So, dies wird die vor-vorletzte Herzgeschichte. Es sollen noch eine Romanze, und ein kleiner Krimi folgen. Dies hier ist eigentlich nicht wirklich eine Geschichte. Eher ein Tagebuch. Aber ...
nur, wenn Ihr nichts Besseres vorhabt!
Herzenswünsche - der Versuch eines Protokolls
Manchmal ereignen sich Dinge, von denen ich denke, Donnerwetter, das hat Ewigkeitswert. Schreib's auf, von Anfang an. Das erspart Dir hinterher stundenlanges Grübeln. Aber dann kommt es
anders, als man denkt. Und da ich ja ohnehin über „Herzensangelegenheiten“ schreibe, Sie erinnern sich an meinen Freund Sven Krechting, dem es ( auf Holz klopf ) wunderbar geht, dachte ich,
dass das passen könnte.
Das Ganze begann vor ein paar Wochen. Ich bewegte mich so durch die Nachrichten des Tages - also: Ich scrollte mich durch den newsfeed auf meiner timeline, sagt man ja heute auf Neudeutsch -
und entdeckte eine Einlassung von einer Freundin, die mich erschreckte. „Olgahospital Klinikum Stuttgart - zur Untersuchung mit ( nennen wir ihn mal Tobias ) Tobias!“
Ich habe zwar mit meiner medizinischen Vergangenheit abgeschlossen, aber bin immer noch so viel Arzt, dass bestimmte Aussagen mich mit Sorge erfüllen. Ich habe Tobias' Profil angesehen und
nachgerechnet. 17? Olga ist die Neurologieabteilung in Stuttgart! Was, um Himmels Willen, ist da los?
Bitte nicht falsch verstehen. Ich bin nicht einfach nur neugierig. Also … ja, doch, ich bin auch neugierig. Aber ich fühle mich immer verantwortlich. Ich leide nicht an einem Helfersyndrom.
Dazu bin ich zu faul. Aber wenn es um Freunde, Bekannte, Verwandte geht …
Ich habe nachgefragt, und erfuhr so einiges, zusätzlich zu dem, was ich bereits wusste … alleinerziehende Mutter dreier Kinder, „Allein-“ wegen häuslicher Gewalt. Der Älteste bei ihr Lebende,
tatsächlich 16, an Herzrhythmusstörungen, Fructose-Intoleranz und Erschöpfung und anderen Auffälligkeiten leidend. Viel Unterrichtsversäumnis. Dem Jungen wird Schwänzen unterstellt, er fliegt
von der Schule. Kein Verhältnis zum Vater, der sich auch nicht nennenswert bemüht. Kaum Geld. Kürzlich habe er sie gefragt, woran man erkennt, dass man Depressionen hat. Und, dass er sich
nicht leiden könne. Weswegen sie ihn in einer psychiatrischen Tagesklinik angemeldet hat.
Kein Vater? Mutter und Vater getrennt? Herzrhythmusstörungen? Depressionen? Sich nicht mögen? Das Konzept kommt mir verdammt bekannt vor. Ich kenne es gut, weil ich es selbst durchlebt habe.
Ob man dem Jungen irgendwie helfen kann? Immerhin: Alleinerziehend, drei kleine Kinder …
Wenn Du magst, und vor allem, wenn er mag, rede ich mal mit ihm, biete ich an. Ob sie ihm meine Nummer geben dürfe, fragt sie. Na klar. Anders geht's ja nicht. Und sie schickt mir schon mal
seine.
Manchmal entdeckt man die Unmöglichkeit einer Situation rechtzeitig. Zum Beispiel, wenn man ein wenig darüber nachdenkt. Wo führt das hin? Ein dicker, hässlicher alter Mann, ein netter,
hübscher, etwas angeschlagener 16jähriger, mitten in der Pubertät … Ich meine, Vater - fein! Aber dazu müsste ich gut 20 Jahre jünger sein. Großvater? Grauenhaft! Furchtbar! Wer will denn
sowas?
