Was sonst noch wichtig ist 

Heiligabend 2019, irgendwo vor den Toren Hamburgs. Schon kurz nach Drei! Ich brauche dringend 'nen Kaffee! Macht McDonalds um Vier zu, wie schon die Jahre zuvor? An der Tür steht die Antwort. Na gut.Die wollen ja auch feiern, mit ihren Familien. Und für einen großen schwarzen Kaffee reicht die Zeit allemal.

Es ist voll, wie immer. Kindergeplärr, weil die Asterix-Figur doppelt ist. Rascheln von Tragetaschen, in denen die letzten Geschenke verborgen sind. Hektische Leute, die Papiertüten voller Hamburger hinausschleppen. Da ist man fassungslos!  Soweit ist es also schon gekommen. Aber welche von diesen jungen Dingern, die sich ‚Hausfrauen‘ schimpfen, bekommt den Karpfen so schön blau hin, wie Mama? 

Einige Jungs mit Hintergrund mokieren sich über die liebliche Weihnachtsdekoration. Wartet ab, meine Herren! Spätestens, wenn ihr selbst Kinder habt, werdet ihr euch diesem mächtigen Zauber kaum entziehen können! 

Den Kaffee habe ich, sicherheitshalber und mit miesem ökologischen Gewissen, zum Mitnehmen in so einem kaum recyclebaren Becher gekauft. Warum kostet der hier € 2,79? In ‚meinem Mackie’ verlangt man zehn Cent weniger, und mit meiner Rabattkarte bekomme ich ihn für € 2,42 - hallo? Ich bin Rentner! Da, die Monopoly-Sticker! Mist! Chausseestraße und Nordbahnhof hab ich schon! Trotzdem entschließe ich mich, zum Verweilen Platz zu nehmen und dem heiteren Treiben einen Moment lang zuzuschauen. 

Am Tisch schräg gegenüber, seltsam unbeweglich, eine vietnamesische Familie. Ja, Vietnamesisch, da bin ich sicher. Wegen meines ‚Patensohns’ kann ich Vietnamesen von anderen Asiaten gut unterscheiden. Ein bedrückt wirkender Vater, eine ernste Mutter, die so ein blauweiß gemustertes Piratentuch auf dem Kopf trägt, und zwei Kinder, die sehr still, fast ängstlich, dasitzen. Das Mädchen etwa acht, der Junge wohl 10 Jahre alt , mit einer dicken, schwarzen Brille. Keiner redet ein Wort. Dieses Piratentuch der Mutter! Unpassend. Außerdem unvorteilhaft, bei der Kopfform. Dann doch lieber so ein schickes, violett schillerndes Kopftuch - ob das wohl Seide ist? - wie die türkische junge Frau, die gerade etwas Kuchen kauft! 

Wieso erkennt man eigentlich die Umrisse des Kopfes so genau? Da scheinen gar keine Haare ... in diesem Moment erhebt sich die Frau, und ich sehe, dass ihr die Augenbrauen fehlen, und dass sie eine rosa Schleife an ihrem schwarzen Mantel trägt. Sie bringt das Tablett zum Wagen, der Mann will es ihr abnehmen, lass mich das machen, scheint er zu sagen, sie schüttelt den Kopf - so lange ich es kann, erledige ich das. 

Ich kenne diese rosa Schleife, den Pink Ribbon, der symbolisch an den Kampf gegen Brustkrebs erinnert. Ich begreife. Die Frau bekommt Chemotherapie. Das unpassende Piratentuch verbirgt den kahlen Schädel. 
Sie hat Sorgen, was aus den Kindern wird, falls sie ... In dem Alter braucht man doch die Mutter! Ich muss mich zusammenreißen! 
Wie soll ich mit allem allein fertig werden, wenn ... steht in seinem Gesicht zu lesen. Die Kinder, die Arbeit! Eine Frau, die auf unbestimmte Zeit schwer pflegebedürftig sein wird ... 
Die Kinder sind bemüht, Mama nicht aufzuregen, und brav zu sein, als würde das die Bedrohung mindern, und die vernichtende Angst, dass das hier vielleicht das letzte Weihnachtsfest ist, das sie zusammen verbringen können. 

