, ist ein professioneller Balance-Akt, der großer Sensibilität und Erfahrung bedarf.
Aus einem solchen Dialog wurde ich ärgerlicherweise herausgerissen. „Was ist den bloß wieder, Wally? Muss das denn sein?“
„Irgendwas mit Deinen Eltern. Ich glaube, da ist etwas passiert.“
In der Tat. Die Darstellung, die der Diensthabende des zuständigen Reviers mir gab, ging dahin, dass meine Eltern kurz vor dem Erreichen der Autobahn Richtung Bremen mit ihrem Wagen ins Schleudern gekommen und mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Gruppe von Straßenbäumen gerast waren. Beide seien schwerverletzt und würden gerade auf die Intensivstation des Stadtkrankenhauses eingeliefert.
In meinem Inneren war da plötzlich ein großes, schwarzes Loch. So, als ob man unterzuckert ist, wissen Sie? So ein flaues Gefühl im Magen. Weiche Knie, Zitternde Hände. Der Schweiß auf meiner Stirn rann in Richtung meiner Augen und begann dort, höllisch zu brennen. Allerdings bin ich als Arzt gewohnt, mit Extremsituationen umzugehen und die Beherrschung nicht zu verlieren.
„Wally, ich bin dann mal auf der Chirurgischen Intensiv!“
Sie nahm mich kurz in den Arm und drückte mich.
„Nimm Dir Zeit. Ich kümmere mich um alles. Und der AiPler kann schon mal die Neuen aufnehmen.“
Papa lag schon in seinem Bett, Mama war noch beim Röntgen, hieß es. Wenn man mir nicht gesagt hätte, dass es sich bei diesem Patienten um meinen Vater handelte, wäre ich an seinem Bett vorbeigelaufen. Das da sollte Papa sein?
Über einen zentralen Zugang liefen Infusionen, diverse Perfusoren. Er war intubiert, der Monitor zeigte beunruhigende, arrhythmische Kurven. Sein Kopf war mit Binden umwickelt, seine Gesichtshaut wächsern, seine Nase ragte seltsam weiß und spitz über der Ziehharmonika des Beatmungsschlauchs hervor. Das Brillenhämatom verriet mir den Bruch seiner Schädelbasis.
„Ihr Vater, Herr Kollege?“ Der Oberarzt der Chirurgie kümmerte sich persönlich. Ich nickte.
„Bitte seien Sie sicher: Wir tun alles, was möglich ist. Die Verletzungen sind sehr schwer. Es spricht einiges für einen Nierenstielabriss. Wir müssen aufmachen, der OP ist schon vorbereitet.“
Ich öffnete den Mund. Der Kollege lächelte. „Ich weiß. Kommt gar nicht infrage. In Ihrer emotionalen Verfassung haben Sie im OP nichts zu suchen.“
In diesem Moment klingelte das Telefon. Einer der Pfleger nahm den Anruf entgegen. „Ist gut, ich sag Bescheid!“ Er stellte das Mobiltelefon zurück in die Ladestation. „Wir haben ein freies Bett! Die angekündigte Patientin braucht es nicht mehr!“
Ich stand im Wohnzimmer des Hauses in der Wissmannstraße 14 b. Mamas Patience-Karten lagen, säuberlich aufgeschichtet, in einem kleinen Stapel auf ihrem Teetisch, neben dem Stövchen, und dem kleinen, in rotes Leder gebundenen Band mit Gedichten von Goethe. In Gold geprägt darauf der Titel, „An meine Mutter“.
In der Küche befand sich das Frühstücksgeschirr bereits in der Spülmaschine. Offenbar hatten sie nicht vorgehabt, lange fortzubleiben. Mama hatte eine Plastikdose mit der Aufschrift ‚Gulasch‘ aus der Tiefkühltruhe genommen und sie zum Auftauen auf den Ablauf des Waschbeckens gestellt.
Die Betten waren penibel gemacht, aufgeschüttelt, glattgestrichen. An der Wand ein Bild, das ich als Kind gemalt hatte. Menschen im Schwimmbad. Überwiegend blau. Durchbrochen von ein paar orangefarbenen Ovalen. Papa, dem ich das Werk geschenkt hatte, hatte es rahmen lassen, mir aber nahegelegt, der Eingebung einer künstlerischen Laufbahn besser nicht näher zu treten. Was ich, ehrlich gesagt, nicht verstand. Im Werkunterricht in der Schule fertigte ich ununterbrochen Weihnachtsgeschenke für die Familie, die deutlich über dem Niveau von mit Goldbronze gestrichenen Walnussschalen als Kerzenhalter lagen. Ich gebe zu, dass meine Keramik-Aschenbecher ziemlich sinnlos waren, da niemand in meiner Familie rauchte, aber die tönernen Vasen und der Saftkrug mit drei passend glasierten Bechern, und die Brieföffner aus Holz wurden mit genau so viel Begeisterung angenommen, wie nötig war, um eine zarte Kinderseele nicht zu verletzen.
Alles wirkte aufgeräumt, wie immer. Allerdings so, als würde im nächsten Moment das vertraute Geräusch von Schlüsseln ertönen, die, sich im Schloss drehend, die Haustür öffneten. Mama würde hereinkommen und schimpfen, ach Junge, warum sagst Du nicht einen Tag vorher, dass Du kommst, dann hätte ich doch Rouladen gemacht, die hast Du doch so gerne, Du weißt schon. Mit Speck, Zwiebel und Gurke, und reichlich Senf! Und Papa würde mich strafend ansehen, und fragen, Du hier? Um diese Zeit? Bist Du gefeuert worden? Um dann in lautes Lachen auszubrechen, mir auf die Schulter zu klopfen und mich in den Garten zu schleppen, um mir das neue Staudenbeet zu zeigen, dass er angelegt hatte. Er liebte Lupinen.
Aber heute blieb alles still.
Es gab so viel zu tun. Der ganze bürokratische Kram wie Totenscheine und Erbschein, Verhöre durch die Polizei - unfallbedingt -, Konferenzen mit dem Bestatter, und dann musste das Haus ausgeräumt werden. Mangels weiterer Verwandter konnte ich davon ausgehen, Alleinerbe zu sein. Und als solcher würde ich das Anwesen verkaufen. Die Kleidung und Haushaltsgegenstände sowie Mobiliar konnte man spenden. Ich würde nur ein paar persönliche Gegenstände behalten, besonders die überreich verzierte Kaffeekanne aus Meißener Porzellan. Papiere. Mamas Schmuck. Einige Schallplatten, CD's und Bücher. Das Klavier? Nein, auf keinen Fall. Beim Gedanken an meine Klavierstunden lief es mir kalt den Rücken herunter. Und über den Fröhlichen Landmann oder Für Elise war ich nie wirklich herausgekommen. Und Czerny-Etüden. Grauenvoll.
Wo bewahrte Mama bloß die ganzen Papiere auf? In dem Raum, der großspurig als „Arbeitszimmer“ bezeichnet wurde, wegen des Sekretärs mit der hochklappendem Schreibplatte, fanden sich Terminkalender, Briefpapier, Glückwunsch- und Grußkarten, von denen Mama immer einen Vorrat hortete, um im Zweifelsfall gerüstet zu sein. In den Regalen Bildbände, Potsdam, Schloss Sanssouci, Die Sixtinische Kapelle, der Petersdom, Ausstellungskataloge von der Fundacio Miró, Toulouse-Lautrec in Paris, Turner - Watercolours.
Im Schlafzimmer untersuchte ich den Kleiderschrank. Auf Papas Seite lagen, säuberlich und fabrikneu verpackt, etliche Oberhemden. Mama hatte ununterbrochen neue Hemden gekauft, das Alte ist schon so abgeschabt, am Kragen, das kannst Du nicht mehr anziehen! Die Leute reden! Schau Dir bloß die Manschetten an. Das geht nicht. Das fällt alles auf mich zurück!
Papa hatte sie gewähren lassen, das neue Hemd bestaunt und war am nächsten Tag wieder in das gewohnte, Rostrote geschlüpft.