Egal. Also. Da gibt es diesen Jungen. Und ich habe es leider schon oft erlebt, dass mir viel zu viel unangemessener Respekt entgegengebracht wird. Wird er sich trauen? Kann ich ihm vielleicht
eine Tür öffnen?
Ich beschließe, einen Türöffner zu schreiben.
Mensch Tobi,
Bitte entschuldige, dass ich mich Dir so aufdränge. Das Gute ist ja, dass das nur auf dem Papier (?) geschieht, und Du kannst es einfach wegschmeißen. Aber ich hab gestern den Post von Deiner
Mama entdeckt, und weil ich auf Facebook mit ihr befreundet bin, hab ich mir Sorgen gemacht. Das tun Freunde ja üblicherweise. Dann hab ich auf Dein Profil geschaut und festgestellt, dass Du
maximal 17 sein kannst. Und da ich unter anderem auch Arzt bin, hat mich interessiert, was Dir fehlt.
Mama und ich haben über Dich gesprochen. Und an zwei Stellen war ich voll be- und ge-troffen: Einmal Herzrhythmusstörungen ( die hab ich nämlich auch ), und dann das mit Deinem Vater ( meiner
hat sich von meiner Mama scheiden lassen, als ich ein Jahr alt war. Kennengelernt hab ich ihn mit 23 ... ).
Wir haben also zwei wichtige Dinge gemeinsam.
Ich kann für Dich kein „Freund“ im Sinne von „Kumpel“ sein. Leider. Ey, aus Deiner Perspektive bin ich uralt! „Vater“? Det möchtste wohl! „Großvater“, schon eher. Oder einfach jemand, der mit
diesen Dingen, die Dich vermutlich traurig machen ( also, mich haben sie traurig gemacht ), schon eine ganze Zeit gelebt hat. Und nicht mehr traurig ist. Vielleicht kann ich ein wenig neben
Dir hergehen, auf Deinem Weg. Und Du kannst mir ein Ohr abkauen, oder Löcher in den Bauch fragen.
Aber nur, wenn Du magst.
Den Zeitpunkt bestimmst Du. Mama hat meine Nummer, und weiß, wie man mich erreicht. Du störst nicht.
Liebe Grüße,
Peik
Das ist er, der Brief. Die Mail. Die WhatsApp. Und kaum hatte ich sie losgeschickt, ertönte dieser blöde Signalton, der mir sagt, da ist eine Nachricht für Dich angekommen. Ich erschrecke
jedesmal, wenn der Ton erklingt, und nehme mir vor, ihn alsbald zu ändern. Und vergesse es dann.
„Du musst der Arzt sein, von dem meine Mutter geredet hat. Ich bin ihr Sohn Tobias. Hallöchen.“
Gibt es eigentlich eine Sammlung ‚erster Worte‘? Letzte Worte, von Bismarck, Hindenburg, Aristoteles sind überliefert, und wenn als Legende. Erste Worte? Also, eine Marktlücke. Mir ist da
nichts bekannt.
Den Brief, den ich ihm geschrieben habe, findet er ‚voll süß‘. Depressionen und Sich-selbst-nicht-mögen? Wo sollst Du es hernehmen, wenn eine wichtige Bezugs- und Identifikationsfigur, der
eigene Vater, nämlich, sich verweigert? Inzwischen will Tobias auch nicht mehr. Darüber müssen wir noch reden. Ich finde es wichtig, seinen Vater zu kennen. Und sei es auch nur, um mit ihm
abschließen zu können.
Die Tagesklinik ist schön. Da wird man so akzeptiert, wie man ist. Das findet er ‚nice‘.
Ich verstehe nicht. Welche Gründe gibt es denn, ihn nicht zu akzeptieren, so, wieder ist? Keine Markenklamotten. Na klar. Die Sneakers nicht von Nike, die Jeans nicht von Diesel, oder Jack
Jones. Und eben das mit der Gesundheit. Dort aber interessiert keinen, was er trägt. Wie lernt man, sich selbst zu mögen, wenn einen kaum einer mag?
Das sind existenziell wichtige Fragen. Ich wünsche mir brennend, darauf eine Antwort zu finden. Theoretisch und praktisch.