Wie war das? „Fürchtet Euch nicht“? 

Sie tritt zurück an den Tisch. Sie lächelt, wenn auch nicht ihr ganzes Lächeln, und klatscht in die Hände. Kommt, lasst uns gehen, mahnt sie heiter auf Vietnamesisch. Hockt nicht so bekümmert da! Und dann sind sie verschwunden. 

... sollte man meinen.




Am Beginn der 2. Dekade ...

1938 stellte die UFA einen Film fertig, mit dem genialen Gustaf Gründgens in der Hauptrolle, der im Paris des Jahres 1830, zur Zeit König Karl X., spielt. Der Titel: „Tanz auf dem Vulkan“. Diese Formulierung ist zu einer Art geflügeltem Wort geworden, für bedrohliche, prekäre Situationen, deren Gefahrenpotential man ignoriert, zugunsten des damit verbundenen Nervenkitzels. 

So verbrachten wir die Zehner des neuen Jahrhunderts. Wir sägten an dem Ast, auf dem wir sitzen. Wir handelten und handeln immer noch unlogisch. Wir beklagen Lungenerkrankungen wegen Feinstaub, und werden heute Abend massenhaft von dem Zeugs in die Atmosphäre pusten. Wir protestieren gegen die Ferkelkastration ohne Betäubung, und ängstigen Tiere mit unseren Böllern fast zu Tode. Die Landwirtschaftliche Versicherungsanstalt in Münster hat zudem errechnen lassen, dass zwischen Silvester und Neujahr Treibhausgase freigesetzt werden, deren Wirkung vergleichbar ist mit 2300 Tonnen Kohlendioxid. Das ist ungefähr die Menge, die bei 550 Flügen von München nach New York in die Lufthülle gelangen. Ist doch egal, oder? Ich will Spaß, ich will Spaß! 

Europa zerbricht. England wird nicht das einzige Land bleiben. Diese wunderbare Idee eines geeinten Europa! Wie schade, dass nationale Egoismen ein selbstbewusstes, starkes Europa zunichte machen. Hass, Angst, Neid wachsen minütlich, Humanität gerät ins Hintertreffen. Die Nazis sind im Kommen, und lügen sich an die Macht. Erstaunlich, dass man Wahnsinnige und Lügner wählt. Nicht mal mehr so etwas macht was aus, in der Politik. Aber wer weiß schon, was wahr ist, und was nicht? 

Ich erwähnte schon mal die Erzählung „Es wird schon nicht so schlimm“ von Hans Schweikart, die den Freitod des Schauspielers Joachim Gottschalk, der mit einer Jüdin verheiratet war, zum Thema hatte, und 1947 von der DEFA verfilmt wurde. 

Wie schlimm werden unsere Zwanziger Jahre sein? Die „Golden, Roaring Twenties“ des letzten Jahrhunderts waren aufregend, getragen von wirtschaftlichem Aufschwung. Ein kultureller Höhepunkt jagte den nächsten, Kreativität und Freizügigkeit herrschten. Allerdings beendete 1929 die Weltwirtschaftskrise den Übermut, den Tanz auf dem Vulkan. Leider wurde es dann doch so schlimm. 

Haben wir es noch in der Hand, wie schlimm es für uns wird? Ich sehe hier auf Facebook täglich viele individuelle Meinungen; die, die sich gegen Böller einsetzen, und die, die das gar nicht so schlimm finden. Die, die ‚weiß Gott keine Antisemiten‘ sind, aber finden, dass die Juden deutlich zu viel Macht haben. Die, die ‚ja nun wirklich keine Nazis‘ sind, aber der Auffassung sind, dass wir ruhig mal wieder eine starke Hand vertragen könnten, die aufräumt, in diesem Land. Die, die ‚Schwule, Lesben oder Transgender tolerieren‘, solange sie unsichtbar, und für sich bleiben. Die, die nicht in der Lage sind, Deutschen zuzubilligen, dass sie in eine andere Religion von Eltern anderer Nationalitäten hineingeboren wurden. 
Im Gegensatz zu den Rechten, die ihre Ziele konsequent und mit einer Stimme verfolgen, sind wir unzuverlässig, sprunghaft, widersprüchlich. Das wird uns irgendwann den Hals brechen. Schade. 

