Das ist ja furchtbar. Ich kann so nicht arbeiten! 

Man kennt das ja, oder? Man wacht morgens auf, und irgendein komisches Gefühl im Magen sagt einem: es wird etwas passieren. Dazu muß man kein Hellseher sein. Bin ich auch nicht. Gottseidank. Und wehe, Sie lachen, wenn Sie meinen Namen hören. Bond. Peter Bond. 

Ist ja gut! Nicht lachen, hab ich gesagt. Ich heiße wirklich so. Und wenn man schon so einen Namen trägt, liegt der Wunsch nahe, so ein schicker, flapsiger Super-Agent zu werden, wie der Namensvetter.

Um es kurz zu machen: Ich bin klein, schon etwas älter, Asthmatiker, Brillenträger, etwas dicklich, leide unter Höhenangst und einer erheblichen Arachnophobie. Das läßt sich - bis auf das Letzterwähnte - nicht mit der Lizenz, zu töten, vereinbaren. Ich war also gezwungen, meine Ziele etwas herunterzuschrauben, und habe ein Gewerbe als Detektiv angemeldet. Prüfungen? Ob ich Prüfungen abgelegt habe, meinen Sie? Machen Sie Witze? Bei meiner Prüfungsangst? Braucht man auch gar nicht. 

Ich wache also morgens auf, mit einem komischen Gefühl im Magen. Was hab ich gestern gegessen? Diesen köstlichen Coq au Vin, mit dem fantastischen Côte d'Or-Rotwein im Schmorsud. Nein, an dem kann es nicht liegen. Glaub ich zumindest nicht. 

In einem Lichtstrahl der Morgensonne, die sich durch den nicht ganz korrekt zugezogenen Vorhang mogelt, sehe ich einen beneidenswert vollen, kräftigen, rotblonden Haarschopf neben mir. Mein Gott, wie kann man nur so kräftige, lockige Haare haben? Im Gegensatz zu meinen, die schütter und grau sind, und die Friseure üblicherweise mit dem Adjektiv "fein" belegen. 

"Hör auf, mich anzustarren", murmelt es unter der Bettdecke.
"Woher willst Du wissen, daß ich Dich anstarre", erwidere ich schnippisch.
"Tust Du doch, oder?"

Ja, na klar. Und dabei frage ich mich immer wieder, womit ich so viel Glück verdient habe. Nein nein, das ist nett, daß Sie mich trösten wollen. Aber ich merke es doch selbst. Immer, wenn wir ausgehen, spüre ich die Blicke, die uns mustern. Nicht nur wegen des Altersunterschieds. Jeroen ist schön, muskulös, hat strahlende blaue Augen, ein umwerfendes Lächeln, Grübchen ... kurz und gut: Als ich bemerkte, daß er versuchte, mit mir in Kontakt zu treten, dachte ich erst, daß er eine Wette verloren hatte. Ich war mißtrauisch ohne Ende. Ich glaube, ich habe ihn damals, vor 17 Jahren, sehr verletzt mit meiner abweisenden Haltung. 

Er war sehr bestimmt und hatte meine Hände fest in die seinen genommen. 
"Würdest Du bitte meine Entscheidungen mir überlassen?", hatte er sanft gesagt. 
"Wie Du meinst. Aber sag nachher nicht, daß ich Dich nicht gewarnt hätte!" 

Tja, dies komische Gefühl im Magen ... 

Im Flur stolpere ich über Jeroens Sporttasche. Ich sollte ja auch, aber irgendwie geniere ich mich vor den ganzen Jungs, die so aussehen wie er, schlank, mit Muskeln an allen möglichen Stellen, und solariumgebräunter, schweißnasser Haut. Und dann irritieren mich diese Leibchen und Hosen aus Lycra oder wie das heißt, in denen man alles, aber wirklich gesagt, ALLES erkennen kann. 

Gerade habe ich die Dusche aufgedreht und reichlich Shampoo und Duschgel auf mir verteilt, als abwechselnd heftig gegen die Wohnungstür geklopft und Sturm geklingelt wird. Undeutlich nehme ich eine Frauenstimme wahr, aber mit Ohren voller Wasser und Seife? Eben. 