„Wenn Du Dir was wünschen könntest“, frage ich ihn, „was wäre das?“
Wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort.
„Einen Schrank voller Pullover!“
Er sei eben so eine Frostbeule, fügt er erklärend hinzu. Er fröre immer. Deswegen.
Welche Art Pullover? So mit Kapuze. Ja, ein Hoodie. Größe M. Ohne Aufdruck, nur schwarz. Schwarz steht ihm ‚brutal‘ gut, Du glaubst das nicht. Oder grau, oder von mir aus auch weiß.
Hauptsache, kein Aufdruck.“
( Verwandte von mir sind gerade in Virginia, bei meiner Schwägerin, die in einem Laden für Bekleidung arbeitet. Ich verschicke eine WhatsApp, dass ich ein Hoodie für einen 16jährigen, Größe
M, schwarz, ohne Aufdruck, brauche … )
Es geht ihm schlecht. Seine Mama hat eine Nachricht geschickt, dass er die ganze Nacht gekotzt hat. Genau wie seine kleinen Schwestern. Vermutlich ein Virus-Infekt. Ich bin für einen
Arztbesuch. Er bekommt einen Notfall-Termin … und verpennt ihn.
Ich bin unzufrieden. Ich erkläre ihm, dass vermutlich jemand anders weggeschickt wurde, weil er den Termin bekommen hat - und dann hält er ihn nicht ein. Ich bin überrascht, dass ich ihm das
ganz ruhig erklären kann. Er scheint es zu begreifen. In der folgenden Nacht bekommt er sogar Fieber. Diesen Arztbesuch hält er ein. Na also. Bis Donnerstag krank, Freitag wieder in die
Tagesklinik.
Ich will in die Niederlande, ein wenig einkaufen, und habe in Dortmund ein Hotel gebucht. Als ich ihm das erzähle, klingt er plötzlich seltsam, sehnsüchtig-enttäuscht. Er war noch nie
im Ausland. Noch nie. Er wohnt dicht an der Schweiz und Frankreich, aber noch nicht mal das hat er geschafft. Ich beschließe, ihn bald einmal mitzunehmen. Irgendwann, wenn es passt. Ihm was
zu zeigen. Ich wäre dann der erste, mit dem er Deutschland verlässt. Komisch, oder?
Ach Peik, da hast Du Dich gerade übernommen, oder? Willst Du den Armen denn zu Tode langweilen? Was weißt Du denn von den Bedürfnissen eines so jungen Menschen? Willst Du ihn an die Hand
nehmen, ihm vorschreiben, wie der Tag läuft?
Moment mal: Der Junge ist 16. SECHZEHN! Was interessiert einen mit 16? Die Baudenkmäler der Industriekultur? Ein Konzert im Aalto-Theater, oder die aktuelle Ausstellung im Folkwang-Museum?
Die Villa Hügel?
Ich ertappe mich dabei, wie ich ununterbrochen meinen Weg dahingehend abklopfe, ob Tobias daran Spaß hätte. Essen in der Coca Cola Oase im Centro in Oberhausen. Da gibt es auch so eine
Spielstation in Form einer fliegenden Untertasse - er zockt gern, hat er gesagt. ( Seine Mama findet die Idee nicht so doll. Zocken täte er schon daheim ausgiebig! ) Kino in Essen. Das
Cinemaxx, besonders das Kino 13, wird ihn beeindrucken, da bin ich sicher.
Auf meine Frage, was er sich sonst noch vorstellen kann, meint er, dass er gern klettere. Das geht in Oberhausen, am Gasometer neben dem Centro. Und vielleicht noch Sea-Life? Haie und
Seeschildkröten?
Freitag ist irgendwas los in der Tagesklinik. Polizei, Blaulicht, sogar ein Hubschrauber. Seine Mama schickt ein Foto. Was, um Gottes Willen, ist das passiert? Er wundert sich. Hatte nichts
mit ihm zu tun. Warum?
