Ich hasse Tage, die damit beginnen, dass sich bei mir Unsicherheit regt. Ich bin böse, so viel ist gewiss. Zumindest steht das im Gutachten des Psychiaters. 'Psychopathie, Soziopathie‘. Ich habe es mit eigenen Augen gelesen. Wir haben lange über meine Probleme gesprochen, der Doktor und ich. Solange zumindest, bis er das Glas, in das ich in einem unbemerkten Moment etwas von diesen hochwirksamen Tropfen träufelte, die ich im Internet bestellt hatte, mit einem Zug entleerte. Die Aufregung, die folgte, nachdem ich der Sprechstundenhilfe gesagt hatte, dass es ihrem Chef nicht gut ging, nutzte ich, um einen kleinen Stapel bereits signierter Rezeptformulare vom Empfangstresen in meinen Besitz zu bringen.
Jetzt saß ich an meinem Frühstückstisch, und überlegte, wie ich meine pathologische Neigung, Menschen Schaden zuzufügen, beherrschen könnte. Mein Therapeut hatte mit diese kleinen, gelben Tabletten verordnet. "Kleine Sonnen", hatte er sie genannt. Sie würden Licht in das Dunkel meiner Seele bringen. Mich harmonisieren. Friede seiner Asche.
Das letzte Mal nahm ich sie zum Frühstück, mit einem Glas Orangensaft, nach dem Toast mit der letzten Erdbeermarmelade, die meine Mutter noch fähig war, zuzubereiten. Ein schreckliches Unglück. Aber wer konnte ahnen, das sie beim Aufhängen frisch gewaschener Gardinen, leichtsinnig aus dem Fenster stürzen würde? Ich hatte noch versucht, Sie festzuhalten. Immerhin konnte ich ihr, noch im Fallen, einen lieben, letzten Abschiedsgruß zurufen. „80 % aller Unfälle passieren im Haushalt“, hatte der Polizist, den ich umgehend herbeigerufen hatte, nachdenklich gemurmelt.
Aber da war ich ja auch noch nicht im Besitz der kleinen, gelben Sonnen. Ob ich gleich noch eine ... besser nicht. Sie führten einige Minuten nach der Einnahme zu erheblicher Mundtrockenheit, einem Engegefühl in der Brust mit leichter Atemnot und Schwindel ... aber das legte sich dann bald wieder.
Ich beendete mein Frühstück. Der Schwindel hatte bereits nachgelassen. In dieser Phase fühlte ich mich besonders erholt und unternehmungslustig. Sorgfältig verschloss ich die Wohnungstür und stieg zunächst die Treppe zum Keller herab, um dort dem Nachbarsjungen einen kleinen Imbiss zu servieren, ein Brot mit Nuss-Nougat-Creme, die ich, um ihn zu beruhigen und lautem Schreien vorzubeugen, mit fein gemörserten Schlaftabletten meiner ja nun verstorbenen Mutter sorgfältig verrührt hatte.
Wie leichtgläubig Kinder doch waren! Ein Lächeln, ein Geldschein und die Bitte um Hilfe beim Aufstellen eines Regals reichten, um dem Kleinen zu einer neuen Heimstatt zu verhelfen.
Ich begab mich zu meinem Wagen, freundlich den Nachbarn grüßend, der an den Bäumen fotokopierte DIN-A-4-Plakate mit Heftzwecken befestigte. ‚Vermisst‘, stand da fettgedruckt über dem unscharfen Foto, das einen ca. 10jährigen, blonden Knaben in rotem T-Shirt zeigte. Der Mann sah verzweifelt aus. Er nahm ein Blatt von seinem Stapel und näherte sich mir.
„Haben Sie ihn gesehen?“
Ich verneinte mit freundlich zugewandtem, mitleidsvollen Lächeln.
„Seit wann ist er verschwunden?“
„Er wollte vorgestern Nachmittag zu seiner Großmutter. Dort ist er nie angekommen!“
Tröstend legte ich meine Hand auf seine Schulter.
„Es tut mir so leid! Wenn ich etwas höre, sage ich ihnen sofort Bescheid! Und wenn ich was helfen kann ... bitte zögern Sie nicht!“
Er dankte mir mit zitternder Stimme. Dabei konnte er froh sein. Die Rechnungen für die mit Fußbällen demolierten Glasscheiben waren bestimmt nicht ganz billig. Und leiser war es auch wieder in unserer Straße.
Direkt auf meiner Motorhaube sonnte sich die Katze der alten Dame, die in der Wohnung über der Unseren wohnte. Ein fettes, rotblondes Monster - die Katze, nicht die Nachbarin. Frau Rusch ist eher hager, in ihren Siebzigern und weißhaarig. Ich scheuchte das Biest herunter. Mit einem ungnädigen Tonfall maunzte sie und betrachtete mich vorwurfsvoll. Ich bediente das Gaspedal und wunderte mich darüber, dass ich das leichte Ruckeln der Räder auf der Fahrerseite so deutlich spürte. Ich meine, so eine Katze stellte doch für ein schweres Gefährt kaum Widerstand dar, wenn es über sie hinweg rollte, nicht wahr?
Ich weiß nicht, was Sie von mir denken. Ich war sehr beliebt. Ich hatte für jeden ein freundliches Wort, bot jedem die Tageszeit. Im Kaufhaus oder Restaurant hielt ich meinem Nachfolger die Tür auf. Bei Fahrstühlen liess ich immer die Damen zuerst ein- und auch wieder aussteigen. Im Streit vermittelte ich gern. Ich fand stets den richtigen Ton. Und mit meinem Lächeln eroberte ich jedes Herz im Sturm.
Es gibt so viele Arten zu lächeln. Wussten Sie das? Boshaft, amüsiert, nachdenklich, nervös, tröstend, bescheiden ... An einer roten Ampel klappte ich die Sonnenblende herunter und betrachtete mich in dem kleinen, beleuchteten, aufklappbaren Spiegel. Ich prüfte den Grad der Weiße meiner Zähne. Zufrieden mit dem Ergebnis, lächelte ich mich an. Spitzbübisch. Traurig. Liebevoll.