Mein Gott, ist die denn wahnsinnig geworden? Die ist ja kurz davor, die Tür einzuschlagen!
"Jeroen! Jeroen! Gehst Du mal?" 
Das Klingeln und Klopfen hören auf, dafür durchdringt die Frauenstimme Schaum und Wasser. Ich hülle mich in den neuen Bademantel, den ich im Ausverkauf, heute heißt das ja 'Sale', in dem Geschäft für Übergrößen preiswert ergattert habe. Grau, Waffelpiqué. 

Im Wohnzimmer schenkt Jeroen gerade den teuren Côte d'Or-Rotwein in ein Glas. 
"Hier, trinken Sie!"
Ich runzele die Stirn und kritisiere kopfschüttelnd, "Rotwein? Am frühen Morgen?" 
"Weißt Du was Besseres?", erkundigt er sich. "Das Valium-Raumspray ist alle, glaube ich!" 

Die Dame auf dem Sofa schüttet das Glas einfach so in sich hinein. 

"Hey, der war teuer!"
"Noch eins!" 

Sie streckt den rechten Arm mit dem Glas in Jeroens Richtung aus. Der gehorcht. 
Auch dies Glas ist in Sekundenschnelle leer.

"Noch eins!"
"Ich glaube, das reicht jetzt!" 
Sie mustert mich.
"Waffelpiqué. Sehr schick."
"Danke."
"Schön, daß es den in ihrer Größe gab. Grau steht ihnen! - Was ist jetzt mit meinem Wein?"
Mein Mann schenkt nach.

"Hören sie, Frau ..."
"Ericson. Linda Ericson."
" ... Frau Ericson ... was ist passiert? Warum tauchen sie hier in aller Herrgottsfrühe und ohne Vorankündigung auf?"

"Sind sie nun Detektiv, oder sind sie es nicht? Auf dem Schild am Haus steht 'Detektei'. Klar und deutlich!"
Sie schaut zu Jeroen herüber, der sicherheitshalber noch immer die Weinflasche im Anschlag hält. Dieser zeigt auf mich. 
"Der Detektiv ist der da!"

Frau Ericson blickt enttäuscht von ihm zu mir.
"Ach schade ..."
Na, gut, das kenne ich. Fragend schaue ich sie an. 
Sie stellt das Weinglas auf den kleinen Beistelltisch und läßt sich ins Sofa zurückfallen.

( Was glauben Sie, verehrte Leserin, geehrter Leser? Was treibt Frau Ericson um? Wird sie noch ein weiteres Glas Côte d'Or bekommen? Was hat der Gemüsehändler an der Ecke gesehen, und welche Rolle spielt das Taxi, daß unten mit laufendem Taxameter wartet?


Finster stiert sie vor sich hin. Ihr Blick scheint einen Punkt im Unendlichen zu fixieren. Mit tonloser Stimme murmelt sie gedankenverloren vor sich hin.
"Wußten Sie, daß die dreidimensionale Waffelstruktur dem Gewebe eine relative große Oberfläche verleiht, die sie entweder sehr saugfähig oder sehr wärmeisolierend macht?" 
"Nein, wirklich", erwidert Jeroen, Frau Ericsons auf dem Tisch stehendes Glas mit dem Rest aus der Flasche füllend.
"Wie interessant! Wußtest Du das, Pete?"
Ich hasse es, wenn man mich Pete nennt.
"Waffelpiqué ist außerdem sehr luftdurchlässig, so daß es schnell trocknet. Sehr praktisch."
Unser Gast ergreift das Glas und leert es in einem Zug, wie schon die vorigen. 

"Grau ist wirklich ihre Farbe. Steht Ihnen prima!" 
Mit diesen Worten, deren Aussprache schon etwas verwaschen klingt - Kunststück, nach einer kompletten Flasche Côte d'Or in so kurzer Zeit - schließt sie die Augen, und Sekunden später ertönt ein rhythmisches, leises Schnarchen aus ihrer Richtung. Ein Schnurcheln, mehr. 

"Das darf jetzt nicht wahr sein, oder? Hey, Frau Ericson ... "

Ich mache, soweit der Bademantel, der doch etwas zu lang ist, es zuläßt, einen Satz auf sie zu, werde aber von Jeroen zurückgehalten.
"Komm, laß sie. Wer weiß, wie lange sie nicht geschlafen hat."