Beim Öffnen von Mamas Seite schlug mir ein ohrenbetäubender Duft von Chanel No. 5 entgegen. Ganz unten, verdeckt von ordentlich auf Bügeln hängenden Hosen, Kleidern, Mänteln, fand ich sie. Na also. Eine Holzkiste, etwas größer als ein Schuhkarton. Metallene Beschläge an den Kanten, ein Schloß, in dem allerdings der dazugehörige Schlüssel steckte.
Ich musste lachen. Was sie da nur alles aufbewahrt hatte! Ihren Mutterpass. Impfbescheinigungen! Sogar meine Approbationsurkunde, meine Facharztbescheinigung und die Doktoratsurkunde, die ich ihr als Kopien überreicht hatte, um ihr mit meinen Erfolgen eine Freude zu machen, lagen hier.
Unterlagen der Eheschließung meiner Eltern. Meine Geburtsurkunde. Versicherungspolicen. Sparbücher. Das war’s.
War’s das? Ich drehte die Kiste um und schüttelte sie. Ein Blatt fiel heraus, überschrieben mit dem Wort „Sterbeurkunde“. Mir wurde zum 2. Mal an diesem Tag schwindelig und schwarz vor Augen. Da stand zu meinem Erstaunen mein Name, mein Geburtsdatum und ein weiteres Datum, demzufolge ich etwas mehr als 4 Jahre nach meiner Geburt gestorben war.
Gut dreißig Jahre tot
Ich hatte mich, die Dokumente umklammert, in einen dieser fürchterlichen, mit hellem Cordstoff bezogenen Sessel fallen lassen. Aha. Ich war also seit längerem nicht mehr am Leben. Komisch. Dafür fühlte ich mich doch recht wohl. Wo hatte meine Mutter bloß die Fotoalben aufbewahrt, die sie seit meiner Geburt akribisch geführt hatte, mit Fotos, gepressten Blumen, fremden Banknoten garniert. Was hatte sie nicht alles aufbewahrt: Meine ersten Schulhefte. Zeichnungen. Eine Urkunde von den Bundesjugendspielen - die einzige, die ich je errungen hatte. Sie hatte mit der Sammlung mich betreffender Memorabilia erst am Ende meiner Schulzeit aufgehört.
Mich betreffend? Wer war denn - ‚mich‘? Wer war ich? Ich konnte doch gar nicht das Kind dieser Eltern sein. Vermutlich war dieses Kind im Alter von 4 Jahren und 7 Monaten einer schweren Krankheit, einem Unfall erlegen, und zur Kompensation des Verlustes hatten sie ein Kind adoptiert. Dieses Kind war in die Rolle des verstorbenen Vorgängers geschlüpft, hatte dessen Kleidung, Spielzeug, Namen, Rolle übernommen. Ja, so musste es gewesen sein. Anders war es zumindest nicht vorstellbar. Oder?
Ich lachte so laut auf, dass, hätte mich jemand dabei beobachtet, dieser geglaubt hätte, dass ich nicht ganz bei Trost wäre. Ich hatte vor kurzem einen Spielfilm gesehen, in dem einige Personen glaubten, reale Menschen zu sein, in Wirklichkeit jedoch Geister waren, die die realen Menschen für Geister hielten. Ein wenig gruselig. Mit Überraschungseffekt am Schluß.
War ich ein Geist? Konnte es sein, dass ich gar nicht existierte? Dass sich mein Tun, meine Aktivitäten nur in meiner Vorstellung abspielten? Haben Geister überhaupt so etwas wie Fantasie? Hatten sie ein Spiegelbild? Konnten sie Materie bewegen? Physischen Schmerz empfinden? Konnte ein Gespenst sich selbst als Gespenst wahrnehmen?
Die Medizin, der ich ja beruflich verhaftet war, erklärte das Erspähen von Gespenstern als Psychose oder wenigstens als Halluzination durch Fehlverarbeitung von Sinnesreizen im Gehirn. Aber das galt ja nur für die, die von der Existenz von Gespenstern aufgrund irgendeiner Sichtung überzeugt waren. War ich, angenommen, ich wäre ein Geist, ein feinstoffliches Gebilde, zu einer derartigen Selbstwahrnehmung in der Lage?
Ich betrat das Badezimmer und betrachtete nachdenklich mein Spiegelbild. Mit dem Zeigefinger bohrte ich auf meiner Stirn und in meinen Wangen herum. Ich betastete die Narbe an der linken Augenbraue. Schließlich ergriff ich die kleine Nagelschere meiner Mutter und stach mir deren Spitze mit Todesverachtung in die Kuppe des linken Zeigefingers.
„Autsch!“
Komisch. Der Anblick von Blut sollte für einen Arzt nichts Ungewöhnliches sein, nicht wahr? Der Anblick meines eigenen Bluts, das sich als dunkelroter, sich rasch vergrößernder Tropfen auf der Fingerspitze zeigte, verursachte mir Übelkeit. Übelkeit und, zugegeben, Erleichterung. Geister bluteten nicht. Meine Überlegungen waren abstrus. Unlogisch. Idiotisch. Aber man bekommt ja nicht jeden Tag eine amtliche Bestätigung darüber, dass man gar nicht mehr am Leben ist. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege.
Wo mochte Mama die Alben aufbewahrt haben?
Ich machte mich auf die Suche. Bücherregal? Fehlanzeige. Unten im Sekretär? Nichts.
Als nächstes musste der Wohnzimmerschrank herhalten, aber auch er schwieg sich über das Geheimnis meiner Existenz aus.
Auf dem Flur stand eine Truhe aus Campherholz. Mama bewahrte darin zwei Pelzjacken auf, die sie ohnehin nicht mehr trug. Ich erinnerte mich daran, dass diese Truhe, wann immer das Wetter sich änderte, des Nachts unheimliche, knarrende Geräusche von sich gab. Beim Hochklappen des Deckels entwich der stechende, an Eukalyptus erinnernde Geruch des Holzes. Mama mit ihren dämlichen Pelzjacken. Nerz und Persianer. Sie hatte sich von dem Mist nicht trennen können. Darunter lagen sie. 10 große Fotoalben. Das Erste mit einem bräunlichen Leineneinband, der schon etwas zerschlissen war. Und Motiven aus dem Struwwelpeter. Das Album endete mit meinem 3. Geburtstag. Mit gespannter Aufregung öffnete ich den 2. Band. Braunes Kunstleder. Ich blätterte. 4. Geburtstag. 5. Geburtstag. Der Skiurlaub in Südtirol. Fotos von Oma beim Einkochen. Der 1. Schultag. Kein Wort von Todesfällen, Adoptionen und dergleichen. Ich betrachtete die Fotos genau. Es konnte kein Zweifel bestehen. Bei dem Vierjährigen und dem Fünfjährigen handelte es sich um dasselbe Kind. Man sah eine Verletzung an der linken Augenbraue, die ich mir durch den dummen Sturz zugezogen hatte, deutlich auf allen Fotos. Die Narbe, die ich noch eben untersucht hatte.
Ich beförderte die Alben in den Kofferraum meines Wagens, und machte mich auf den Heimweg. Wer konnte mir Auskunft über meinen Tod geben? Wo war ich gestorben? Im Stadtkrankenhaus wohlmöglich? Ich musste versuchen, im Archiv die Akte zu finden.
Zudem war ich getauft, am Geburtstag meiner Mutter. Ich selbst war am 12. April 1982 geboren, meine Taufe fand am 6. Oktober desselben Jahres statt. Mit diesen Angaben würde ich im Kirchenbüro vorstellig werden. Wenn dort Eintragungen über meine Geburt zu finden waren, musste auch etwas über mein Ableben notiert sein. Vielleicht sogar über meine Beisetzung, und meine Grabstätte.
Das Telefon klingelte. Ich hörte es durch die geschlossene Wohnungstür, die ich jetzt hastig aufzuschließen versuchte, was nicht ganz einfach war. Immerhin hatte ich die schweren Taschen mit den Fotoalben nach oben geschleppt. Meine Finger waren davon etwas unbeweglich geworden, weil die Plastikgriffe sich in das Fleisch eingegraben und die Nerven und Blutgefäße in ihrer Funktion behindert hatten. Ich ließ die Taschen auf den Boden fallen, stieß die Tür mit dem Fuß zu und hechtete an den Apparat.