Neben mir hupte es. Christine war in mein Leben getreten. Aber das war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.
( Fortsetzung folgt )
Mir war bewusst, dass es ausreichte, den Druck der Finger zu erhöhen, um den Schildknorpel ihres Kehlkopfes einzudrücken. Aber so gut, dass mir eine derartige Handlung wirklich Freude bereitet hätte, kannte ich sie nicht, und ich war zu neugierig, den Grund ihrer Verzweiflung herauszufinden. Also beließ ich es beim Schütteln und der Frage, warum sie nicht mehr konnte, und vor allem, was.
Sie sank auf einen Stuhl, und dort in sich zusammen. „Jürgen“, murmelte sie tonlos. „Jürgen?“, wollte ich wissen. „Welcher Jürgen? Und was hat er angestellt?“
„Mein Ex“, entgegnete sie widerwillig, als führte die bloße Erwähnung dieses Umstands zum Erscheinen des Bösen, einer mittelalterlichen Beschwörungsformel gleich. Ich verstand die Aufregung nicht. Wenn es ihr Ex war, gab es doch keinen Grund mehr, sich zu echauffieren!
„Er ist Lehrer, weißt Du? Und das Schlimme ist: Er hört damit nicht auf, wenn er die Schule verlässt! Er belehrt und korrigiert. Er hält sich für den Born des Wissens, den Ursprung aller Weisheit. Einmal habe ich gewagt, ein englisches Wort zu benutzen. Du kannst Dir nicht vorstellen, was für Vorträge daraufhin folgten ... Schau dir das an. Bitte. Nun schau dir das hier bloß mal an!“ Sie hatte den Küchenschrank geöffnet. „Siehst du?“
Ich sah im Schrank Teller, Untertassen und Tassen, Gläser und Schüsseln, exakt und militärisch ausgerichtet. Sehr ordentlich sah das aus. Und das sagte ich auch. „Du bist also auch so einer“, ächzte Christine und sah mich fassungslos an. „Du näherst dich also auch jungen Frauen und willst ihnen deine Sicht der Dinge aufzwingen!“
Das läge mir völlig fern, betonte ich. Und ich erfuhr, dass er seine designierte Ex-Freundin zwingen wollte, ihre Schränke derart um- und einzuräumen, wie er es für richtig erkannt hatte. Nach seinem System. Als sie sich weigerte, musste er sich wohl, in einer letzten eigenmächtigen Aktion vor der Trennung, selbst an die Arbeit gemacht haben. Die Folge war, dass sie, entsprechend ihrer Gewohnheit in den Schrank greifend, einige Tassen und Gläser hatte fallen lassen, weil sie dort nicht zu erwarten gewesen waren. „Ich könnte ihn umbringen, wirklich!“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor.
„Warum nicht?“, entfuhr es mir. „Hast Du ein Foto von ihm?“
Wortlos kramte Christine aus einer Schublade ein Stück Papier hervor, dessen Ecken sich nach oben wellten. Wie bei einer alten ranzigen Salami-Scheibe, mit der man vor einiger Zeit ein Brot belegt hatte. Und danach sah Jürgen Schauder auch aus. Ein grauer Haarkranz umgab lustlos den ansonsten kahlen, fußballrunden Schädel. Ein überheblicher Blick hinter einer stillosen Brille. Ein fusseliger, rötlicher Hufeisen-Bart im Fu Manchu - Stil folgte der Kontur des schmallippigen Mundes, dessen nach unten gezogene Mundwinkel verrieten, dass sein Besitzer Humor als verzichtbare menschliche Schwäche fehldeutete.
„Und da wunderst du dich?“, erkundigte ich mich bei meiner neuen Freundin. „Ein unattraktiver, eitler, freudloser Mann mit dem Charisma eines Toastbrots? Einer von diesen Menschen, denen qua Amt ein wenig Macht verliehen wurde. Und die sich dadurch in ihrer Haltung unterstützt sehen, dies bisschen Macht auszunutzen, und andere belehren zu dürfen. - Na gut. Bringen wir ihn um.“
Zu meiner Überraschung ergriff Christine einen kleinen Block, auf dem der Name einer Hotelkette prangte, sowie einen Kugelschreiber.
„So, lass mal sehen ... Gift ... was meinst Du? Etwas zum Einatmen, oder zum Trinken?“
„Äh, also, Christine ...“, stotterte ich. „Was ist? Machst du einen Rückzieher? Typisch Kerl! Erst das Maul aufreißen, aber wenn's dann zur Sache geht, den Schwanz einziehen!“
Warum hatte ich überhaupt das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen?
„Nein, ich bin nur überrascht! An was hattest du denn da gedacht?"
Ein mitleidiger Blick traf mich. „Sag mal, siehst du keine Nachrichten? Sarin? Schon mal gehört? Ansonsten: Kalium. Führt zum Herzstillstand. Es gäbe auch ...“
„ ...Polonium, ich weiß. Aber da kommt man nicht so ohne weiteres ran!“
„Viel zu viel Aufwand. Das ist der Langweiler nicht wert. Was hältst du von elektrischem Strom?“
Ich schüttelte den Kopf. „Das erfordert direkten Kontakt. Fön in der Badewanne, du weißt. Oder komplizierte Konstruktionen. Und dann geht's nachher wohlmöglich schief. Was hältst Du denn von einem sauberen, altmodischen Schnitt mit einem Skalpell durch seine Carotis-Arterien?“
„Ca-ro-tis-ar-te-ri-en“, wiederholte sie langsam, das Wort auf dem kleinen Block notierend. Erstaunlich, wirklich. Eine schöne, klare Handschrift. Ein Grafologe hätte ihr einen untadeligen Charakter bescheinigt, so viel stand fest. Der Rhythmus und die Einheitlichkeit, die Größe der Lettern, ihre Ausdehnung, Schriftlage nach rechts und die Druckstärke ... die ausgeschriebenen, geschlossenen Zirkel ... alles deutete auf Harmonie, inneres Gleichgewicht und untadelige psychische Stärke hin. „Was meinst du: Eine Seite, oder beide? Bei beiden Seiten blutet er schneller aus, oder?“
Sie klopfte nachdenklich mit dem Schreibgerät gegen ihre Vorderzähne. Ihr Lächeln hatte etwas Dämonisches. Ich fragte mich, ob die Massenmörder der Weltgeschichte auch alle über derart irreführende Qualitäten verfügten. Und schöne Zähne.
