Ich kaufe einen aparten Strauß Blumen. Pinkfarbene Anemonen, Freesien und Rosen, Ton in Ton. Ein Strauß, wie er nicht passender in ihrem Wohnzimmer hätte stehen können. Sogar die Vase habe
ich vor Augen. Ein wunderbares Stück, Gottseidank heil geblieben. Ganz schlicht, weiß, ein zartes Mohndekor, Trompetenform. Der Vorlage von Schinkel entsprechend. KPM, natürlich. Fast schade,
daß die Blumen diese Vase nie kennenlernen werden.
"Bitte entschuldigen Sie den Überfall, Frau Raddatz! Ich freue mich, daß es Ihnen wieder besser geht!"
"Kennen wir uns, junger Mann?"
Überraschung und Mißtrauen schlagen mir entgegen. Mein Blumenstrauß bleibt gänzlich unbeachtet.
"Frau Raddatz, mein Name ist Bond. Ich bin Privatdetektiv und untersuche einen möglichen Entführungsfall, das Verschwinden eines Obdachlosen. Sein Verschwinden hängt fraglich mit ihrem Unfall
zusammen. Haben sie ..."
... noch irgendwelche Erinnerungen, will ich sagen. Die Patientin läßt mich den Satz nicht vollenden.
"Bond? Etwas Lächerlicheres ist ihnen nicht eingefallen? Ich bin eine alte Frau, und ich lag wohl einige Tage im Koma. Deswegen bin ich nicht senil!"
"Liebe Frau Raddatz ..."
"Ich bin nicht ihre 'liebe Frau Raddatz'! Verschwinden sie!"
"Bitte, Frau Raddatz ..."
"Verschwinden sie, oder ich klingele nach der Schwester!"
"Aber ..."
"RAUS!!! HILFE!!! HIIILFEE!!!"
Die Lautstärke ihrer Forderung treibt mich zur Tür. Ich halte inne. Schnell gehe ich zum Tisch, auf dem ich die Blumen deponiert habe. Ich ergreife den Strauß und gehe ohne ein Wort des
Grußes. Alte Hexe!
Draußen begegne ich der Stationsschwester.
"Na? Haben Sie unser Sonnenscheinchen kennengelernt?"
Sie lacht vergnügt.
"Als Koma-Patientin war sie deutlich angenehmer! Aber der Chef hat einen Narren an ihr gefressen, keiner weiß, warum!"
"Hat sie ihnen gegenüber etwas über den Unfallhergang erzählt, Schwester ... ääh, Ellen?"
Schwester Ellen hebt bedauernd die Schultern.
"Retro- und anterograde Amnesie. Nichts zu machen. Vielleicht kommt die Erinnerung später zurück."
Die Erinnerung ja, ich nicht. Ganz sicher. Nicht nur vielleicht. Immerhin habe ich die Blumen gerettet. So. Jetzt zum Gemüseladen.
Selbstverständlich hat Schwester Jutta keinerlei Mühe, sich aus dem etwas amateurhaften Würgegriff ihres Angreifers zu befreien. Lars Seemann spürt plötzlich ein starkes Brennen in den Augen,
zusätzlich Atemnot und Jucken in der Nase. Und dann gehen bei ihm endgültig die Lichter aus, als Jutta nach gezielter Anwendung des Pfeffersprays noch ihr Knie mit aller Kraft dem
Auftragskiller zwischen die Beine rammt. Er geht zu Boden. Lautlos sinkt er in sich zusammen.
Er kommt deswegen wieder zu sich, weil ihm jemand mit einem feuchten Waschlappen die Augen und das Gesicht abtupft. Verdammt, tun ihm die Nüsse weh! Da, wo er sonst den Bauch fühlt, ist
nichts mehr. Nur ein schwarzes Loch ... Ihm ist schlecht. Kotzübel.
Schwester Jutta tupft. Vorsichtig, fast zärtlich.
"Was sollte der Quatsch? Das hier ist ganz allein ihre Schuld!"
Jetzt leistet sein Opfer schon Erste Hilfe bei ihm. Soweit ist er schon gekommen. Er ist wirklich der lausigste Auftragskiller der Welt. Ob man die Walther bei Ebay einstellen kann?
"Ja, ich weiß", sagt er zerknirscht.
"Tut mir auch leid, wirklich."
"Kommen sie. Gehen wir hoch in meine Wohnung. Ich glaube, untenrum können sie auch etwas Abkühlung vertragen!"