„Bitte? Ja, der bin ich. - Um wieviel Uhr, denn? Wissen Sie, ich bin berufstätig, und ich müsste - ach so. Und es besteht kein Zweifel?“
Ich konnte kaum glauben, was der Beamte der Kripo da andeutete.
„Dann glauben Sie, dass es - Mord war?“
Die Geschichte begann, meine Vorstellungskraft arg zu strapazieren. Meine Familie war ausgelöscht, und das Ganze, wie mir auf dem Polizeirevier versichert wurde, war auf eine derart unoriginelle Weise passiert, dass kein Krimi-Autor das in seinem Plot verwenden würde. Sie ahnen es? Die Bremsen waren manipuliert worden. Bitte. Ist doch blöd, oder? Was ich weniger witzig fand, war, dass der mit mir sprechende Beamte plötzlich zum mich verhörenden Beamten mutierte. Ich sah mich plötzlich in der Situation, mich rechtfertigen zu müssen dafür, dass ich niemanden benennen konnte, der in der Lage war, zu bezeugen, dass ich am Tag vor dem Unfall brav zu Hause irgendeine Comedy-Sendung angesehen hatte. Wer ahnt denn auch sowas? Ich erinnerte mich an amerikanische Fernsehserien.
„Ich sage nichts mehr ohne meinen Anwalt!“
Hätten Sie das auch so gemacht? Ich meine, waren sie schon einmal Verdächtiger in einer derartigen Untersuchung? Ein Patient hat mich einmal verklagt, weil er der Auffassung war, dass ich mich eines Kunstfehlers schuldig gemacht hätte. Unnötig zu sagen, dass dem nicht so war. Aber als Mordverdächtiger? Noch dazu bei einem Mord an den eigenen Eltern?
Wobei - wer sagte mir denn, dass es sich um meine Eltern handelte? Ich konnte doch, wie schon gesagt, genauso gut adoptiert sein. Vielleicht sah ich dem verblichenen fast Fünfjährigen einfach nur sehr ähnlich. Ich musste nachher noch einmal die Bilder meiner Eltern - wenn sie es denn waren - genau ansehen. Es gab immer mal Bekannte, Verwandte, Freunde, die in Jubelschreie ausbrachen, „nein, der Junge! Der ist Euch ja wie aus dem Gesicht geschnitten!“ oder, kumpelhaft meinem Vater auf die Schulter klopften, „na, bei dem Jungen kannst Du die Vaterschaft aber auch nicht abstreiten!“
Aber was sagt man nicht alles so dahin? Vielleicht wollten sie meinen Eltern auch eine Freude machen? Wie man manchmal bei einem frischgeborenen Säugling sagt, Gott, ist der aber niedlich, um die Eltern zu beruhigen. Dabei ähnelt das schrumpelige Gebilde eher einem deformierten Pinselohr-Affen. Aber kann man das einer Mutter antun, nach über neun Monaten Schwangerschaft?
Mir war der Mord an meinen Eltern unterstellt worden. Was tut ein guter Mordermittler? Er fragt nach dem Motiv.
Nicht wahr, da staunen Sie! Aber das Fernsehen bildet wirklich fort. Navy CIS, Rizzoli und Isles, Soko Wasweißichwo ... na gut. Was aber sollte denn mein Motiv sein? Außer, dass meine Mutter mir mit ihrer manipulativen Überfürsorglichkeit immer wieder auf die Nerven ging? Mein Vater hielt sich aus allem heraus, was vermutlich das Weiseste war, was er tun konnte. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass er nur einmal auf meiner Seite gestanden hätte. Nur einmal. Offen gegen meine Mutter aufbegehrend. Ich vergesse nie den Tag meines mündlichen Abiturs, an dem ich versuchte, meine Zensur in Deutsch zu verbessern, was mir allerdings durch einen böswilligen Trick meines Lehrers versagt wurde. Als ich heimkam, stürzte sie mir entgegen, mich fragend ansehend. Ich schüttelte den Kopf. Tränen der Verbitterung schossen ihr in die Augen. Hatte der undankbare Sohn wohlmöglich nicht genug gekämpft? Immer hatte sie alles aufgegeben, nur damit der Junge ein besseres Leben führen konnte, und so dankte er es jetzt.
Mein Vater kam in mein Zimmer, einen Geldschein in der Hand. „Gratuliere zum Super-Abitur.“ Drückte mir den Schein in die Hand, und verschwand. Nicht vor seiner Gattin, wohlgemerkt. Damit hätte er ja gegen sie für mich Partei ergriffen.
Aber all das reichte nicht aus, um sie umzubringen, oder? Ich habe meine Blessuren davongetragen, sicher. Aber ich bin kein Psychopath. Kein Soziopath.
Es hatte keinen Sinn mehr, heute noch in die Klinik zu fahren. Gleich morgen würde ich nach den Operationen ins Archiv gehen, und einen Termin mit Pastor Speckmann von der Petri-Kirche vereinbaren. Irgendeinen Hinweis musste es doch geben, entweder in der Krankenakte meiner Mutter, oder im Tauf- und Geburtenregister der Gemeinde.
Ich war höchst erstaunt, dass die Tür zu meiner Wohnung einen Spalt offen stand. Ich weiß genau, dass ich am Morgen abgeschlossen hatte. Ich verlasse die Wohnung nie, ohne die Fenster verriegelt, den Herd kontrolliert und das Licht ausgeschaltet zu haben, wobei ich, einem kleinen Ritual gleich, jeden Lichtschalter 4 Mal an- und wieder ausknipse.
Einen Moment blieb ich reglos stehen. Ich hörte Stimmen. Eine Männliche, einer Weibliche.
„Ich habe Dir gesagt, dass das eine Nummer zu groß für Dich ist!“
„Du dumme Schlampe! Wenn Du Schiss hast, dann hau doch ab!“
„Ohne mich bist Du doch völlig aufgeschmissen!“
„Ey, Du bist einfach nur billig!“
„Komm mal klar mit Deinem Leben!“
„Scheiße, die Bullen!“
Das Martinshorn war zu hören. Leise zunächst, dann immer lauter.
Es polterte heftig. Hastige Schritte. Glas zerbrach.
„Los, lass uns abhauen!“
Jeden Moment mussten die beiden die Tür aufstoßen und auf den Hausflur rennen, um der Polizei zu entkommen. Ich ging in Deckung. Ich war mir der Gefahr bewußt.
Als sich nach einigen Minuten nichts tat, schaute ich hinter dem Treppenabsatz hervor.
Erneut Stimmen aus meiner Wohnung. Zwei Männerstimmen diesmal, die sich kurze Kommandos zuriefen. Langsam dämmerte es mir. Vorsichtig stieß ich die Tür vollends auf und betrat den Flur. Die Einbrecher hatten ganze Arbeit geleistet. Jeder Schrank war geöffnet, alles, was sich wohlgeordnet in ihnen befunden hatte, war auf dem Boden verteilt worden. Die Matratze meines Bettes sowie die Polster des Sessels und Sofas waren aufgeschlitzt worden. Der Fernseher lief in voller Lautstärke.
In der Mitte des Wohnzimmers befand sich ein Glasgefäß auf dem Boden. Ein rundes Glas mit einer klaren, gelblichen Flüssigkeit, dessen Inhalt mich mit Entsetzen erfüllte.
( So langsam wird es Zeit, dass ich mal mit der Fortsetzungsgeschichte weitermache. Auch, wenn ich mit ihr nicht jeden Leser da abhole, wo er steht, nicht wahr, Claudia? Sie erinnern sich? Nein, es handelt sich NICHT UM EIN BUCH! 😄 Meine Eltern sind tödlich verunglückt, und ich entdecke ein Dokument, demzufolge ich seit 30 Jahren tot bin. Jemand ist bei mir eingebrochen, und mitten im Zimmer steht dieses eigenartige Glas auf dem Boden ... )
Krabbencurry und ein Mord
Es erinnerte in fataler Weise an die Marmeladengläser meiner Großmutter, Quitten-, Birnen-, oder Apfelgelee. O Gott, wie habe ich das Zeug gehaßt! Nicht, weil ich Marmelade nicht mochte. Aber Oma warf immer etwas Zimt und eine von diesen ekelhaften Gewürznelken hinein. Und genau diese Aromen lagen jetzt und hier in der Luft. In der bernsteinfarbenen, zähen Flüssigkeit schwebte ein geflügeltes Insekt.