Es war wie ein Spiel. Wir saßen am Tisch in ihrer Küche, und produzierten mörderische Ideen am Fließband. Wie viele Sätze begannen mit den Worten, „Meinst du nicht, dass es lustig wäre ...“ - und dann folgte eine Idee, den Pädagogen originell zu entsorgen. Wir wussten noch nicht, dass die Lösung des Problems nahe war. Sehr nahe. Um genau zu sein: Sie schlummerte in meinem Keller ...
Ich hatte wirklich gut geschlafen. Ein wunderbares Gefühl, in der Küche endlich die Gläser mit dieser ekligen, klebrigen süßen Nuss-Creme entsorgen zu können. Und das, was ich mir immer vorgenommen und immer wieder aufgeschoben hatte - den Keller einmal gründlich aufzuräumen, nämlich - gehörte endlich auf die Liste mit den erledigten Dingen.
Zum Frühstück verzehrte ich das Brot und den Apfelsaft, die übrig geblieben waren. Übrigens achte ich nicht nur beim Saft auf Bio-Qualität. Mein Brot muss die gleichen Kriterien erfüllen. Vollkorn, mindestens 1050er Mehl, am besten Roggen oder Dinkel. Der Vorteil ist das Sättigungsgefühl, und, natürlich, die Regulation einer der allerprivatesten Körperfunktionen. Denaturierte Kohlenhydrate kommen mir nicht auf den Tisch!
Ich war gerade im Begriff, aufzubrechen, als das Telefon klingelte. Das Institut für chemische Analysen war am Apparat. Man teilte mir vorab telefonisch mit, dass es sich bei der Substanz in meinem Kaffee um ein Derivat der Gamma-Hydroxybuttersäure handelte. Ich war erstaunt. K.o.-Tropfen? Warum sollte Christine mir ein derartiges Präparat verabreichen wollen? Ich konnte mir den Grund beim besten Willen nicht vorstellen. Wir mussten dies dringend zum Gegenstand einer Erörterung machen.
Ich dankte der Mitarbeiterin des Instituts für die schnelle Bearbeitung, sehr liebenswürdig, erhalte ich das Ergebnis noch schriftlich? Selbstverständlich, meinte die junge Frau. Zusammen mit der Rechnung, die gar nicht so hoch ausfiel, wie ich befürchtet hatte.
Auf der Straße tauschte der Nachbar gerade einige seiner selbstgemachte Plakate aus, Sie erinnern sich an den Nachbarn und seine Plakate? Die mit dem blonden Zehnjährigen im roten T-Shirt? Beim Regen gestern Nacht waren sie nass geworden. Freundlich lächelnd ging ich auf ihn zu. „Kommen sie, geben sie mir gern ein paar Zettel! Ich helfe ihnen rasch!“
Er sah mich dankbar an und ließ ein paar Reißzwecken in meine Hand gleiten.
„Sie haben auch immer noch nichts gehört, oder?“, flüsterte er mit schwacher, monotoner Stimme. Ich bedauerte. Und das war ja wahr. Seit der Knabe verschwunden war, war die Straße wieder still. Endlich war wieder Ruhe eingekehrt. Dies nervige, klatschende Geräusch des Balls, der unablässig gegen eine Hauswand geworfen wird, oder gar das ‚Tooor, Tooor‘-Geschrei seiner Freunde, wenn besagter Ball seiner zweiten Funktion zugeführt wurde. All diesen ruhestörenden Lärm hatte ich schon eine Woche lang nicht mehr gehört, genau! Und es schmerzte mich, sagen zu müssen, dass ich das nicht weiter bedauerte. Aber das behielt ich für mich. Ich hielt nichts davor, Menschen unnötig traurig zu machen.
Ich heftete also einige „Vermisst“-Plakate an die Straßenbäume, über die Nassen, die durch das Zerlaufen der Druckertinte unleserlich geworden waren. Als ob man Christus ans Kreuz nagelt, schoss es mir durch den Kopf. Aber ich sprach diesen Gedanken nicht aus.
„Meine Frau und ich, wir geben die Hoffnung nicht auf!“, jammerte er weinerlich. Ich legte meine Hand auf seine Schulter, sah ihm fest in die Augen, und behauptete, dass schon alles wieder gut werden würde.
Ich stieg in meinen Wagen, fuhr aber nicht sofort los. Ich beobachtete den Nachbarn noch ein paar Minuten. Er wirkte ... ja, er wirkte ungepflegt, irgendwie. Verheiratete Männer ließen sich ja schnell mal gehen. Ein Besuch beim Friseur hätte seinen schütteren Haaren vielleicht etwas Fasson verliehen. Bauchansatz, ausgebeulte pastellbraune Cordhosen, pastell-grünliches Hemd, beige, ausgeleierte Strickjacke. Fahles Hautkolorit. Und die Zähne! Eine Katastrophe! Grau-gelb. Die Kombination aus starkem Kaffee und zu viel Zigaretten.
Nein, so könnte ich nicht leben. Die Erscheinung dieses Mannes verkündete die peinliche Tatsache, dass er die Kontrolle verloren hatte. Er hatte sich aufgegeben. Er befand sich in Auflösung. Das gnadenlose Pastell seiner Erscheinung ließ ihn förmlich transparent erscheinen. Unsichtbar vor dem Hintergrund der Straßenbäume. Farblos. Ohne Konturen, zerfloss sein Abbild vor meinen Augen ...