Ich erkläre ihm, dass, wenn man jemanden lieb hat, man sich Sorgen um diesen jemand macht. Das sei nun mal so üblich. Er schreibt „Naarw - Du bist süß!“
Eines Tages werde ich herausfinden, was „naarw“ bedeutet.
Ich fühle mich ... komisch. Irgendwie diffus unwohl. Er hat sich drei Tage nicht gemeldet. Erinnert er sich überhaupt …. Ach, Blödsinn. Alles meine Schuld. Ich habe diese ‚Beziehung‘, die ja
auch noch gar nicht bestehen kann, vermutlich hoffnungslos überfrachtet. Zu hohe Erwartungen. Ich Blödmann. Ich bin zu überhastet. Einer meiner Charakterfehler seit immer schon. Geduld ist
nicht wirklich meine Stärke.
Er ist ein wahnsinnig lieber Junge. Ich höre gern seine Stimme auf den WhatsApp - Sprachnachrichten. Eine helle, feste, klare Diktion, ein schwäbischer Akzent. Aber ich bekomme ihn nur dann
zu hören, wenn ich mich als Erster bei ihm melde. Er meldet sich nicht bei mir. Schade. Aber egal. Vielleicht kommt das noch. Er hat ja auch viel zu tun mit der Tagesklinik. Geduld, mein
Herz, Geduld!
Hey! Unvermittelt, heute Morgen: „Guten Morgen Peiki!“, und ein Bussi-Emoji dahinter. Mir geht es gut, ab da. Ihm auch.
Der Hoodie ist angekommen. Schon die Vorankündigung hat bei Tobias' Mama zu einem Zwischending zwischen Panik, Ungläubigkeit und Abwehr geführt. Das wäre doch nicht nötig gewesen! Nein,
natürlich nicht. Aber ich wollte ihm etwas Schönes schenken. Eine Freude machen. Ich wollte, dass er ein Designer-Marken-Label-Dingens besitzt. Das Teil ist von Nike. Anthrazit, ohne
Aufdruck. Wenn er mein Sohn wäre, bekäme er unablässig irgendeine kleine Überraschung. Verwöhnen würde ich ihn.
Ich sei so toll, behauptet Tobias. Er muss es ja wissen. Er schickt mir ein Foto, den Hoodie tragend. Das Ding passt. Das war meine größte Sorge. Man stelle sich vor: Du bekommst etwas, und
dann sitzt es nicht. Wie blöd! Da ist die Enttäuschung hinterher groß, und tötet die Erinnerung an die Vorfreude. Er freut sich wirklich. Auf den Sprachnachrichten kiekst seine Stimme ein
winziges bisschen. Und er ringt nach Worten. Sehr süß.
Ich habe ihm mein Buch dazugelegt. Er schreibt: „Ich schwör, ich les alle 372 Seiten durch!“ Manches verstünde er nicht, meint er. Frag mich einfach, halte ich dagegen. Am anderen Ende Deines
Smartphones sitzt der, der es geschrieben hat!
Ich muss mit seiner Mama, nennen wir sie mal Dorothee, über seine Zukunft reden. Ich habe keine Vorstellung davon, wieviel Probleme es geben wird, wegen der Schule, die er ja nur unregelmäßig
besucht hat. Ich habe darüber auch noch nicht mit ihm gesprochen. Nur über seine Vorstellung von seiner Zukunft. „Frau, und Kinder.“, hat er gesagt. Das ist ja ehrenwert. Aber das reicht eben
nicht. Ich möchte für ihn „etwas Besseres“. Studium? Fachhochschule? Handwerk? Wo wird es ihn hinziehen? Was ich verhindern möchte, ist, dass er, weil es an den finanziellen Mitteln
scheitert, einen Beruf ergreift, der gerade verfügbar ist, der erste Beste, sozusagen. Nur irgendwie schnell Geld verdienen. Aber was wird er selber wollen? Für viele erscheint es ja
verlockend. Selbstständig, Kohle im Portemonnaie, Mama nicht mehr auf der Tasche liegen. Aber da bleibt man dann die nächsten 50 Jahre. Man steckt fest. Kaum Chancen auf Aufstieg. Und die
Leute, mit denen man sein Leben verbringt?