Kennen Sie das auch? Man sieht etwas. Man riecht, hört oder schmeckt etwas. Ein typisch geformtes Glas. Den Duft frisch zubereiteten Kaffees oder gemähten Heus, das in der Sonne trocknet. Den Klang von Kirchenglocken. Déjà-vu. Irgendwie fühlt man sich an etwas erinnert, aber die betreffende Sache oder der Zusammenhang führen einen gelegentlich nur in die Nähe der Erinnerung, nicht ans Ziel.
In diesem Fall ergriff ein ungutes Gefühl Besitz von mir. Das Gefühl von Enge, Angst, Ekel. Ich wußte nicht, ob meine Beklemmung daher rührte, dass ganz offenbar Menschen ohne mein Einverständnis in meinen intimsten Lebensbereich eingedrungen waren. Dass sie einen nicht unerheblichen Sachschaden verursacht hatten. Oder, dass ich dem Geheimnis meines frühen Todes noch nicht einmal ansatzweise auf die Spur gekommen war? Und auch nicht dem Ableben meiner Eltern, an dem man mir die Schuld gegeben hatte? Das Atmen fiel mir schwer. Ich fühlte mich wie bei einem Herzinfarkt. Ein unsichtbarer Gürtel zog sich über meinem Brustkorb zusammen.
Ich erholte mich schnell. Nachdenklich machte ich mich daran, das, was zerstört worden war, in großen, blauen Plastik-Müllsäcken zu verstauen. Komisch. Jeder, der in einer Klinik arbeitet, hat diese Müllsäcke zu Hause. Und Leukosilk-Pflaster, um sie zu verschließen.
Wehmütig dachte ich an die schöne Zeit in der Uniklinik zurück. Wenn man dort etwas Archiviertes suchte, füllte man ein entsprechendes Formular aus, und fand nach ca. 3 Stunden in seinem Fach eine dezente Papiertüte mit Mikrofiches. Dann brauchte man nur noch ein Lesegerät, und konnte die gewünschten Inhalte darstellen.
Das Stadtkrankenhaus war im Vergleich zum Klinikum winzig. Eine regelrechte „Klitsche“, wie man gern abfällig äußerte. Entsprechend war auch das „Archiv“ ein Kellerraum, in welchem sich mit Patientenakten gefüllte Kartons befanden. Originellerweise lag das Archiv genau neben dem Leichenkeller, in dem sich vermutlich noch meine Eltern befanden und auf die Abholung durch den Bestatter warteten.
Das Öffnen der Tür verursachte eine Staubwolke. Ich hustete.
Die Beschriftung der Kartons war schwer zu erkennen. Im Laufe der Zeit war die Schrift verblasst, und die Schmutzschicht erschwerte mir das Auffinden der Jahrgänge. Das heißt, mein Geburtsjahr, 1982, war deutlich zu lesen. Irgendjemand hatte das Schild vor Kurzem gesucht. Der Kasten mit dem Zeichen „4/82“ war offensichtlich vor kurzem geöffnet worden. Da lag die Akte meiner Mutter mit dem gynäkologisch-geburtshilflichen Bericht. Gesunder Knabe. 50 cm lang, 2950 g schwer. Sectio. Und das war auch schon alles. Ein paar Blutwerte, wenig Untersuchungsbefunde. Es fehlten der Bericht über die Kaiserschnitt-Entbindung sowie der Bericht über den Neugeborenen-Status, außerdem das Anästhesie-Protokoll. Nirgendwo war auch nur ein Medikament notiert.
Ich war also kein Zwilling, so viel war den vorhandenen Unterlagen entnehmen. Gesicherte Erkenntnisse konnte ich nicht gewinnen. Es existierte auch kein Hinweis auf eine Erkrankung, die mich bereits zum Zeitpunkt meiner Geburt für einen frühen Tod hätte prädestinieren können. Was noch geschehen war, an diesem 12. April, war nirgendwo notiert.
Naja. Vermutlich war es vermerkt, aber irgendjemand hatte die Unterlagen entfernt, und wohlmöglich vernichtet.
Ich hatte mit Pastor Speckmann einen Termin vereinbart, um das Tauf- und Sterberegister einsehen zu können. Ich hasste es, unpünktlich zu sein, deswegen musste ich mich sputen, um im Feierabendverkehr von Stadtkrankenhaus in die Petri-Kirche zu gelangen.
Was war das? Bereits am Lichtenbergplatz in Höhe der Kaiser-Apotheke fielen mir in den Scheiben der Fenster zuckende, blaue Lichtreflexe auf. Auf dem Platz vor der Kirche standen etliche Polizeiwagen, der Notarzt- und ein Krankenwagen. Ich sprang aus meinem Wagen. „Bitte lassen Sie mich vorbei. Ich bin Arzt!“
Ich liebte es, diesen Satz zu sagen. Er verlieh mir Bedeutung, Würde, Wichtigkeit und verschaffte mir Respekt, der mir ohne Titel nie entgegengebracht worden wäre. Ein uniformierter Mann in Grün stellte sich mir entgegen. „Ey, lass den mal durch, der ist Arzt!“
„Den braucht DER nicht mehr“, behauptete sein Kollege.
Die Einschussstelle an Pastor Speckmanns rechter Schläfe wies erhebliche Schmauchspuren auf. Der Schuss musste aus nächster Nähe abgefeuert worden sein. Frau Neugebauer, die Sekretärin, hatte sich bei der Rückkehr aus ihrer Kaffeepause versichern wollen, dass der Pastor seinen Termin mit mir nicht vergessen, und dass sie die Folianten mit den betreffenden Einträgen bereits vorbereitet hatte.
„Die Jahrgänge 1982 sowie 1986“, schluchzte sie. Tränen tropften auf ihren grauen Pullover, dessen Kunstfasern allerdings ein Nasswerden verhinderten. „Wer macht so etwas, in unserer beschaulichen, kleinen Stadt? Können Sie mir das erklären? Wer macht so etwas bloß? In Bremen, na gut. In Hamburg, sowieso. Aber hier?“
„Sind Sie denn sicher, dass Pastor Speckmann nicht vielleicht selbst ...?“
„Diesen Gedanken schlagen Sie sich mal gleich aus dem Kopf! Ein Mann Gottes! Selbstmord! Na so was! Völlig ausgeschlossen!“ Empörung hatte von Frau Neugebauers Stimme Besitz ergriffen.
Sie versenkte ihre rote Nase in einem Papiertaschentuch. Das Geräusch, das ertönte, klang unaufdringlich, mehr wie ein Zischen. „Hilft es Ihnen, Herr Doktor, wenn Sie allein in die Register schauen? Moment, ich hole mal die Bücher. Die Polizei hat mir eingeschärft, dass das Nebenzimmer ein Tatort ist und dass ich nichts anfassen soll!“ Mit fahrigen Fingern ordnete sie sich die Haare, wischte sich mit den Handrücken über die Augen. Sie hastete in das Büro von Pastor Speckmann und kehrte mit den beiden, in ihren Armen riesig wirkenden Büchern zurück.
„Hier, ich habe sogar Lesezeichen hineingelegt!“ Ihre Stimme klang trotzig, als sei sie entschlossen, ihre Pflicht unnachgiebig zu erfüllen, egal unter welchen Umständen.
Wer auch immer dem Leben des Seelenhirten ein Ende gesetzt hatte - er ( oder vielleicht auch sie ) hatte ganze Arbeit geleistet. Die Seiten fehlten. Dank der Lesezeichen hatte der Täter nicht so lange suchen müssen, nach dem, was wichtig war.
In diesem Moment wurde mir klar, dass auch die beiden Bücher zum Tatort gehörten, und dass nunmehr auch meine Fingerabdrücke auf den Einbänden und den verbliebenen Seiten zu finden waren.