Ich weiß, dass Sie sagen werden, dass das Folgende mit Absicht geschah. Dass ich absichtlich aufs Gaspedal trat, als ich ihn auf die Fahrbahn treten sah. Sie werden mir nicht glauben, dass es sich wirklich um einen Unfall handelte. Auch die beiden Polizeibeamten sahen mich skeptisch an. Besonders der Jüngere der beiden.
Wissen Sie, was ich bemerkenswert fand? Der Reflex des flackernden Blaulicht des Krankenwagens verlieh den aufgerissenen, entsetzten Augen des Opfers etwas von ihrer Farbe. So hatte eben alles sein Gutes.
Ich wäre angefahren, so gab ich zu Protokoll, und hätte Gas gegeben. Plötzlich hatte der Nachbar, hinter einem Baum plötzlich hervor stürmend, sich direkt vor mein Auto geworfen. Er sei in hohem Bogen durch die Luft geflogen und mit dem Kopf so ungünstig auf der Bordsteinkante gelandet, dass nicht nur an der unnatürlichen Haltung seines Kopfes ein Genickbruch anzunehmen war. Man müsse ihm zugute halten, dass sein Sohn vor ein paar Tagen spurlos verschwunden war. Seither sei er depressiv, suizidal und einfach nicht mehr der Alte gewesen.
Die Rettungssanitäter konnten nur noch den Tod feststellen. Ich versprach, mich zur Verfügung zu halten, falls noch Fragen beantwortet werden mussten, und händigte den Beamten meinen Schlüssel für die Spurensicherung aus. Für den Schaden an meinem Wagen, so entgegnete der Ältere der beiden Polizisten, würde wohl meine Versicherung aufkommen, sonst die Haftpflichtversicherung des Unfallopfers. Solche Dinge müssen geklärt, werden, finden Sie nicht? Bitte, ich will auf keinen Fall herzlos erscheinen, aber ... möchten Sie auf den Kosten sitzenbleiben? Na also!
Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass der Nachmittag bereits begonnen hatte. Schon so spät! Ich entschloss mich, mit dem Bus zu der Lehranstalt zu fahren, in der Jürgen Schauder sein Unwesen trieb. Das Foto hatte Christine mir zur Verfügung gestellt. Sie erinnern sich. Dieses Salamischeiben-Foto mit den sich nach oben wellenden Ecken.
Die Schule machte gar keinen schlechten Eindruck. Ein Backsteinkasten, ich schätze mal, dreißiger Jahre? Eine Einfahrt zu einem Parkplatz. Der Lehrereingang unterschied sich vom Schülereingang durch die Treppe aus Granitstein, die zum pompösen Portal aus edlem, dunklen Holz, mit kostbaren Schnitzereien verziert, hinaufführte. Die Tür für die Schüler wirkte nicht minder edel, allerdings deutlich schlichter, und mit Glasscheiben. Beide Pforten ließen sich durch leicht überdimensionierte Messing-Klinken öffnen. Über dem Schülereingang stand in ebensolchen Lettern, die allerdings von grünlicher Patina überzogen waren, „Höhere Staatsschule für Knaben“.
Der Schule gegenüber befand sich eine Ladenzeile mit einem Bäcker, der, wie ich annahm, durch die Schüler, die sich in der Pause ein Gebäckstück genehmigten, ein gutes Geschäft machte. Ich nahm an einem der Bistro-Tischchen Platz und orderte eine Erdbeer-Milch.
Also, so lange, bis Lehrer Schauder die Schule verlässt, haben wir einen Moment Zeit, über die Erdbeer-Milch zu sprechen. Ist Ihnen das recht? Ich meine, Sie wundern sich doch bestimmt, oder? Jeder andere hätte sich einen Kaffee, oder wenigstens einen Tee bestellt! Aber Erdbeer-Milch? Da sind Sie erstaunt, sehen Sie! Sie wissen jetzt schon so viel von mir. Ich habe keine Geheimnisse vor Ihnen, im Gegenteil. Merken Sie nicht, wie die Distanz zwischen uns langsam schwindet? Wie wir immer vertrauter werden? Ich genieße diese Atmosphäre sehr. Es ist gut, Menschen zu begegnen, die einen verstehen, und trotz mancher Schrullen so akzeptieren, wie er ist.
Also: Mit der Erdbeer-Milch hat es folgende Bewandtnis. Meine Mutter .... Moment mal ...grauer Haarkranz? Fussballrunder Schädel? Hässliche Brille? Fu Manchu-Bart? Schmallippiger, arroganter Mund? Das war er! Gut, dass ich schon gezahlt hatte. Ohne auch nur einen Schluck meiner Milch getrunken zu haben, stürzte ich aus dem Laden. Entschuldigen Sie, bitte, wir plaudern später weiter! Jetzt muss ich mich sputen!
Ich errötete. Vermutlich konnte er dies angesichts der sparsamen Beleuchtung des Ganges nicht erkennen. Schade. Verlegenheit stand mir gut. Ich wirkte dann wie ein netter, kleiner Junge, den man beim Stibitzen eines Schokoladenriegelchens ertappt hat. Wenn ich so schuldbewusst dreinsah, konnte mir niemand mehr etwas übelnehmen.
„Ich ... ich bin mir nicht sicher! Kennen wir uns denn, Herr ... ääähhh?“
„Schauder. Jürgen Schauder. Der Name sagt ihnen doch bestimmt etwas, oder? Ich meine, wenn sie jetzt mein Nachfolger sind! Im wahrsten Sinne des Wortes!“
Er lachte etwas, aber es klang nicht echt. Zumindest nicht heiter. Bitter, vielleicht. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch den Widerhall, den der Flur verursachte. Sie kennen dies unheimliche, hohle Lachen aus den alten Edgar-Wallace-Filmen, in denen Klaus Kinski und Gisela Uhlen ... egal. Mir jedenfalls liefen kalte Schauer über den Rücken. Mein Gegenüber machte einen Schritt auf mich zu. Er stand jetzt ganz dicht vor mir. Ich spürte, wie meine Haare sich durch den Strom seiner Ausatmenluft bewegten.