"Ich merke, Herr Harms, daß ich langsam ärgerlich werde. Sie verschweigen ihr Verhältnis mit Schwester Jutta, sie belügen mich über das Verschwinden von Erich Fuhrt, vermutlich haben sie auch
Ercan auf dem Gewissen! Es ist an der Zeit, die Wahrheit zu sagen!"
Ich habe mich vor ihm in bedrohlicher Pose aufgebaut, ihn am Revers seines graugrünen Kittels gepackt, der einen ziemlich reizvollen Kontrast zu seinen roten Haaren darstellt.
"Ok, Sherlock Holmes, ok. Deine Hauptfrage ist doch die nach Erich Fuhrt, oder?"
Ich nicke.
"Also: Er wurde nicht entführt, und es geht ihm gut. Reicht das?"
Er ist wirklich attraktiv, denkt Schwester Jutta. Wirklich SEHR attraktiv. Na gut, zum Friseur könnte er mal wieder. Aber dies kantige, männliche Gesicht, dazu die schönen, feingliedrigen
Hände mit den langen schlanken Fingern, der athletische, muskulöse Körperbau, starke Schultern ... da fühlt man sich einfach sicher, als Frau.
"Ich hab von gestern noch Hühnerbrühe im Kühlschrank. Ich mach sie dir in der Mikrowelle heiß, ja? Du hast bestimmt Hunger!"
Seinen Kopf unterstützt sie sorgsam mit einem Kissen, die heiße Brühe flößt sie ihrem Opfer mit einem Löffel ein. Er sabbert etwas, die Lippen sind noch geschwollen vom Spray. Vorsichtig
tupft sie seine Mundwinkel mit einer Serviette. Eine wundervolle Frau, denkt er. Was für eine wundervolle Frau.
Gut, daß Peter nicht zu Hause ist. Jeroen hat alle Hände voll zu tun. Telefonat, abhaken, Telefonat, streichen, Telefonat, mit Textmarker hervorheben ... aber wie oft wird man schon 60 im
Leben, oder?
"Kann ich was helfen", erkundigt sich Linda, die in der Küche klar schiff gemacht hat.
Jeroen denkt kurz nach. Dann gibt er Linda einen Zettel mit einer Adresse. "Kannst du das organisieren?"
"Und woher, Herr Harms, wollen sie das wissen?"
"Meine Schwester hat es mir erzählt. Schwester Jutta."
"Wozu brauchen sie eine Krankenschwester?"
"Sie ist nicht meine Krankenschwester. Sie ist meine Schwester!"
"Und woher weiß ihre Schwester das?"
"Weil 'Erich Fuhrt' in ihrem Krankenhaus liegt."
Ich merke so etwas wie Ungeduld in mir aufsteigen.
"Ich will die ganze Geschichte. Sonst erzählen Sie sie auf dem Polizeirevier."
Ole Harms setzt sich auf eine umgedrehte Apfelkiste.
"Du warst doch in der Goethestraße, oder?"
"Das ist wahr."
"Hast du den Bätjer gesehen, der gegenüber von der Raddatz wohnt?"
Ich bejahe auch dies.
"Also: Zwischen den beiden herrscht Krieg. Es wird immer schlimmer. Bätjer hat versucht, ein Komplott gegen die alte Hexe zu organisieren, und als sie angefahren wurde ... "
"Ein Attentat?"
"Ach Quatsch! Reiner Zufall! Der Fahrer des Wagens ist viel zu dämlich, um jemanden zu töten! Nein, die Raddatz kam in die Klinik, und er hat Jutta unter Druck gesetzt, sie aus dem Koma in
ein besseres Leben zu befördern! Gedroht hat er ihr. Aber Jutta hat sich nicht beeindrucken lassen. Außerdem hatte Bätjer noch das Problem mit Erich ..."
"Aha. Was ist also mit Erich?"
"Wie soll ich dir das erklären? Erich heißt nicht Fuhrt, sondern Bätjer. Jenny Bätjer. Sie ist nicht sein Sohn, sondern seine Tochter. Getarnt mit angeklebtem Bart und Sonnenbrille. Und sie
war schwanger, was sie hinter ihrer Maskerade geschickt versteckte. Außer, daß sie immer dicker wurde."
"Wozu die Verkleidung?"