„Mein Gott, sind Sie dämlich“, schimpfte der Polizeibeamte, dem ich meine leichtsinnige Aktion beichtete. „Falls der Täter, und davon ist auszugehen, Handschuhe getragen hat, sind nur noch Ihre Fingerabdrücke, die des Geistlichen und der Sekretärin zu finden. Was glauben Sie, was für Schlüsse wir daraus ziehen werden?“
„Aber ich habe doch ein Alibi! Ich war zur Tatzeit vermutlich noch in der Klinik!“
„Das werden wir sehen!“ Es klang sie eine Drohung.
Und in seinen Bart murmelte er, „Akademiker, aha. Auch noch mit Doktortitel. Blöder geht es ja nicht! Was lernt man eigentlich an der Uni?“
Was für ein Tag! Ich entwickelte einen enormen Appetit. Ob Mama ihre Gewohnheit, große Mengen zu kochen und portionsweise einzufrieren, beibehalten hatte? Das Gulasch, das sie am Tag ihres Todes zum Auftauen herausgenommen hatte, war natürlich ungenießbar geworden. Ein Blick in die Tiefkühltruhe überzeugte mich davon, dass Ihr Organisationstalent bis zu ihrem letzten Tag ungebrochen war.
Fein säuberlich, mit rotem Wachsstift beschriftet, fand ich die Plastikdosen, in Reih' und Glied, über ein paar Metalldosen aufgestapelt, die Älteren vorn, die Neueren hinten. Ich entschied mich für das Krabbencurry mit dem Datum vom 1. August 2017. Papas Geburtstag. Da hatte sie zur Feier des Tages bestimmt extra viel Krabben und eine große Portion Mango-Chutney hineingetan. Irgendwo musste doch auch noch so ein Kochbeutel-Reis herumstehen. Dort. 10 Minuten. So lange würde das Curry in der Mikrowelle auch benötigen.
Ich war gerade dabei, den Beutel mit dem Reis aus dem kochenden Wasser zu angeln, als das Telefon klingelte.
„Ja bitte?“
Der Anrufer schien nicht damit gerechnet zu haben, dass jemand den Anruf entgegen nahm. Ich konnte deutlich die Atemzüge hören. Es vergingen einige Minuten. „Hallo? Schweigen widerspricht dem Sinn eines Telefons. So reden Sie endlich!“
‚PING‘, machte in diesem Moment die Mikrowelle. Und der Anrufer hatte aufgelegt.
Ich beschloss, den kurzen Weg zwischen meinem designierten Ex-Elternhaus und meiner Wohnung zu Fuß hinter mich zu bringen. Den Wagen würde ich stehenlassen. Etwas Bewegung würde mir guttun. Die Dämmerung war hereingebrochen. Sonst liebte ich die Romantik der „blauen Stunde“. Heute allerdings war es kühl, und ich zog mein Jackett fest an meinem Oberkörper zusammen. Eine dunkle Gestalt tauchte auf der anderen Straßenseite auf. Jemand in einem kurzen Mantel, und mit einem Filzhut. Ein Mann, von seinen Bewegungen und seiner Statur her. Mehr konnte ich nicht erkennen, die Straßenlaternen waren noch nicht angesprungen.
Ich verlangsamte meinen Schritt unwillkürlich. Ich war ganz dankbar, dass der Fremde sich auf der anderen Seite vorwärts bewegte. Man kann ja nie wissen, heutzutage. Ich bin nicht sonderlich furchtsam, aber nach dem, was ich heute so erlebt hatte, war ich doch etwas dünnhäutiger geworden. Was, wenn das der Mörder des unglücklichen Pastors war?
Plötzlich hielt der Mann kurz inne, und kam schnellen Schritts direkt auf mich zu. Ich erstarrte. Panik ergriff mich. Für Flucht war es zu spät. Er hätte mich mühelos einholen können. In diesem Moment flackerte die Laterne auf und tauchte die Szene in ein grelles Licht. Das Gesicht des Fremden war schneeweiß. Schmale dunkle Augen. Er starrte mich an, erschrocken, bildete ich mir ein. Öffnete den Mund. Ein überraschtes Geräusch. Er machte ein, zwei Schritte zurück, blieb stehen. Plötzlich rannte er los, in die Richtung, aus der er gekommen war.
Er hat die Antwort, schoss es mir durch den Kopf. Er hat die Antwort auf meine Fragen. Er weiß, dass ich tot bin. Er weiß, warum ich tot bin. Er war vielleicht meine einzige Chance. Ich musste mit ihm reden.
Ich rannte in dieselbe Richtung, die er für seine Flucht gewählt hatte. Es lag ein Aroma in der Luft, billiges Rasierwasser, Schweiß, eine Pheromon-Mischung, der ich folgen könnte wie ein Bluthund. Ich nahm sein Keuchen wahr, immer lauter. Er war stehengeblieben, der Oberkörper vornübergebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Er rang nach Luft. Er bemerkte mich, und wich zurück.
„Bitte“, schnaufte ich, „wir müssen reden. Kennen Sie mich?“
Er nickte. „Erinnern Sie sich nicht? Wir kennen Sie alle!“
„Wie - uns alle? Und wer ist wir?“
„Die komplette Produktion!“
Ich verstand nichts. Was für eine Produktion meinte er?
Plötzlich ertönten Schritte, die sich hastig näherten. Ein Mann, mit einem kurzen Mantel, und einem Filzhut. Sein Gesicht, aus dem zwei dunkle, schmale Augen mich ansahen, leuchtete schneeweiß. Er glich dem Ersten aufs Haar ....
Pathologin mit Humor
Verblüfft blickte ich vom einen zum anderen. „Spätestens jetzt müssten Sie wissen“, sagte Filzhut Nr. 2, „was los ist.“
„Du verlangst zu viel“, beschwichtigte ihn Nr. 1. „Denk daran: Wir haben auch gebraucht, bis wir die Wahrheit herausfanden!“
„Entschuldigung, aber wäre einer der Herren vielleicht so freundlich, mir zu erläutern, wovon Sie sprechen? WAS müsste ich wissen, und warum?“
Die beiden sahen sich nervös um. Wie Tiere, die in einer Falle saßen. „Wir reden, aber nicht hier. Sie wohnen doch hier in der Nähe. Gehen wir zu Ihnen!“
Ich ersparte mir die Frage, woher die beiden Zwillinge das wussten. Meine Wohnung lag tatsächlich nur wenige Schritte entfernt, und so wenig es mir behagte, wildfremde Menschen in meine Behausung zu lassen, so neugierig war ich, endlich hinter das Geheimnis unserer Existenz und meines ach so frühen Ablebens zu kommen.
„Möchten Sie etwas trinken?“ Mama wäre stolz auf mich gewesen, dachte ich grinsend. Eine unwägbare Situation, und trotzdem blieb ich kühl, gefasst, perfekt. Ganz Herr der Lage. Jetzt war ich Gastgeber.
„Haben Sie ein Wasser?“
Ich nahm das Mineralwasser aus dem Kühlschrank, goss zwei Gläser ein und stellte diese vor meine Gäste. „Bitteschön!“
Beide Herren griffen nach den Gläsern und tranken. Was dann geschah, hatte ich nicht erwartet. Es dauerte nur wenige Sekunden, und es ging so schnell, dass mir keine Zeit blieb, adäquate Maßnahmen zu ergreifen.
Nr. 1 riss entsetzt die Augen auf. Er sprang aus dem Sessel, auf den er sich hatte fallen lassen, auf, griff sich an den Hals, röchelte. Schaum trat ihm aus Mund und Nase. Zeitgleich verdrehte Nr. 2 die Augen. Keuchend streckte er die Hand in meine Richtung, als erwartete er Hilfe. Dann hustete auch er blutigen Schleim und Schaum hervor.
Ich betrachtete für ein paar Zehntelsekunden die Szene. Sie müssen verstehen, dass ich als Arzt an Notfälle jeder Art gewohnt bin. Aber diese Situation überforderte mich klar. Was ich erkannte, war, dass ärztliche Hilfe hier nichts mehr ausrichten konnte. Beide Männer waren tot. Gift, sicherlich. Beim Ertasten des Pulses stellte ich fest, dass beide sich heiß anfühlten, wie der defekte Akkus eines Mobiltelefons.