„Stimmt doch, oder? Sie sind doch jetzt mit Christine zusammen?“
Ich war bemüht, meine Stimme entspannt und beiläufig klingen zu lassen, als berichtete ich von meinem letzten Urlaub ... obwohl, wie ich Ihnen anvertrauen möchte, mein letzter Urlaub alles andere als unverfänglich verlief. Ich glaube, dass die Polizei in Playa del Ingles immer noch versucht, den Überfall auf den Koch des ‚Chez Luis‘ - unweit des Yumbo Centers - aufzuklären, der damals die Insel in Aufregung versetzte. Man fand ihn leblos im dem Gesicht in seiner Paella-Pfanne liegen. Nennen Sie es einen ärgerlichen Zufall, dass diese Pfanne noch auf dem Herd stand. Der Rauch und Gestank nach Luis angebranntem Gesicht war es dann auch, der ein junges Paar, das den Abend in einer Bar verbracht und sich nun auf den Weg ins Hotel gemacht hatte, auf die nicht ganz abwegige Idee brachte, es könnte etwas mit der Spezialität des Hauses nicht stimmen. Ich hatte diesen Eindruck schon vorher gewonnen, die Diskussion um die Qualität seiner Paella allerdings verloren. Dafür zeigte er sich später, in seiner Küche, meinen körperlichen Kräften deutlich unterlegen. Ein schöner Beweis dafür, dass sich mein Einsatz im Fitness-Studio bezahlt machte. Und ein großartiges Beispiel dafür, dass es im Leben so etwas wie Gerechtigkeit gab, nicht wahr?
Nein. Wo war ich doch gleich? Ach so. Ich erwiderte also: „Ich bitte Sie, Herr Schauder. Christine und ich sind nur Bekannte. Ich habe ihr mit einem Blumenkübel geholfen. Ja, vielleicht kann man sogar von Freundschaft sprechen. Aber ‚zusammen‘ im Sinne von Zusammen ... nein, dass halte ich für übertrieben!"
Er starrte mich erstaunt an. „Wieso? Hat sie noch nicht versucht, sie umzubringen?“
Jetzt war es an mir, verblüfft auszusehen. Ich erinnerte mich an den gallenbitteren Geschmack des Kaffees, der die K.o.-Tropfen enthielt. Wer weiß, was passiert wäre, hätte ich diese zu mir genommen. Erstaunlich, wie zahlreich die Variationen dessen waren, was in meiner Fantasie entstand. „Nun, ich bin mir nicht sicher“, erwiderte ich zögerlich. „Hätte ich ihren Kaffee getrunken, wäre ich vermutlich für eine begrenzte Zeit eingeschlafen, aber umbringen? Nicht mit Gamma-Hydroxybuttersäure!"
Jürgen Schauder lehnte sich etwas zurück und legte den Kopf in den Nacken. „Donnerwetter“, entfuhr es ihm mit bewunderndem Unterton. „Wie haben sie das denn geschafft?“
Ich begriff immer weniger.
„Was, geschafft?“
„Na, dass Christine sich derart in sie verliebt!“
„Woraus leiten sie das ab?“
Er lächelte. „Unsympathische Menschen haben bei ihr keine Chance. Die lässt sie nicht mal in ihre Wohnung. Ach, Entschuldigung, aber - hatten Sie den Eindruck, dass ihre Wohnung ordentlich und sinnvoll aufgeräumt war?“
Ich bejahte dies.
„Sie ist so schrecklich unordentlich, und ihre Art der Raumnutzung ist völlig unökonomisch! Wie oft habe ich aufgeräumt und ihre Sachen geordnet! Ich ertrage es nicht, wenn ...“
Er unterbrach sich.
„Nein. Wenn Sie jemanden mag, tötet sie ihn über Kurz oder Lang. Aber wenn sie versuchte, sie gefügig zu machen, dann ist das der größte Liebesbeweis. Vermutlich hätte sie sie irgendwo angekettet!“
„Wie schön!“, entfuhr es mir mit deutlich ironischem Unterton. „Mir ist allerdings nicht ganz klar, wieso eine derartige Gefangennahme einen Liebesbeweis darstellen soll!“
Nun schaute mich der Lehrer wieder verdutzt an. „Na! Überlegen sie doch mal!“ Es kam mir so vor, als versuchte er, einem etwas begriffsstutzigen Schüler den Satz des Pythagoras zu entlocken.
„Sie hat doch ganz offensichtlich darüber nachgedacht, sie ganz und für immer, vielleicht, an sich zu binden! Im wahrsten Sinne des Wortes! Wirklich erstaunlich, dass sie dieser Falle entgangen sind!“
Mir stockte der Atem. Die Gefahr war ja keineswegs vorüber. In einem unbeobachteten Moment hätte sie den Versuch, mich meiner Freiheit zu berauben, wiederholen können. Jederzeit. Allerdings hatte ich für sie einen Auftrag auszuführen.
Wir saßen beide im Hausflur von Christines Haus, nebeneinander, und an die Wand gelehnt. Der Pädogoge schmunzelte. „Hat sie ihnen auch erzählt, was ich für ein schlimmer Finger bin? Der ihr das Leben zur Hölle machte?"
Ich nickte stumm. Ich kam mir plötzlich irgendwie idiotisch vor. Ich meine, Jürgen war nicht halb so attraktiv wie ich. Aber er war mir auf eine unergiebige Weise nicht unsympathisch. Wenn er lächelte, sogar, wenn dies Lächeln bitter war, zeigten sich Grübchen in beiden Wangen. Wer weiß? Mit einem vernünftigen Haarschnitt, mehr Pflege, einem professionellen Zahn-Bleaching und dem einen oder anderen Eingriff durch einen plastischen Chirurgen ... man hätte aus seinem Gesicht etwas machen können. Vielleicht sollte ich ihn mal unter meine Fittiche nehmen. Als erstes müsste man diese schreckliche graue Freizeitjacke aus Polyester mit dem gestrickten Bündchen verbrennen. Und dann die Sandalen. Mein Gott! Sandalen! Eine Fußbekleidung, durch die man die Zehen sehen kann! Unästhetisch!