Mit leiser Bewunderung beobachte ich, wie er sie geschickt umfängt, in liegende Position bringt und den Kopf mit den kastanienbraune Haaren auf eins der unglaublichen Versace-Kissen bettet. Sehr sanft, fast zärtlich. Ich bin gerade sehr froh und stolz, daß er bei mir ist. Aber das behalte ich für mich.

"Ich wäre glücklich, wenn sie ihren Rausch bei ihr zu Hause ausschlafen würde ... was ist das?"
"Ein Eimer. Mit etwas Wasser. Falls ihr schlecht wird."

Er denkt wirklich an alles. Was für ein Mann! Und: Wieso hält er es eigentlich mit mir aus?

"Reichst du mir mal den Lachs?"

Das Frühstück ist für mich die wichtigste Mahlzeit des Tages. Ich genieße die Ruhe, den Zitronentee mit viel Kandis, das wachsweich gekochte Ei, die selbstgemachte Marmelade, in diesem Fall, Erdbeere. 

Vom Sofa her ertönt plötzlich ein heftiges Würgen, gefolgt von der klassischen Geräuschkulisse des Erbrechens, schwallartig. Und noch einmal. Mein Mann ist mit einem Satz bei der Couch und stützt den Kopf der Dame mit der Hand. Ein ekelhafter, säuerlicher Geruch durchdringt den Raum. Leise fluchend reiße ich die Fenster auf. Na prima. Das war's mit dem Frühstück. 

"Na, Linda? Geht's wieder?"

Jetzt nennt er sie schon beim Vornamen. Warum eigentlich heiratet er sie nicht gleich? 

"Darf ich einmal Ihr Bad benutzen?" fragt Linda. Sie zeigt in meine Richtung. "Vorsicht. Sie haben gekleckert!" 

Ich entferne den Erdbeermarmeladenkleks würdevoll. Gut, das Waffelpiqué so saugfähig ist. Wegen der großen Oberfläche. 

Erstaunlich. Im Bad hat sie offenbar ihr komplettes Make-up heruntergewaschen, den dunklen Lidschatten, den knallroten Lippenstift. Sie wirkt, im Gegensatz zu vorher, wie ein junges Mädchen, unschuldig, fast zerbrechlich. Ihr Haar ist am Ansatz noch naß und verstrubbelt. 

"Er ist weg."


Ich trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, ungeduldig. 

"Nun lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Wer ist weg?"

Ihr Blick kündet von ungläubigem Erstaunen. 

"Haben sie es denn nicht bemerkt? Seit zwei Tagen schon! Er stand doch immer vor dem Laden des Gemüsehändlers! Mit seiner Obdachlosenzeitung! Erich ist sein Name! Spurlos verschwunden! Sagen sie, Herr Bond: Interessieren sie sich manchmal auch für jemand anderen als sich selbst?" 

Die Tränen laufen über ihr Gesicht, eine hat es bis zu ihrer Nasenspitze geschafft. Ich wette im Stillen, wie lange sie dort hängenbleiben wird. Ihre bissige Bemerkung überhöre ich.

"In welchem Verhältnis stehen sie zu dem Vermißten?"
"Wir sind Freunde."

Meine hochgezogene Augenbraue beantwortet sie sofort.

"Ich habe ihm regelmäßig die Zeitung abgekauft. Ihm mal den Friseur bezahlt, ihn zum Essen eingeladen. Er ist ein guter Zuhörer, und ein weiser Ratgeber."
"Hat er sich in letzter Zeit verändert?"
"Ich wüßte nicht ... doch ja, mir kam es so vor, als sei er dicker geworden. Aber das hat wohl nichts zu bedeuten." 
"Irgendwelche Andeutungen? Irgendetwas Auffälliges, Besonderes?"
"Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Der Schal. Er trug plötzlich einen teuren, karierten Schal, Burberry, glaube ich. Ich hab ihn gefragt, aber er meinte, den habe ihm ein Kunde aus Mitleid geschenkt."

Und nach einer Pause, die ich fürs Notieren nutze:

"Und? Übernehmen Sie den Fall?"