Ich ergriff mein Handy und wählte den Notruf der Polizei. Es war etwas schwierig, den Beamten begreiflich zu machen, dass ärztliche Hilfe, wenn sie denn etwas hätte bewirken können, in meiner Person bereits vor Ort war. „Nein, ich bin selbst Arzt, und ich versichere Ihnen, dass beide Männer tot sind!“
Ich war nicht schlecht erstaunt, dass, als ich auf stürmisches Klingeln hin, die Wohnungstür öffnete, Rettungssanitäter hereinstürmten. „Wo befindet sich der Patient?“
„DIE PatienTEN befinden sich im Wohnzimmer.“
Die Herren mit den orangefarbenen Westen stürmten an mir vorbei. „Na sagen Sie mal - die sind tot! Weswegen haben Sie uns denn angerufen?“
Ich benötigte einige Zeit, um zu erklären, dass die Idee, eine Ambulanz zu rufen, nicht auf meinem Mist gewachsen war. Murrend, und unter dem Hinweis auf wichtige Einsätze, die wegen dieser Lappalie erst verspätet wahrgenommen werden konnten, verzogen sich die Sanitäter so geräuschvoll, weil sie die Szene betreten hatten.
Da ließ sich die Polizei deutlich mehr Zeit. Entspannt schlenderten die Uniformierten ins Wohnzimmer. Ich schilderte den Hergang des Geschehens, beantwortete Fragen, für die ich selbst keine Erklärung hatte. Ich stieß nur auf Misstrauen und zweifelnde Blicke. Die Beamten sahen sich nach fast jedem meiner Sätze an, als glaubten sie mir kein Wort, hielten es aber für besser, mich nicht zu reizen, aus Sorge vor einer unberechenbaren Reaktion meinerseits.
Ich war fast dankbar, als die Spurensicherung und die Kollegin von der Gerichtsmedizin eintrafen. Sie musterte mich durch dicke Brillengläser, die ihre Augen skurril vergrößerten. „Was? Sie hier? Wir kennen uns, Kollege!“ Ich blickte dankbar zu ihr auf. „Gottseidank!“, stieß ich erleichtert hervor. „Endlich jemand, der mich kennt und weiß, dass ich zu einem Mord nie fähig wäre!“ Sie lachte laut auf. „Aaach, wissen Sie - wenn das Motiv stimmt, ist JEDER zu einem Mord in der Lage! Wenn ich beispielsweise an meine Ex-Schwiegermutter denke!“
Na prima. Auch Sie war gegen mich. „Welches Gift haben sie denn verwendet? Zyankali?“ mir wurde schwarz vor Augen. Mein Kreislauf drohte, zu versagen. Ich klammerte mich am Regal fest.
„Aber so glauben sie mir doch! Ich habe nichts damit zu tun!“
Frau Doktor brach in heiteres Gelächter aus. „War nur ein Scherz!“, rief sie gutgelaunt. „Nun gucken Sie doch nicht so verbiestert!“
Sie entnahm aus den Mündern der Verstorbenen einige Proben. „Aaaah - ja! Das ist typisch! Ich habe es mir gedacht!“
„ Ihre Diagnose, Frau Kollegin?“
„Eine neuartige Modifikation des Rizin. Unfassbar schnell wirksam. Ein Antitoxin gibt es noch nicht. Wer das hier zu verantworten hat, kannte sich gut aus!“, sagte sie mit einem Unterton, der keinen Widerspruch zuließ. Ich versuchte es trotzdem. „Dauert das nicht mindestens eine Stunde, bis die Wirkung eintritt?“, erkundigte ich mich vorsichtig. Sie sah mich mit ihren riesigen Augen an.
„Nicht unbedingt. Es hängt alles von der Konzentration ab“, meinte die pathologische Fachkraft. „Dosis facit venenum - aber das ist ihnen ja sicher bekannt!“
Ein freundlich wirkender, älterer Herr betrat die Szene. Er hielt eine Schale mit Currywurst-Stückchen in der Hand, die er mittels einer kleinen Plastikgabel traktierte. Auch sonst schien er gustatorischen Genüssen nicht abgeneigt zu sein. „Ein Knaller, diese Currywurst“,schmatzte er. „Von dem Imbissstand am Schleusenpriel! Unglaublich!“ Ein Tropfen Ketchup hatte sich in seinem ausgeprägten Mundwinkel niedergelassen und drohte, seitlich in Richtung Kinn abzuwandern.
Er inspizierte den Tatort. „Zwillinge, offenbar. Das hatten wir bisher noch nicht.“ Er stocherte in der Pappschale herum. „Alle. Schade. Ich glaube, auf dem Weg nach Hause hole ich mir noch eine Portion!“ Er stellte die Schale auf dem Wohnzimmertisch ab und wandte sich um. „Wer waren die beiden? Verwandte von Ihnen?“, fragte er mich.
„Nein, ich kenne die beiden nicht, und ich habe sie nie zuvor gesehen!“
„Pflegen sie häufiger, unbekannte Männer mit in ihre Wohnung zu nehmen und zu vergiften?“
„Aber ich habe doch gar nicht -“
„Ein Scherz! Das war ein Scherz! Regen sie sich nicht auf!“
Natürlich regte ich mich auf.
„Sie sind ja ein personifizierter Komödienstadl! Makaberer Humor, wirklich!“
„Irgendwelche Auffälligkeiten bis jetzt?“ Die Mitarbeiter der Spurensicherung schüttelten die Häupter. „Wie lange sind die beiden tot?“ Die medizinische Gutachterin, an die diese Frage gerichtet war, nickte zu mir herüber. „Ich kenne den Kollegen hier aus der hiesigen Klinik. An seiner Aussage besteht kein Zweifel. Der Exitus ist keine halbe Stunde her.“
„Fingerabdrücke?“
„Jede Menge. Überall.“
„Spuren an den Leichen?“
„Was erwarten Sie eigentlich, Herr Kommissar? Außer der Zyanose in den Gesichtern und den ikterischen Skleren bei Verdacht auf Hämolyse kann ich Ihnen über die zu erwartenden Schäden anm Magen-Darm-Trakt sowie Leber und Nieren erst etwas sagen, wenn ich die beiden Schönheiten hier auf dem Tisch habe! - Ach, und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie damit aufhören könnten, mir auf den Busen zu starren!“ Mit einiger Empörung rauschte sie aus dem Raum.
Der Kommissar grinste. „Ich starre nicht. Für mich ist das Augenhöhe.“, rief er ihr hinterher. Er grinste mich heiter an, warf ein beiläufiges „Sie halten sich bitte zur Verfügung“ hin, und ließ mich in einem eher unaufgeräumten psychischen Zustand zurück.
Ich war froh, dass die Leichenwagen meine beiden Besucher abtransportiert hatten. Trotzdem hatte ich nicht das Gefühl, dass meine Wohnung wieder mir gehörte. Im Moment des Todes hatten die beiden Filzhutträger durch den Kontrollverlust der Schließmuskeln Urin verloren, und der Schaum, der ihnen aus Mund und Nase gequollen war, hatte sich verflüssigt und große Flecken auf den Sesseln hinterlassen. Gleich Morgen würde ich mich darum kümmern, dass die Möbel abgeholt würden. Und am Wochenende mußte ich neue Sitzgelegenheiten kaufen.
„Eine Frage, ganz persönlicher Natur!“
Ich fuhr zusammen. Mein Herz klopfte ein paar Extrasystolen. Mein Gott, hatte der Kerl mich erschreckt! „Können sie nicht klopfen, oder klingeln, oder husten, oder sich irgendwie sonst bemerkbar machen, wie andere Kommissare auch?“
„Das ist nun der Dank! Ich mache mir Sorgen um sie, und werde dafür angeblafft!“
„Wieso - Sorgen?“
„Das wollte ich eben fragen, bevor sie mich anschrieen! Haben Sie Feinde?“
„Ich? Feinde? Wieso das denn? Natürlich nicht!“
„Neidische Kollegen? Eifersüchtige Liebhaber? Ein Verwandter, der sich mit ihnen streitet?“
„Nicht, dass ich wüsste! Meine einzigen Verwandten sind gerade gestorben, bei einem Verkehrsunfall!“
Der Kommissar kam dicht auf mich zu. Er sah zu mir auf. „Das waren IHRE Eltern? Interessant!“, murmelte er. „Wir gehen da allerdings von einem Anschlag aus. Die Bremsen waren immerhin nicht in Ordnung. Es scheint eine Verbindung zu einem Mord zu geben, der sich hier kürzlich -“
„Der Mord an Pastor Speckmann?“
„Komisch, nicht? Überall taucht ihr Name auf, Herr Doktor. Glauben sie an so viel Zufälle?“ Er zögerte kurz, dann fuhr er fort.