„Und wie“, kicherte ich. „Besonders ihre Anordnung der Tassen im Küchenschrank hat sie an den Rand der Verzweiflung gebracht!“
Jürgen sah einen Moment verärgert aus. Dann grinste er. „Das Elend hätten sie mal vorher sehen sollen! Man konnte den Schrank nur ganz, ganz langsam öffnen, und musste eine Hand vor die Öffnung halten, um rechtzeitig die herausfallenden Tassen auffangen zu können!“
Er sah mich einen Moment lang von der Seite an. „Es mag vielleicht etwas schräg klingen“, lächelte er, „aber darf ich sie zu einer Erdbeer-Milch einladen?“
Mir stockte abermals der Atem. „Wie um Himmels Willen kommen sie auf Erdbeer-Milch?“
„Ach wissen sie, das ist eine längere Geschichte! Also, die Geschichte hat mit meiner Mutter zu tun. Die hat ...“
„Wollen wir uns nicht Duzen?“, unterbrach ich mein Gegenüber.
Die Strohhalme, durch die Jürgen und ich unsere Erdbeer-Milch schlürften, waren grün, was, darüber waren wir uns einig, gut zu dem kräftigen Rosa unseres Getränks passte. Außerdem hatte die übereifrige Tresenkraft die Gläser noch mit je einem Papierschirmchen dekoriert. Ich zog meins heraus und entfernte mit der Zunge die pinkfarbene, dickflüssige Schicht vom Stil.
Ich betrachtete mein Gegenüber. So schlecht sah er gar nicht aus, befand ich. Die Haare waren frisch gewaschen, der Fu Manchu-Bart sorgfältig gestutzt. Freundliche, warme braune Augen sahen mich durch eine Brille im Retro-Style an. Mochten seine Lippen auch schmal sein - er lächelte liebenswürdig. Dass der Tag so ausging, hätte er nicht vermutet. Nach der Schule hatte er zunächst beim Roten Kreuz Blut gespendet, „Blutgruppe 0 Rhesus negativ, Universalspender, sehr gesucht“, betonte er stolz, und dann in der Volkshochschule sein ehrenamtliches Engagement für die Integrationskurse für Migranten besprochen.
„Es ist ja nicht so, dass ich mich über Arbeitsmangel zu beklagen habe, aber ich tue so gern Gutes, weißt du?“
Erstaunlich, wie wir uns glichen! Ich knickte vor Aufregung die weiße Stockspitze meines Schirmchens, pulte die Farbe herunter und fand den Anfang der kleinen Rolle aus mit asiatischen Schriftzeichen bedruckten Zeitungspapier, die ich nunmehr abwickelte. Den so entstandenen Streifen strich ich sorgfältig auf dem Tischchen mit der Marmorplatte glatt.
Jürgen lachte wie ein kleiner Junge. „Genau das habe ich früher auch immer mit meinen Schirmchen gemacht! Wie lustig!“
Wir sind uns wirklich ähnlich, dachte ich. Dann erschrak ich. War ich am Ende gar nicht böse? Kein Psycho- oder Sozio- oder Sonstwas-path? War ich vielleicht doch ein Wohltäter der Menschheit, ausgestattet mit dem Auftrag einer höheren Macht, schädliches oder unnützes Leben auszulöschen? Und wenn dem so war: Wo hatte ich Christine einzuordnen? Ob mein Gegenüber die Antwort wusste? Immerhin war er Lehrer.
„Jürgen, sag mal ... Meinst du, Christine ...“
„Genau das habe ich auch gedacht. Du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Sie muss verschwinden. Es ist eine Frage von ‚Sie oder wir‘.“
Er hatte recht. Ich spürte erneut den bitteren Geschmack der K.o.-Tropfen auf dem hinteren Teil meiner Zunge. Trotz der Erdbeer-Milch. Mir graute vor den Senfeiern, obwohl ich die ja prinzipiell gern aß. Ich hatte das sichere Gefühl, dass ich diese Mahlzeit nicht überleben würde.
„Wir müssen uns von ihr befreien“, erklärte Jürgen in geduldigem Ton, wie eben nur ein Lehrer mit seinem Schüler spricht. „Nachhaltig befreien. Sie wird uns anders nicht gehen lassen. Du siehst: Dich hat sie auf mich angesetzt. Und wer weiß, was sie danach mit dir noch alles vorhat. Ihr Plan, dich zu betäuben, ist schiefgegangen. Vermutlich heckt sie just in diesem Moment einen Plan aus, um dich dauerhaft an die Kette zu legen. In ihrem Keller steht eine Gefriertruhe, wusstest du das?“
Die düstere Andeutung beunruhigte mich so sehr, wie sie meine Fantasie beflügelte. Ich stellte mir vor, Christine in eine Art Eisskulptur zu verwandeln, um sie dann aus einiger Höhe fallen und in tausend Stücke zerspringen zu lassen. Sie kennen das Märchen von der Schneekönigin? Hans Christian Andersen? Der Spiegel, der, schaut man in ihn hinein, alles Schöne hässlich und alles Schlechte gut erscheinen läßt? Von dem, als er zerbirst, ein Splitter in das Auge des Protagonisten gerät und dessen Wahrnehmung trübt?
Was würde wohl, meinen Sie, passieren, mit einem Stück tiefgefrorener Christine im Auge? Könnte sich Schlechtigkeit im Opfer ausbreiten? Über den Sehnerven zum Gehirn, und von da aus Besitz ergreifen von seiner Person, seiner Persönlichkeit, seinem Körper ... seiner Seele, gar? Ich meine ... glauben Sie an so etwas wie ‚die Seele‘? Etwas wie Unsterblichkeit? Leben nach dem Tod?