Und sonst? Ach so, ja: Ein frohes Neues Jahr wünsche ich euch. Tanzt ruhig auf dem Vulkan. Es wird schon nicht so schlimm! 



Thank you for the music

Heute also. Heute um Mitternacht. Endlich. Ja, ich wiederhole: ENDLICH. Niemand konnte es mehr hören. Passiert es, oder nicht. Abstimmungen ohne Ende. Rücktritte. Populistisches Geschwafel. Und dann wird der Chef-Schwadroneur gewählt, und es ist plötzlich klar: Das war’s. 

Ach, liebe Briten! Ich erinnere mich immer noch gern an 1972. Da war ich niedliche 15 Jahre alt. Ziemlich erfahren, was Reisen angeht. Immerhin hatte meine Mutter, Jahrgang 1933, den Krieg erlebt, und glaubte daran, dass, wenn man andere Länder kennt, vielleicht sogar Freunde dort hat, einem die Lust verginge, auf diese zu schießen. So kannte ich Dänemark, Österreich, Frankreich, Italien, die Benelux-Länder, sogar die Schweiz. 

Ich verdanke meiner Schule, insbesondere dem Fachgruppenleiter Heinz Korf, gefürchteter Englischlehrer an unserer Schule, dass ich mitfahren durfte. Mit der Prins Hamlet bzw. Prins Oberon nach Harwich. Dann an die Zielorte, Canterbury und Bishop's Stortford. „Meine“ ersten echten Engländer hießen Brian und Maria Fowles, die zweite Familie David und Pauline Butterfield. 

Mich zeichnete aus, dass ich kein Englisch konnte, weil ich ja im altsprachlichen Zweig mit Latein und Griechisch herumschipperte. Um zu begreifen, wie überwältigend offen, herzlich, humorvoll die Engländer waren, brauchte ich keine Sprache. Ich hatte Heimweh nach Deutschland, und habe mich drei Tage lang in den Schlaf geweint, weil ich Porridge und Rice Pudding nicht leiden konnte, und ihn trotzdem herunterwürgen musste ( „Benimm dich anständig! Du bist ein Botschafter Deutschlands!“ ), weil ich mangels Vokabular nicht höflich abzulehnen vermochte. Und als die Zeit vorbei war, habe ich wieder geweint, weil ich Heimweh hatte, nach gegrillten Tomaten, Kipper und Sausages zum Frühstück, und besonders nach Winnie-the-Pooh Hunny Pudding zum Dessert. Und auch, weil ich das erste Mal frei war, so herrlich frei, entkommen der Einflussnahme meiner Mutter und ihres Gatten. Das war für mich wichtig. Entscheidend, sogar. Ihr habt mich ein Stück weit geprägt. Ich habe euch immer wieder besucht, und einen Teil meines Herzens bei euch gelassen.  

Freiheit verbinde ich so sehr mit euch, liebe britische Freunde. Gut, dass die Erinnerung ein Leben lang hält, auch wenn ich heute meine zweite Heimat verliere. Aber vielleicht ist das auch bedeutungslos. Wir sind ja nicht aus der Welt. Wir können uns weiter besuchen. Aber das Gefühl wird ein anderes sein. Ich war vom Besucher zum Mitbürger, zum Freund geworden. Jetzt werde ich wieder Besucher sein, ein Fremder, sogar. A bloody foreigner. 

Ihr habt euch entschlossen, zu gehen. Daran ist nicht mehr zu rütteln. Den Winnie-the-Pooh Hunny Pudding gibt es nicht mehr. Times are changing. 

Danke für die Erinnerungen. Thank you for the music.