„Ihnen ist schon klar“, sagte er leise zu mir, „dass der Giftanschlag IHNEN gegolten hat, nicht wahr?“
„Mir? Aber -„
„Hätten sie nicht zufällig Besuch mitgebracht, wer hätte denn von dem Mineralwasser getrunken?“
Der Schweiß trat mir auf die Stirn. Und wieder fühlte ich mich wie ein Diabetiker, kurz vor dem hypoglykämischen Schock. Sie erinnern sich. Als ich die Nachricht vom Tod meiner Eltern erhielt. Flau, schwarz. Mir wurde schwindelig. Ich klammerte mich am Esstisch fest und sank auf einen der Stühle.
Der Kommissar öffnete den Mund, dann schloss er ihn wieder.
Einen Moment hielt er nachdenklich inne. Mir schien es, als wollte er noch etwas sagen.
„Ja. Und?“
Er ließ den Gedanken fallen.
„Ist es in Ordnung, wenn ich die Currywurst-Schale hier lasse?“
( Leute, ich bitte Euch! ‚Ist es in Ordnung, wenn ich die Currywurst-Schale hierlasse!‘ Was hat der Kommissar erwartet? Dass ich sage Nein, bitte entsorgen Sie Ihren Müll auf dem Revier? Meine Wohnung gleicht inzwischen ohnehin einer Müllhalde. Der Einbruch, der Doppelmord - nein, wie zu Hause fühlte ich mich dort schon lange nicht mehr. Aber findet mal bezahlbaren Wohnraum! Jaja. Ich weiß. Du bist doch Arzt! Oberarzt, sogar! Ach, wenn ihr wüßtet! Deswegen schreibe ich doch so viel! Um mir ein kleines Zubrot zu verdienen. Ich habe nämlich viel Hunger. Deswegen habe ich das nächste Kapitel betitelt: )
Das Kapitel, in dem ziemlich viel gegessen wird
Ja, natürlich war das in Ordnung. Ich war auch gerade viel zu verwirrt, um zu widersprechen. „Ich breche dann mal auf.“, betonte mein letzter verbliebener Besucher. „Zum Schleusenpriel. Noch eine Wurst kaufen. Hunger habe ich zwar keinen mehr, aber - es schmeckt einfach zu und zu gut!“
Es war kurz vor Mitternacht. Ich konnte kaum die Augen offenhalten. Ob die Wurstbude noch geöffnet war? Hunger hatte ich zwar auch. Allerdings hatte die Spurensicherung den Inhalt komplett ausgeräumt, nur eine Salatgurke und drei einsame Radieschen lagen im Gemüsefach. Aber ich hätte mich ohnehin nicht getraut, etwas von meinen Vorräten anzurühren. Currywurst. Eine doppelte Portion. Das war doch eine brauchbare Alternative. Ein kleiner Imbiss. Und der Schleusenpriel war auch nicht so weit entfernt. In dieser kleinen Stadt war überhaupt nichts ‚so weit entfernt’. Alles war ‚fußläufig zu erreichen‘, zumindest stand das immer in den Immobilienanzeigen.
Ich dachte, nicht nur wegen des Gewürzes, an das Krabbencurry meiner Mutter.
Ich lief den Strichweg herunter, bog in die Schillerstraße ein und schlenderte die Deichstraße entlang. Wie sich die Geschäfte verändert hatten! Der Friseur existierte immer noch, die Buchhandlung hatte inzwischen Besitz ergriffen vom Gloria-Palast, an dessen einstmalige Pracht nur die geschwungene Treppe erinnerte. Die Bleickenschule, das Amtsgericht. Für Bürobedarf schien es keine Verwendung mehr zu geben, auch die zweite Buchhandlung hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Dafür gab es das Fotogeschäft noch.
Komisch, nicht? Man denkt, dass man in einer Stadt lebt. Dabei existiert man dort nur, um seiner Arbeit nachzugehen.Das kulturelle Angebot war natürlich enttäuschend, und eher auf die Kurgäste im Sommer eingestellt. Zum Einkaufen fuhr man in die nahegelegenen Großstädte, auch ins Theater, in die Oper, ins Konzert. Mein Interesse an Filmen konnte ich in dem lausiger kleinen Kino im Zentrum ausleben. Die Leinwände der Säle waren zwar so groß wie ein Strandlaken, aber der Besitzer hatte investiert, so dass man sogar 3D-Projektionen genießen konnte.
„Hier treibst du dich also rum? Vermutlich kommst du gerade von ihr, oder?“
„Entschuldigung?“
„Jetzt tu' bloß nicht so! Verarschen kann ich mich auch allein, da brauch' ich keinen promovierten Akademiker zu!“
„Junge Frau, sie müssen mich mit irgendjemandem verwechseln!“
„Mistkerl!“
Die Ohrfeige, die die billig wirkende junge Dame mir versetzte, brannte in meinem Gesicht. Ihre wütende Tirade klang etwas vernuschelt, und sie schwankte deutlich.
Ich ließ sie ziehen. Mit solchen Frauen gab ich mich nur ungern ab. Nur, wenn es gar nicht anders ging.
Gottseidank. Der Imbiss war noch geöffnet. Zweimal Currywurst. Nein, in einer Schale. Ja gern etwas schärfer, aber nicht zu. Der beleibte Verkäufer lachte. Dabei blitzte ein Goldzahn auf. „Einige Kunden mehr, so wie sie beiden, und ich wäre saniert!“
Ach ja! Ich wusste, worauf er anspielte! „Genau“, lachte ich. „Der Kommissar hat zweimal zugeschlagen! Er erwähnte vor kurzem, dass er Sie heute noch einmal besuchen wollte!“
„Und nicht nur er! Sie sind ja auch schon zum zweiten Mal hier!“
„Wie bitte?“
„Na! Schaschlik! Mit Pommes! Sie waren der mit der Extra-Portion Mayo! Erinnern sie sich nicht?“
„N-nein? Wann soll denn das gewesen sein?“
Versiert warf der Gastronom zwei Würste in ein stählernes Gerät, aus dessen unterer Öffnung nun die Wurstscheiben in eine längliche Pappschale purzelten.
„Auf die Uhr gesehen hab ich natürlich nicht ... doch! Moment! Es war genau 12 Uhr! Mittags! Die Glocken der Martinskirche waren deutlich zu hören. Das können sie doch nicht vergessen haben! Sie haben gemeckert, dass ich die Zigeunersoße Zigeunersoße nenne und gesagt, das sei politisch nicht korrekt, daran erinnere ich mich deutlich! Sie etwa nicht?“
Virtuos jonglierte die Fachkraft mit zwei Gefäßen, die wir überdimensionale Puderdosen wirkten. Gelbes und rotes Pulver. „So, einmal viel Curry, und etwas Chili!“
Mir wurde schon wieder schwindelig. „Vielleicht jemand, der mir ähnlich sah?“
„Ganz - gewiss - nicht!“ Er hob mit einer Kelle heiße rote Soße aus einem eckigen Behälter. „Sie haben sich zwar umgezogen, aber - hey! Was glauben sie? Ich mache den Job hier seit 15 Jahren! Ich bin Profi! Ich kenne meine Kundschaft!“
„Was trug ich denn heute Mittag?“
„Einen kurzen grauen Mantel. Und einen Filzhut. Bitteschön.“
Das ‚Bitteschön‘ bezog sich auf die Schale, die er über die Glasplatte der kleinen Tresens in meine Richtung schon.