"Natürlich übernimmt er", höre ich Jeroen antworten. 
Linda Ericson erhebt sich schwankend. 
"Ich muß nach Hause. Außerdem wartet das Taxi unten."

"Ich habe kein Taxi bestellt!"
"Nein, ich weiß. Das ist das Taxi, mit dem ich gekommen bin. Ich dachte, es geht ganz schnell. Egal. Scheißegal."

"Ich bringe sie kurz hinunter, Linda."

Natürlich. Jeroen nun wieder. 
"Ich melde mich bei ihnen, wenn sich etwas ergibt, Frau Ericson. Sonst treffen wir uns in einer Woche zur Besprechung. Wir telefonieren!"

Schwach und etwas unkoordiniert ist ihr Winken, sie schwankt erneut, aber Jeroen ist zur Stelle, er fängt sie auf, er stützt sie. 


"Hören sie, glauben Sie, daß ich auch noch Zeit habe, darauf zu achten, was auf der Straße so los ist? Ich habe nichts gesehen. Der Obdachlose vor der Tür? Keine Ahnung. Ich hab ihm manchmal ein paar angeschlagene Früchte oder etwas Gemüse geschenkt, man ist ja kein Unmensch. Wie hieß er? Erich?"

"Ja, Erich. Erich Fuhrt. Sagte mir zumindest der Pächter vom Kiosk gegenüber. Nichts gesehen? Gar nichts?"
"Ich kümmere mich hier nur um meinen Kram. Großmarkt, Kunden, Gewerbeaufsicht, Gesundheitamt, Finanzamt ... was glauben sie, was ich alles am Hals habe?"

Ich ziehe ein Etui aus der Jackentasche und entnehme diesem ein kleines Stück Papier. 
"Hier, meine Karte. Falls Ihnen noch was einfällt."
Ole Harms, der Gemüsehöker, nimmt sie und wirft sie achtlos auf einen Stapel Kiwis. 
"Gern, mach ich." 
Seine Stimme ist voll Ironie. 

Ich trete vom Laden auf die Straße. Unmittelbar vor dem Laden steht eine Straßenlaterne, vermutlich modern, aber auf alt getrimmt, an der ein Mülleimer befestigt ist. Ein Stück hellgrünen Stoffs hängt über den Rand, mit einem braunen Fleck darauf. Ich ziehe es heraus. Ein T-Shirt. Was ist das für ein Fleck? Er macht den Stoff steif, etwas bröckelt ab. Das wird doch nicht ... 

"Haben Sie eine Plastiktüte für mich, bitte?" 
"50 Cent!" 
"Warum so teuer?"
"Noch nie was von der Verschmutzung und Vermüllung der Ozeane gehört?"

Ich zahle die 50 Cent und bugsiere das verkrustete Shirt in die Tüte. 

( Sie ahnen bestimmt, verehrte Leserin, geehrter Leser, daß das kein Rotweinfleck vom Côte d'Or ist, oder? Kann das sein, daß der zwielichtige Gemüsehändler Harms tatsächlich nichts gesehen hat? Und der Kioskpächter, der, wie wir später erfahren werden, Ercan heißt? Und vor allem: wieviel mag das Taxi gekostet haben?




Ercan ist gerade mit den Remittenden fertig geworden. Jeden Augenblick kommt die Lieferung mit den Tageszeitungen. Sonst ist noch alles da, nichts muß aufgefüllt werden. Der Erste ist erst in einer Woche, dann werden Rente und Sozialhilfe überwiesen, und dann blüht das Geschäft mit den Flachmännern und Zigaretten wieder. 

So, erstmal die Kaffeemaschine anwerfen. Die Becher werden langsam knapp, auch die Plastikdeckel. Er schreibt beides gerade auf den Einkaufszettel für die Metro, als eine Stimme ertönt:
"Kaffee schon fertig?"
"Erst in 10 Minuten, sorry!"
"Macht nichts. Ich trinke sowieso lieber Tee."