Aus naheliegender Gründen hatte diese Idee für mich etwas Beunruhigendes. Aber ich hielt das ohnehin für ein Märchen. In diesem Fall eine Geschichte, die die menschliche Vorstellungskraft ersann, um sich über das Erlöschen der eigenen Existenz bzw. das Dahinscheiden geliebter Menschen hinwegzutrösten.
„Christine lässt niemanden gehen“, erklärte Jürgen. „Hat sie einmal ihre Krallen in dich geschlagen, bist du in ihr Spinnennetz geraten, ist dein Schicksal besiegelt. Sie lässt dich nie wieder vom Haken. Sie wird jeden deiner Schritte kontrollieren!"
„Jetzt übertreibst du aber. Wie soll das denn gehen?“
„Hast du ein Mobiltelefon?“
„Ja, natürlich. Hier!“
Ich reichte es ihm. Er warf einen kurzen Blick auf das Display.
"Hast du etwa die Spy-App installiert?“
„Was bitte hab ich installiert?“
Er tippte auf den kleinen Bildschirm. „Hier!“
Ein bräunliches, unauffälliges Quadrat mit abgerundeten Ecken, kaum zu entdecken vor dem Hintergrundbild, befand sich in der unteren Reihe der Applikationen. Nein, das hatte ich nicht heruntergeladen.
„Siehst du? Mit diesem Programm kann man leicht erkennen, wo sich das Handy gerade befindet, und mehr noch, man kann es einschalten und mithören, was gesprochen wird!“
Mit wurde schlecht. „Meinst du, Christine hat ... “ Er ergriff den Apparat, drückte ein paarmal auf ihm herum, und lehnte sich lächelnd zurück. „Beruhige dich. Sie beobachtet dich zwar, hat aber noch nicht gelauscht!“
Apropos ‚Dahinscheiden geliebter Menschen‘: Ich schulde Ihnen ja immer noch die Erklärung meiner Beziehung zur Erdbeer-Milch. Komisch, dass auch Jürgen, der gerade sehr geräuschvoll die Reste der fruchtigen Flüssigkeit durch den grünen Halm sog, indem er ihn rasch in immer enger werdenden Kreisen über den Boden des Glases führte, zu diesem Thema etwas beitragen konnte. Was mochte seine Geschichte sein? Meine hatte mit meiner Mutter zu tun, die ein manipulatives Monstrum war. Sogar einer meiner Psychiater bescheinigte mir, dass meine diversen Störungen, die er bei mir diagnostizieren zu müssen glaubte, auf die pathologische Bindung an diese Frau zurückzuführen war. Naja, und einmal passierte es eben, dass meine Mutter für mich ... Verflixt! Das Licht meines Telefons ging plötzlich an! Wieso hatte ich es nicht ausgeschaltet? So was Dummes!
„Sie hört mit“, hatte Jürgen auf einen Bierdeckel gekritzelt.
„Weiß sie, dass wir zusammen sind?“, schrieb ich darunter. Er schüttelte den Kopf und bedeutete mir, dass sein Mobiltelefon ausgeschaltet war. Ich wollte seinem Beispiel folgen, er allerdings winkte heftig ab. „C. wird misstrauisch!“, las ich auf dem runden Filz. Er zeigte auf die Tür zur Toilette. Wortlos durchschritten wir sie. Jürgen legte den Apparat auf den Rand des Waschbeckens und drehte beide Wasserhähne auf. Er zog mich in eine Kabine und schloss die Tür. Sich zu mir herüberbeugend, flüsterte er in mein Ohr: „Du musst sie beseitigen! Ich helfe dir! Nur dann sind wir frei!“
Womit ich nicht wirklich gerechnet hatte, war, dass unvermittelt seine Lippen die Meinen zum Ziel hatten. Er nahm meinen Kopf in beide Hände und küsste mich. Leidenschaftlich. Ich war viel zu perplex, um irgendwie reagieren zu können, so ließ ich ihn gewähren. Ich öffnete sogar ein wenig meinen Mund, in dem seine Zunge nunmehr etwas zu suchen schien. Ob sie es fand, war mir nicht ganz klar. Aber so unvermittelt, wie die kleine Attacke begann, endete sie wieder. Mit seinem Zeigefinger, den er mir auf meine Lippen legte, forderte er mich zum Schweigen auf. Dann verließen wir diesen Ort, nachdem ich den kleinen Spion in meine Hosentasche gesteckt hatte.
BOSHEIT FÜR ANFÄNGER ( Plot Turn 3 )
Das konnte doch nicht wahr sein! Was war passiert? Sollte der bittere Geschmack, den ich beim Genuss der Erdbeermilch in Jürgens Gesellschaft als Erinnerung an Christines Attacke zu verspüren glaubte, doch real gewesen sein?
Ich suchte die Spy App auf dem Display meines Smartphones. Nichts davon war zu sehen. Na gut, das hätte auch jemand löschen können, als ich bewusstlos war … was war mit Jürgen und mir? War das, von dem ich mir nie hatte vorstellen können, dass es mir mit einem Mann passieren würde, tatsächlich geschehen, oder war es nur ein Traum? Und vor allem: War ich jetzt wach? Oder handelte es sich hier nur um die Fortsetzung der durch psychotrope Substanzen hervorgerufenen Halluzinationen?
Der kahle Polizist hielt, der Blonde stieg aus. „Entschuldigung - darf ich bitte mitgehen? Ich muss etwas fragen. Es ist wichtig, glauben sie mir!“
„Ach! Ist es Ihnen eingefallen? Und warum sind sie verpackt?“ Die Tresenkraft im Laden sah mich überrascht, aber auch skeptisch an. Ich war vollauf damit beschäftigt, die Wärmefolie um mich herum möglichst geschlossen zu halten, besonders im Bereich der Körpermitte. Sie müssen wissen, dass Gott oder das Schicksal oder die Natur mich besonders reichlich … also, überdurchschnittlich bedacht hat. Ich bin es gewohnt, bewundernde Blicke und begehrliche Andeutungen auf mich zu ziehen. Hier jedoch hätte es eher gestört, und vom eigentlichen Thema abgelenkt. „Sie erinnern sich an mich?“, fragte ich hoffnungsvoll.