„Welche Farbe soll der Spicker haben?“
„Wie bitte?“
„Der Spicker! Die Plastikgabel!“
„Rot, natürlich!“
„Da haben wir's! Genau wie heute Mittag!“
Es bekam mir, wie üblich, nicht, so kurz vor dem Schlafen noch etwas zu essen. An der Qualität der Currywürste lag es nicht. Die waren, wie der Kommissar festgestellt hatte, ausgezeichnet. Mein Schlaf war traumlos - zumindest, soweit mir bewusst war. Es gibt ja Wissenschaftler, die mittels EEG festgestellt haben, das jeder immer träumt. Manchmal jedoch kann man sich nicht mehr daran erinnern. Durch einen gezielten Schlag mit der flachen Hand überzeugte ich das messingfarbene Monstrum neben meinem Bett, sein Lärmen zu beenden. Stöhnend ließ ich mich zurücksinken. Ich fühlte mich wie gerädert. Verschwitzt, und alles andere als erholt. Kurz erwog ich, in der Klinik anzurufen und mich krankzumelden. Dies allerdings widersprach meiner Pflichtauffassung und meiner Kollegialität.
„Stimmt es, was man so hört?“
„Was hast du denn gehört, Schwester Christa?“
„Dass deine Eltern ermordet wurden. Und zwei Männer in deiner Wohnung. Und dass du damit was zu tun hast, auch mit dem Mord an dem armen Pfarrer!“
„Das alles erzählt man sich?“
„Ja.“
„Stimmt nicht. Glaub doch nicht jeden Mist! Sonst noch was?“
„Jetzt sei doch nicht gleich so aggressiv! Ich bin doch auf deiner Seite!“
Da konnte ich ihr nicht widersprechen. Christa war stets loyal gegenüber den Menschen, die sie leiden konnte. „Kommst du mit zum Frühstück?“, fragte ich mit versöhnlichem Unterton. „Nein. Schade. Aber ich hatte auf Station schon ein Brötchen mit Erdbeermarmelade. Und ich muss die Chefvisite vorbereiten. Der Alte ist zur Zeit leicht reizbar.“
„Na, Herr Doktor? Sie können sich ja heute überhaupt nicht von uns trennen!“ Frau Babrack, die Leiterin der Kantine, lachte herzlich. „Was darf es denn sein, zum 2. Frühstück? Doch noch ein Franzbrötchen?“
Ich nickte. Franzbrötchen mochte ich gern. Und im Übrigen war ich der Meinung, dass die Kombination aus dem Zimtgeschmack einerseits sowie dem dazugehörigen Kaffee andererseits ein perfektes aromatisches Erlebnis darstellte. „Was hatte ich denn vorhin? Und vor allem: Wann war ich da?“
Frau Babrack sah mich verwundert an. „Mit den anderen Diensthabenden der Nacht, vor einer Stunde, etwa. Und sie hatten Tee, und eine Laugenbrezel mit Käse. Obwohl sie doch sonst lieber süß frühstücken.“
„Kam ich ihnen irgendwie - verändert vor?“
„Wie meinen sie das?“
„Habe ich mich so verhalten wie immer?“
„Ja, ich denke, schon! Moment! Doch! Es gab einen Unterschied zu sonst! Ihr Kittel! Das fiel mir auf! Sie trugen einen Kittel für Assistenzärzte, nicht den Oberarztkittel! Wieso fragen Sie das überhaupt alles? Stimmt etwas nicht?“
Das war eine Besonderheit unseres Krankenhauses. Die Assistenten trugen Kittel mit weißen Plastikknöpfen, die der Oberärzte waren silberfarben. Die Chefärzte verschlossen ihre Schutzkleidung sogar mit vergoldeten Knöpfen, der Würde und Bürde ihres Amtes entsprechend.
Na gut. Was mich irritierte, war, dass mein Doppelgänger, von dessen Existenz ich inzwischen überzeugt war, exakt zu wissen schien, was ich zu tun hatte. Er hatte drei Ultraschalluntersuchungen bei Privatpatienten vom Chef durchgeführt, die Visite erledigt, sich die Neuzugänge vorstellen lassen und einen Stapel Gutachten und Entlassungsberichte mit meiner - nein, also eher, mit seiner Unterschrift versehen. Das alles hatte er so perfekt durchgeführt, dass niemandem, nicht einmal Schwester Christa, auch nur der leiseste Verdacht gekommen war, dass es sich nicht um mich gehandelt haben könnte. Ich begriff allerdings nicht, warum ich ihm bisher noch nicht begegnet war. So groß war das Stadtkrankenhaus nicht, dass man sich nicht zufällig über den Weg hätte laufen können.
Ich beschloss, den Imbiss-Besitzer noch einmal aufzusuchen. Es erschien mir zur Zeit auch deutlich sicherer, auswärts etwas zu mir zu nehmen. Wer auch immer das Mineralwasser mit Rizin versetzt hatte, war leicht in der Lage, Lebensmittel oder vielleicht sogar die Zahnpasta zu vergiften.
„Nanu? Frau Neugebauer? Was machen Sie denn hier?“
Die Sekretärin des ermordeten Pfarrers sah mich vorwurfsvoll an. Ihre Augen wiesen dasselbe Rot auf, in dem bereits ihre Nase kurz nach dem Ableben ihres Chefs geleuchtet hatte. Der Kontrast zu dem grauen Acryl-Pullover war erheblich. Sich die Haare ordnend, erklärte sie mit trotzigem Unterton, dass man sich ja nicht mehr sicher sein könnte, in unserer beschaulichen kleinen Stadt. „Ich lebe doch allein. Seit Jahren schon. Seit mein Mann verunglückt ist. Das hat mir nie etwas ausgemacht - die Einsamkeit, verstehen sie, Herr Doktor? Aber jetzt habe ich Angst! Ich denke, wenn viele Leute um mich herum sind, bin ich vielleicht sicher! Sicherer, als wenn ich allein zu Hause bin, und so ein schießwütiger Verbrecher - “
Sie vollendete den Satz nicht. Zitternd und schniefend stach die Arme auf die Currywurst ein, als kämpfte sie gegen die Sünde der Welt, wie weiland der heilige Georg mit dem Drachen. Sie hatte hierzu ein gelbes Gäbelchen gewählt.
Der Küchenchef warf für mich zwei Würste in die Häckselmaschine.
„Curry und Chili, wie immer?“
„Viel Curry, wenig Chili“, bat ich. Komisch. Der Mann war irgendwie anders, heute. Ich konnte meinen Eindruck nicht an irgendetwas Konkretem festmachen. Aber etwas stimmte nicht.
Frau Neugebauer brach auf, und auch ich verabschiedete mich nachdenklich. Ich hatte mich in Richtung Strichweg ca. 1 Kilometer entfernt und gerade den Karl-Olfers-Platz erreicht, als eine gewaltige Explosion die Monotonie der Stadtgeräusche zerriss. Die Druckwelle schmerzte in meinen Ohren und brachte Scheiben zum Klirren. Da, wo die fahrbare Imbissbude gestanden hatte, stiegen Flammen und Dicker, dunkler Rauch auf. Ich rannte zurück. Vielleicht konnte ich etwas helfen. Sekunden später war das Martinshorn zu hören. Die rotierenden Signallichter tauchten die Szene in unruhig zuckendes Blau.
Für den Mann, der so leckere Currywürste zubereitete, kam jede Hilfe zu spät. Seine Leiche lag etwas abseits. Die Explosion hatte ihn offenbar aus seiner Bude geschleudert. Ich tastete nach dem Puls and Hals und Handgelenk. Seine Augen waren weit aufgerissen. Der Mund zu einem grotesken Grinsen verzerrt. Offenbar hatte von unten eine enorme Hitzeentwicklung stattgefunden, die den Körper und die Haut der unteren Gesichtshälfte hatte schrumpfen lassen und den Mund zu der Grimasse verzogen hatte. Schlagartig wurde mir klar, was an dem Mann vorher so anders war. Er hatte nicht gelächelt, wie gestern Nacht. Und der Goldzahn war vorhin nicht sichtbar gewesen. Er hatte ernst ausgesehen. Ernst, und angespannt. Und ängstlich.
Sehr, sehr ängstlich.