Ercan sieht mich überrascht durch das Verkaufsfenster an. 
"Ich hab auch Teebeutel. Heißes Wasser geht schnell!"
"Nee, laß mal gut sein! Ich komm auch nicht deswegen. Kennst du den Obdachlosen, der immer vor dem Gemüseladen steht?"
"Den Erich, meinst Du? Na klar! Aber den hab ich schon ein paar Tage nicht mehr gesehen, nachdem er abgeholt worden ist, mein ich."
"Abgeholt?"
"Ja, von einer silbergrauen Limousine, mit dunkel getönten Scheiben. Ich erinnere mich noch genau, weil so ein Ding hier nicht oft lang fährt."
"Hast Du jemanden gesehen?"
"Wie denn? Es ist ja niemand ausgestiegen. Der Wagen hielt, und offenbar muß auf der Gegenseite jemand das Fenster runtergekurbelt haben, denn Erich ging darauf zu, redete kurz, und stieg dann ein."
"Irgendwas Verdächtiges oder Auffälliges? Hast du das Nummernschild gesehen?"
"Nichts Auffälliges. Das Kennzeichen war von hier."
"Falls dir noch was einfällt, sag Bescheid, ja? Meine Nummer hast du ja."
"Na klar! Du ... der Kaffee wäre jetzt fertig ... einen aufs Haus?"

Was ich nicht mehr sehen kann, ist, daß Ercan zu seinem Mobiltelefon greift, nachdem ich um die Ecke gebogen bin ...

Das hellgrüne T-Shirt muß untersucht werden. Eine Freundin von uns arbeitet in einem Labor, das Vaterschaftstests, Trinkwasseranalysen, Proteine in Textilien und andere unappetitliche Dinge überprüft. Vorsichtig den Kaffeebecher balancierend, greife ich nach dem Plastikbeutel mit dem Aufdruck "Esst mehr Früchte" und betrete die schicken, pastellfarbenen Räume. 
"Ich möchte zu Frau Buchmüller, bitte."
Ist das Laminat? Wohl doch eher Parkett ...  Downlights, soweit das Auge reicht, an den strahlend weißen Wänden moderne Kunst, Glastüren. In einer der Türen erscheint Gabriele. 

"Wenn Du mich freiwillig besuchst, willst du doch was, oder? Ist der Kaffee da alle? Den Becher kannst du gern hier ... " - Fingerzeig auf einen Papierkorb - " ... entsorgen. Du bekommst einen Frischen von mir! Wie geht es Jeroen? Was macht sein Sport?"

Ich folge Gabi zu ihrem Arbeitsplatz und ziehe die Plastiktüte heraus. Sie zieht Vinylhandschuhe an und prüft fachfraulich das Gewebe mit dem Fleck. 

"Blut, kein Zweifel. Die Lokalisation weist auf den Bauch als Blutungsquelle hin, allerdings fehlt für einen Fleck, der durch eine akute Blutung entstanden ist, die typische Kontur. Siehst du, hier? Ein eher diffuses Muster, als ob jemand damit Blut aufgewischt hat!"

"Ich kann dir noch nicht mal sagen, ob das überhaupt was mit dem Verschwinden von Erich Fuhrt zu tun hat. Von denen, die quasi neben ihm standen, als er ins Auto stieg, hat keiner wirklich hingesehen."

Gabi nickte. 
"Morgen Abend hab ich alles fertig. Laß mich raten: es handelt sich um einen kostenfreien Freundschaftsdienst, oder?"
"Das wäre sehr lieb von Dir, Gabi. Sehr hübsche Bluse, übrigens!"
"Jaja. Das zieht bei mir schon lange nicht mehr. Grüß Jeroen, ja?"
"Und du bitte Bernardo!"

Mein Gott, ist das wunderbar, nach Hause zu kommen! Jeroen ist schon da, und es riecht verführerisch nach Curry, Curcuma, Garam masala und Kreuzkümmel. Mutton saag! Und Chicken biryani! 
"Wie lange bist du schon zu Hause?"
"Mutton saag dauert zweieinhalb Stunden ... seit drei Stunden, schätze ich. Mir war nach Kochen!" 
"Es duftet einfach himmlisch. Danke." 

Ich decke den Tisch nach allen Regeln der Kunst, Blumen, Kerzen, Tafelsilber, Damastservietten, und das gute Rosenthal Maria St. Germain. Das zartgelbe Dekor paßt prima zu Curry. 