"Der alte Bätjer durfte nichts wissen. Der Vater des Kindes ist Professor Kluge, der Chefarzt der Klinik. Und Kluge ist der Bruder von der Raddatz. Jenny hat Kluge ja in der Goethestraße
kennengelernt.
Ein Kind vom Bruder seiner Erzfeindin - das geht überhaupt nicht!"
"Und wieso verschwand Erich ... also, Jenny ... so plötzlich?"
"Das Kind war eine Steißlage. Eines Tages kommt Jenny in meinen Laden, mit einer Blutung. Mit ihrem T-Shirt haben wir diese notdürftig gestoppt. Da kam Seemann vorbei, ich habe mit dem Inhalt
des Verbandskastens aus der Limousine eine Tamponade gemacht, und er hat sie in die Klinik gebracht."
"Und warum mußte Ercan sterben?"
"Kismet! Der alte Propankocher! Ich hatte ihn mehrfach gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören!"
Ja. Aha. Da hätte ich aber auch wirklich von allein draufkommen können. Zwingende Logik.
"Was wurde aus dem Baby?"
"Ein Junge. 52 cm lang, 3350 g schwer. Kerngesund."
"Ich bin froh, daß ich die Walther nicht rechtzeitig zusammengesetzt habe!"
Lars hat Juttas Hand ergriffen und sie sanft gestreichelt. Mit ihren vollen, weichen Lippen berührt sie vorsichtig seine Schläfe
"Sag mal, könntest du dir vorstellen ... "
"Mit dir kann ich mir alles vorstellen!"
Jutta lächelte.
"Wenn man bedenkt, daß du mich vor wenigen Stunden noch ermorden wolltest ..."
Lars kicherte.
"Siehst Du, das ist der Unterschied. So viele Männer wollen ihre Partnerinnen am Ende der Beziehung ermorden. Das haben wir bereits zum Anfang unserer Beziehung erledigt. Ab sofort sind wir
nur noch glücklich! Depressionen und Streitereien sind an der Garderobe abzugeben!"
Man kennt das ja, oder? Man wacht morgens auf, und irgendein komisches Gefühl im Magen sagt einem: es wird etwas passieren. Dazu muß man kein Hellseher sein. Bin ich auch nicht. Gottseidank.
Aber leider: Ich werde 60.
Es bringt nicht nur Nachteile mit sich, zu altern. Man wird klüger, freundlicher, weiser. Auch etwas selbstbewußter. Aber leicht ist was anderes.
Und nun muß ich auch noch befürchten, daß an diesem wunderbaren, sonnigen Aprilsonntag mein Lebensgefährte sich irgendwas ausgedacht hat, was ich vielleicht gar nicht mag, weil ich so ungern
im Mittelpunkt stehe. Ich weiß ja, daß er das macht, weil er mich liebt, aber warum können wir nicht einfach ins Café, frühstücken, und das war's?
"Du, hast Du Lust, ins Café, frühstücken?"
Na also, geht doch!
Wir betreten das Café. Alle Tische besetzt. Moment! Ich traue meinen Augen kaum. All unsere Freunde. Alle. Freunde und Verwandte. Jeroen, der Dussel, hat das komplette Café gemietet. Für
mich. Ich bin sprachlos. Bloß nicht losheulen. Ich habe sowieso nah am Wasser gebaut, und mit dem Alter wird das schlimmer. Er fällt mir um den Hals.
"Happy Birthday, Alter Sack!"
Er tut immer das Richtige. Er ist einfach wunderbar. Er ist mein Grund, zu Leben. Und heute sage ich es ihm. Später. Nicht vor allen Leuten.
Sogar Linda ist gekommen.
"Du, es gibt hier belgische Schokolade, rate mal, wie die heißt: Côte d'Or!"
Wir lachen uns kaputt.
Da klingelt Jeroens Mobiltelefon. Er meldet sich, hört geduldig zu, sagt "Moment, bitte!" und deckt mit der Hand das Handy ab.
"Eine Frau Raddatz. Während ihres Klinikaufenthalts wurde ihre Wohnung aufgebrochen und verwüstet, vermutlich ihr Nachbar. Sie sucht einen Privatdetektiv!"
( So, verehrte Leserin, geehrter Leser, das war's. Komische Geschichte, oder? Irgendwie schräg, nicht wirklich logisch, etwas unglaubwürdig. Aber kommt es immer darauf an? Und vor
allem: Ist nicht heiter viel schöner?
Passen Sie gut auf sich auf! Und bleiben Sie albern! )