Meine Mutter hat zu mir immer gesagt, pass auf, dass, wenn Du mit Menschen in einem Raum stehst, Du der Dümmste bist. Dann können die anderen Dich auf ihr Niveau erheben. Aber wenn es
umgekehrt käme, für Tobias?
Das kommt ja überhaupt nicht infrage. Irgendwie muss es mir gelingen, in ihm Wissensdurst und Tatendrang zu wecken. Wie bekomme ich jemanden, der rund um die Uhr am PC spielt, dazu, ein Buch
in die Hand zu nehmen? Hoffentlich gefällt ihm meins. Er sei schon auf Seite 24, hat er mir gesagt. Und dann hat er es blöderweise in der Tagesklinik vergessen, über’s Wochenende. Naja,
Montag bekommt er es wieder.
Nicht, dass ich besonders wertvolle Literatur produziere. Aber es ist ein Anfang, oder? Vielleicht finde ich etwas Packendes, Spannendes, Wertvolles. Krüss. Kästner. Kurzgeschichten. Meine
persönliche Bibel, „Der kleine Prinz“.
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Eine ganze Zeit ist inzwischen vergangen. Kaum erinnere ich mich selbst, warum ich den Kram hier aufschreibe. Da war es Mitte September. Tobias schrieb, das er mir eine Tasse machen wollte,
und wir hatten uns auf Grün geeinigt.
Ja, und dann war es plötzlich der 7. Oktober. Höfliche Erkundigung, wie es mir den ginge. Es war sofort klar, dass das nur eine Art Einleitung war. Das eigentliche Anliegen ließ nicht lange
auf sich warten. Sein Mobiltelefon ist kaputt, „Display total im Arsch“,und er braucht ein Neues.
Ob meine Reaktion ein Fehler war, kann ich nicht sagen. Ich überweise auf das Konto seiner Mutter Dorothee mit dem Hinweis auf seinen Geburtstag am 5.11. € 150.-. Dafür gäbe es, so bin ich
informiert, schon sehr gute, gebrauchte Smartphones. Umrahmt von sehr viel „Ach neee, lass mal“ und „Aber das wäre doch nicht nötig gewesen“ kommt der Dank von Mutter und Sohn, nicht ganz so
enthusiastisch, wie bei dem Hoodie, aber wozu auch. Gern geschehen.
Am 1.11. meldete sich dann Dorothee. Sie traue sich gar nicht, zu fragen. Fragte dann aber doch. Eine offene Rechnung, nur € 111.63.
Ich hatte mal angefangen, dies hier zu schreiben, weil ich eine emotionale Erfolgsgeschichte witterte. Diese Fantasien verdanke ich meiner endlosen Harmoniesucht und meinem
harmoniebedürftigen Kindergehirn. Wie hätte es laufen sollen? Sohn einer Freundin, vaterlos. Verloren. Psychische Ausfälle. Ich spiele den Ersatz(Groß)vater. Kümmere mich. Sicher auch mal mit
dem einen oder anderen Geschenk. Ich stelle mir vor, ihn auf Reisen mitzunehmen, ihm zu zeigen, was ich mag, und wo ich mich gern aufhalte. Kind blüht auf, glänzt in der Schule, studiert, und
entdeckt außerirdisches Leben auf anderen Planeten. Oder eine verschollene Komposition von Ludwig van Beethoven. Oder Atlantis.
Was ist daraus geworden? Was ist aus mir geworden? Und wo, bitte, ist meine grüne Tasse?
Ich bin eben dämlich. Liebenswert, freundlich - aber dämlich. Ich habe einen falschen Eindruck vermittelt. Den Eindruck des reichen Onkels aus Amerika, der, wenn es mal eng wird, die
Geldklammer mit den Dollarscheinen hervorzieht und einen Stapel davon herüberwachsen lässt. Wenn man ihn nicht braucht, ist er aus dem Sinn. Erst, wenn es irgendwo hakt, fällt er einem ein.