"Cole Porter recht? Oder was Klassisches?" 
"Cole Porter!"
"Und was trinken wir? Bier?"
"PETER! Also wirklich! Ich hab an Chai oder Lassi gedacht!"
"Also Chai. Ich setzt schon mal Wasser auf."

Und warum, bitte, muß es jetzt klingeln? Jetzt? Ausgerechnet? 

"Ich mach einfach nicht auf." 
"Ach Peter, du bist manchmal wie ein trotziger kleiner Junge. Glaubst Du, 'Miss Otis regrets' hört man nicht durch die Tür? Los, mach schon auf!"

Ich hätte es wissen müssen. Linda Ericson wartete nicht auf meine Einladung, hereinzukommen. Sie stürmte an mir vorbei direkt ins Eßzimmer.
"Habt ihr was zu trinken, Jungs?"
"Der Chai ist gleich fertig ... "
"Chai? Die labberige Plörre könnt ihr selber trinken! Habt ihr noch eine Flasche von dem Wein, den ich gestern hatte? - Oh, störe ich gerade beim Essen?"

"Sei so lieb, leg doch noch ein Gedeck auf!" 
Irgendwie konnte ich es nicht glauben, daß Jeroen das sagt. Ich habe keine Angst, daß mir jemand etwas weg ißt. Aber ich habe mich eben auf die Intimität des gemeinsamen Essens gefreut, und da, plötzlich, kommt sie, 'die Andere', und tritt über die Ufer wie weiland der Nil. 

"Die Musik ist etwas langweilig, findet ihr nicht? Habt ihr was von Aerosmith?"

Mit Entsetzen beobachte ich, daß eine Mischung aus Spinat und Lippenstift in der Damastserviette landet. Das geht nie wieder raus. 

"Ich wäre wirklich dankbar, wenn ich künftig vorher telefonisch von ihrem Besuch in Kenntnis gesetzt würde, Frau Ericson!"

"Jetzt sei doch nicht so förmlich ... ist das ok für euch, wenn wir du zueinander sagen? Peter, Jeroen, Linda!" 

Na klar. 

"Kommt, wir stoßen an! Brüderschaft ... oder bei euch besser: Schwesternschaft!"

Sie kichert. 

"Vorsicht mit dem Alkohol", rate ich. "Ich erinnere mich noch an das letzte Mal. Das ging nicht gut aus!"

Mein Gott, ich klinge wie ein Spießer. Bin ich wirklich so? Ich beobachte sie und ihn, wie sie die Arme ineinander verhaken, jeder aus seinem Glas einen Schluck nimmt, und sich gegenseitig einen Kuß auf die Wange geben. Warum gibt mir das einen Stich? Nach so viel Jahren? Kann das Eifersucht sein? Ich spinne ja total! 

"Weswegen waren sie ... warst du eigentlich gekommen?"
"Mir ist da etwas eingefallen. Als ich Erich das letzte Mal sah, trug er ein neues, hellgrünes T-Shirt. Ich hab ihn daraufhin angesprochen. Er meinte, eine regelmäßige Kundin, eine Frau Raddatz, habe es ihm geschenkt. Sie scheint recht großzügig zu sein, das Heft kostet 2 Euro und 70 Cent, sie habe ihm aber immer einen 5 Euro-Schein gegeben und die Herausgabe des Wechselgeldes nie abgewartet."
"Wo wohnt diese Frau Raddatz? Ich würde sie gern befragen!"

Linda macht eine Pause und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. 

"Hast du das nicht mitbekommen? Frau Raddatz ist vorgestern angefahren worden und liegt bewußtlos im Städtischen Krankenhaus..." 

( Was hat, verehrte Leserin, geehrter Leser, Ercan verschwiegen? Was wird Gabi Buchmüller durch ihre Laboranalyse feststellen? Kann man den Spinat- und Lippenstiftfleck aus dem Damast entfernen? Wird Linda erneut zu viel Wein trinken? Und vor allem: Wie ist Frau Raddatz versichert - Kasse oder privat? )




"Angefahren worden? Laß mich raten: Eine silbergraue Limousine mit getönten Scheiben?" 
"Ja, so stand es zumindest im 'Morgenblatt'. Der Wagen hat sie erwischt und ist um die nächste Ecke. Fahrerflucht!"
"Stand da auch, wo das passiert ist?" 
"Irgendwo in der Nähe vom Kiosk, denke ich, wieso?"