„‚Erinnern‘ ist gar kein Ausdruck“, stellte die junge Frau mit der appetitlich weißen, gestärkten Schürze fest. „Schließlich passiert es nicht täglich, dass ein Kunde das Geschäft betritt, zweimal Erdbeer-Milch bestellt, nur eine trinkt, Selbstgespräche führt und dann aus dem Laden stürmt, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her! Und dann noch, ohne die 9 Euro zu bezahlen, die er schuldig ist! Und die der armen Mitarbeiterin, deren Lohn ohnehin kümmerlich ist, auch noch abgezogen werden!“
„Erinnern sie sich noch, wann das war?“
„Na klar! Vor zwei Tagen!“
„Und sie sind sicher, dass ich …“
„Wenn ich es ihnen doch sage!“
Ich nickte nachdenklich. Sie hatte die Situation überzeugend geschildert.
Ich entdeckte in mir das dringende Bedürfnis nach den kleinen gelben Sonnen. Und wenn sie noch so sehr das Engegefühl in der Brust verursachten. Egal. Sie führten zu innerem Frieden, Harmonie, Ruhe. Sicherheit.
Die blonde Verkörperung der Staatsgewalt hatte den kurzen Dialog schweigend mit angehört. „Ich zahle die beiden Erdbeer-Milch für den Herren mit“, erklärte er der Verkäuferin. Und, mir zugewandt, fügte er ein „Wirklich mysteriös, was Ihnen da passiert ist!“ hinzu.
Es stellte sich heraus, dass seine Frage, an welchen Moment ich mich denn klar erinnern konnte, nicht eindeutig zu beantworten war. Es war mir ja nichts irreal oder wie ein Rausch vorgekommen. Ich hatte alles als ganz wirklich in Erinnerung. Aber dennoch musste der Besuch der Milchbar mit Jürgen bereits unter dem Einfluß einer bewusstseinsverändernden Droge stattgefunden haben. Wer hatte sie mir verabreicht? War es der Kaffee bei Christine gewesen? Ich hatte nur einen Tropfen mit der Zunge aufgenommen, aber manchmal reichte eben auch ein Tropfen! Aber wenn das zutraf, dann gehörte ja bereits die Beschattung ihres Ex-Partners zu meinen Halluzinationen! Oder hatte die Wirkung der Chemikalie erst zeitverzögert eingesetzt? Oder hatte gar Jürgen .. nein, das konnte ich nicht glauben. Zudem war ich doch angeblich allein gewesen, mit meiner Erdbeer-Milch. Was letztlich bedeutete, dass er mir nichts hatte in mein Getränk schütten können. War denn alles eingebildet? Die Verfolgung? Die Begegnung? Der Kuss? Der bedrohliche Dialog zwischen Christine und Jürgen? Das Vitello tonnato?
„So, da wären wir!“, stellte der Glatzkopf fest.
„An ihrer Stelle würde ich ein heißes Bad nehmen, und ordentlich frühstücken!“, lachte der Blonde gutmütig. „Ach ja: Und ziehen sie sich was an! Auch wenn ihnen die Folie ausnehmend gut steht!“
Erneut lachte er über den kleinen Scherz, den er da gemacht hatte.
„Zu Befehl, Herr Wachtmeister!“, entgegnete ich schmunzelnd und salutierte, woraufhin mir die Folie entglitt und den Blick auf etwas freigab, dass dem jungen Beamten ein spontanes „Donnerwetter!“ entlockte.
„Wenn Sie mal Zeit haben - vielleicht können wir mal eine Erdbeermilch miteinander trinken? Ich schulde Ihnen ohnehin noch 9 Euro!“
Er sah mir tief in die Augen. Dann öffnete er die Brusttasche seines Hemdes, beförderte eine Visitenkarte ans Tageslicht und reichte sie mir. „Wenn sie sachdienliche Hinweise haben - das ist meine Durchwahl. Und sollte ich nicht am Platz sein, fragen sie nach Jan. Jan Dammfink. Polizeiobermeister.“
„Daran habe ich nicht einen Moment lang gezweifelt.“
„Woran?“ Er wirkte erstaunt.
„An dem ‚ober‘!“
Fast zeitgleich brachen wir in hemmungsloses Gekicher aus. Als ich die Haustür erreicht hatte, blickte ich zurück. Jan stand noch da, tippte zum Gruß mit zwei Fingern der rechten Hand an den Schirm seiner Dienstmütze, und stieg in den Wagen.
Ich musste Christine sehen. Heute noch. Es ließ mir keine Ruhe. Ich konnte die Realität nicht mehr von fantastischen Hirngespinsten unterscheiden. Was war wirklich passiert, was bildete ich mir ein? Ich verschlang drei meiner kleinen gelben Sonnen und wartete, wie üblich, darauf, dass das Atmen wieder leichter und der enge Gürtel, der sich um meinen Brustkorb gelegt hatte, lockerer wurden. Ich wählte ein lichtblaues Polohemd zu einer anthrazitfarbenen Jeans, das meine Augen zur Geltung brachte. Zudem war es die ideale Kombination zu meinem Teint.
Ein Klirren schreckte mich aus meinen Gedanken auf. Es hörte sich nach einer Glasscheibe an, die unter akuter Gewalteinwirkung zerbarst. Ich sah aus dem Fenster. Mein Blick fiel auf einen ca. 10jährigen, blonden Knaben in rotem T-Shirt, den eine Nachbarin, ihn am Ohr festhaltend, seinem Vater vorführte, der in legeren, ausgebeulten pastellbraunen Cordhosen, pastell-grünlichem Hemd, und beiger, ausgeleierter Strickjacke, auf der Straße stand …. Mir wurde schwindelig. Ich klammerte mich am Fensterbrett fest. Was zum Teufel … ?