Florian de Bergh mochte klassische Musik nicht besonders. Mit seinen sechs Jahren hatte er zwar schon mehr Kompositionen großer Meister gehört als andere Kinder seiner Altersgruppe, aber er
konnte sich nicht wirklich an den Quart-Septimenakkorden, den Trillern und Kadenzen, den Allegretti und Adagios erfreuen. In seinem Alter hätte Mozart schon perfekt Klavier gespielt,
komponiert und sei öffentlich in Salzburg aufgetreten. Derlei bemerkte sein Vater eher heiter und beiläufig, nicht wirklich als Tadel, eher als Ansporn, Florian jedoch empfand durch den
unausgesprochenen Vorwurf seine eigene Unzulänglichkeit. Dies war für ihn besonders quälend. Er wäre lieber geschlagen worden wie Jasper, sein Freund, dessen Vater sich gelegentlich vergaß,
meist unter Alkoholeinfluß, und ihn derart strafte, daß Jasper zum Beweis auf seiner Haut gelegentlich kleine Blutergüsse vorzeigen konnte.
Florian mochte auch Dienstage nicht besonders. An den Dienstagen war sein Vater zu Hause, und auch wenn er in dem Atelier über der Wohnung an dem wunderbaren nachtschwarzen, glänzenden
Konzertflügel mit den elfenbeinfarbenen Tasten für einen Auftritt, ein Konzert, übte, dann hatte der Fernseher nicht laut zu sein, man durfte nicht toben, keine Freunde einladen, nicht laut
lachen; am besten, man nahm ein Bilderbuch zur Hand und übte an den großen Buchstaben, die - in dieser speziellen Reihenfolge angeordnet - das bezeichneten, was unmittelbar darüber
illustriert dargestellt war, zu lesen: Die Tiere des Bauernhofs, Pferd, Hahn, Schwein, Kuh ...
Eigentlich mochte Florian auch das Lesen nicht besonders.
Ähnliches galt übrigens für die Donnerstage.
Vater László de Bergh, ein international bekannter Konzertpianist, erfüllte neben seiner künstlerischen Tätigkeit noch einen Lehrauftrag an der Musikhochschule, und an den Abenden der
Donnerstage fanden Konzerte statt. Florian hatte mehr Freude, wenn sein Vater irgendwo auf Tournee war. Mama Deborah zeigte ihm dann immer auf dem leuchtenden Globus im Bücherregal, wo er,
Florian, wohnte, und wo Papa gerade die ihm andächtig zuhörenden Menschen zu enthusiastischen Begeisterungsstürmen hinriß, und Florian war zufrieden, wenn die Entfernung auf dem farbigen,
meist blauen Ball mindestens die Länge seines Zeigefingers aufwies.
Mama Deborah verbrachte lange Arbeitstage in der Redaktion ihrer Zeitschrift, von der stapelweise Exemplare zu Hause herumlagen, auch solche, die schon Jahre alt waren. Irgendwie waren diese
Zeitschriften heilig, denn als er zum Basteln einmal eins dieser Magazine in seine Bestandteile zerlegt hatte, war Mama sehr böse geworden, hatte aber nicht mit ihm selbst, sondern mit
Bertha, der freundlichen, dicken Haushälterin, geschimpft, die sich um ihn kümmerte, wenn die Eltern keine Zeit hatten, also eigentlich immer.
Florian hatte das damals nicht wirklich verstanden. Auf den glänzenden Seiten war immer wieder das gleiche abgebildet: Dünne Frauen, die so komische Sachen anhatten, in denen sie sich
offenbar nicht wohlfühlten, denn sie saßen nicht gemütlich auf einer Couch oder beim Abendessen, sondern standen in eigenartig verrenkter Körperhaltung vor Mauern, in kargen, unfreundlichen
Landschaften, manchmal sogar in Schwarzweiß, nicht einmal bunt. Nein, Florian mochte auch diese Zeitschriften nicht.
Bertha hingegen liebte er.
Bertha, unbeirrbar und konsequent, war durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Ihre dunklen, von einigen silbrigen Fäden durchzogenen Haare trug sie straff nach hinten gekämmt; am Hinterkopf
bildeten sie einen enormen Knoten, der durch ein spinnwebzartes Haarnetz in Form gehalten wurde. Der Blick durch die bebrillten hellblauen Augen war gütig, ein feines Geflecht von winzigen
Äderchen verlieh, ausgehend von den Nasenflügeln, den Wangen etwas mädchenhaft Frisches.
Bertha brachte es fertig, mit den Augen zu lächeln, sogar dann, wenn ihr Mund hierzu keine Anstalten machte. Das schimmernde Perlmutt ihrer Zähne wurde durch weiche Lippen bedeckt; sie war
rundlich, eher kleinbrüstig, hatte aber ein kräftiges Bäuchlein, über dem eine schneeweiße, knusprig gestärkte Schürze drapiert war. Ein heller Häkelkragen, der durch eine friesische Brosche
zusammengehalten wurde, vollendete das Bild. Ihr Kleid war schlicht und anthrazitfarben, die Schuhe lackschwarz wie Papas Flügel und mit kleinem Absatz, und sie bewegte sich trotz ihres
Umfangs leichtfüßig und fröhlich, anders jedenfalls, als die Frauen in Mamas Magazinen.