Wie wäre es, wenn wir uns mal an den netten älteren Herrn wenden ...
„Warum versprachst Du mir den schönsten Tag, und hast mich ohne Mantel ziehen lassen?“ Ach, William, halt einfach mal Dein Maul. Mein Gott, der Junge ist noch ein Kind! Ein gewisses Maß an
Selbstsucht ist für ihn überlebensnotwendig! Und die Mutter in einer permanenten Zwangslage! Sie verhält sich einfach nur folgerichtig. Nein, schlechte Gefühle habe ich nicht.
Leider habe ich gar keine Gefühle. Völlig leer. Das habe ich heute gemerkt, am Geburtstag des Jungen. Ich habe eine Stunde lang eine weiße Seite angesehen, auf die ich einen lustigen,
warmherzigen, intelligenten Geburtstagsgruß schreiben wollte. Was kam dabei heraus? „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Tobias.“
Der perfekte Text, oder?
Seine Antwort: „Dankeschön, Peik. Tut mir leid, dass wir so lange nicht schreiben konnten.“
Ja, mir auch. Ich hätte auf diesen Satz gern etwas erwidert. Aber meine Gemütslage verbietet es mir. Weder das schlicht-bissige „Und mir erstmal!“ wäre passend gewesen, noch das ironische
„Mir nicht. So kostet es mich nicht so viel.“ Und schon gar nicht das zynische „Wieso? Wenn Du alles hast und gerade nichts brauchst - wozu dann schreiben?“
Andere Variationen über eine Antwort habe ich in mir nicht entdecken können. Leider. Wie gern hätte ich ein „Aber das macht doch nichts, Großer. Alles in Ordnung. Ich freue mich, wenn es Dir
gut geht. Ich habe keinen Anspruch darauf, eine Rolle in Deinem Leben zu spielen, auch wenn ich noch so sehr versuche, mich einzukaufen. Außerdem kann - und, unter uns gesagt, WILL - ich mir
das so nicht leisten. Ich freue mich, wenn Du Dich über die zwei kleinen Geschenke gefreut hast.
Ein Drittes wird es nicht geben.
Und weißt Du, warum? Weil ich Dich nicht kaufen werde. Das ist unwürdig. So wohlfeil mache ich mich nicht. Und so billig bist Du hoffentlich auch nicht zu haben. Aber, solltest Du mich je
brauchen, zu etwas anderem, als Rechnungen zu bezahlen oder Geschenke zu machen, werde ich für Dich da sein.“
Ja, das hätte ich gern so geschrieben. Was sagen Sie da, höhnisch lachend? Was ich erwartet hätte? Liebe? Ich sei zu leberwurstig beleidigt, finden Sie? Gekränkt? Eingeschnappt? Jetzt hören
Sie schon mit Ihrem Gelächter auf!
Ja, das stimmt wohl. Dabei nehme ich es dem Jungen gar nicht übel. Er ist und bleibt ein lieber Junge. Nein. Ich bin ärgerlich über mich selbst. Was hatte ich mir denn vorgestellt? Ich öffne
Herz und Portemonnaie, und umgehend stellen sich Sympathie, Vertrauen, Liebe ein? Etwas, was sich über Jahre hin entwickelt, etwas, was Zeit und ganz viel Arbeit braucht, entsteht nach
Überweisung eines Geldbetrages auf ein Konto sozusagen wie von Zauberhand? Ich hatte mir gewünscht, Begleiter zu sein, Vertrauter, Ansprechpartner. Als solcher allerdings wurde ich nicht
gebraucht. Immerhin, ich habe es rechtzeitig erkannt.
Dieser Text geht hier zu Ende. Er sollte lang werden, eine Novelle, ein kleiner Roman. Und jetzt sind nur 3000 Wörter zustande gekommen. Trotzdem spannend, oder? Und vielleicht auch
lehrreich. Sogar für mich selbst. Und endlich mal, für mich ganz untypisch, kein Happyend.
Denn:
Niemand schuldet mir etwas.
Niemand hat mir den schönsten Tag versprochen.
Nur eine grüne Tasse.