Warum hat Ercan das verschwiegen? Ich meine, wenn unmittelbar vor meinem Laden ein Mensch angefahren wird ... das ist doch ein Ereignis, daß nicht alltäglich ist, oder? So was erzählt man doch, besonders, wenn man sie schon erwähnt und nach etwas Verdächtigem oder Auffälligem befragt wird! Was weiß Ercan? Steckt er da mit drin? Ist er wohlmöglich sogar der Auftraggeber? 

Im Städtischen Krankenhaus erkundige ich mich nach der Intensivstation. 
Die Schwester im 2. Stock trägt einen sehr knappen Kittel, und für meinen Geschmack deutlich zu viel Mascara und Lippenstift.
Sie wirkt gehetzt. 
"Sind sie mit der Patientin verwandt oder verschwägert?"
"Ich bin der Sohn."

Schwester Jutta zieht die rechte Augenbraue hoch, fast bis zum Haaransatz.
"Ganz schön viele Kinder, die Dame. Außerdem ... sind sie nicht etwas zu alt, um ihr Sohn zu sein?"
"Ich stamme aus der ersten Ehe ihres Mannes, wissen sie, Schwester Jutta."
"Aha!"
"Hatte Frau Raddatz schon Besuch von meinen ... Geschwistern?"

Die Fachkraft ist gerade damit beschäftigt, eine rötliche Flüssigkeit aus einer kleinen Glasflasche in eine Plastikspritze zu ziehen. 

"In meiner Schicht? Ihre Schwester - also, ihre Tochter war ein- oder zweimal da. Sagen sie, wieso wissen sie das nicht?"
"Ein Familienstreit. Wir reden nicht miteinander."

Schwester Jutta zuckt die Achseln. Sie schenkt sich Kaffee ein. 
"Wollen sie auch einen?"
"Danke nein, ich trinke lieber Tee!"
"Können sie auch haben! Heißes Wasser ist schnell gemacht! Ich hab auch Teebeutel!"
"Nee, lassen Sie mal gut sein!"

Das Telefon klingelt. 
"Intensivstation Schwester Jutta?"

Was der Anrufer da zu ihr sagt, scheint Schwester Jutta aufzuregen. Ihre Augen verengen sich zu zwei schmalen Sehschlitzen, ihre vollen, roten Lippen preßt sie derart aufeinander, daß die Farbe des Lippenstifts kaum noch zu sehen ist. 

"Nein, Ole. Ich habe doch gesagt: Nicht im Dienst. Bist du total übergeschnappt?"
Und, nach einer kurzen Pause:
"Schlag dir das aus dem Kopf. Die Polizei ..."
Plötzlich scheint ihr einzufallen, daß ich da stehe. Sie starrt mich an, zögert kurz. Dann deckt sie mit der linken Hand die Sprechmuschel ab.
"Wenn sie zu Frau Raddatz wollen, gehen sie. Gleich ist Chefvisite! Frau Raddatz ist privat versichert!"

Ich kostümiere mich mit den bereitgestellten Utensilien, blaue Überschuhe aus Plastik, grüne Haube und Mundschutz, ein Einmalkittel aus grünem Vliesstoff, der mit etwas eng ist. Schwester Jutta ruft mir aus dem Dienstzimmer zu, "Übergrößen haben wir leider nicht!" Den Telefonhörer hält sie noch immer in der Hand.

Es hat Frau Raddatz ordentlich erwischt. Überall Blutergüsse, eine genähte Platzwunde auf der Stirn. In beiden Händen diese Plastikkanülen, über die man versucht, langsam Leben in ihre Venen tropfen zu lassen. Eine Maschine verwandelt Wasser in eine Art Nebel, um die Luft zu befeuchten. Dicke, ziehharmonikaartige Schläuche verbinden den Plastiktubus im Mund der Patientin mit einem Glaszylinder, in dem sich ein gefältelter Gummiballon hebt und senkt. Kabel von unter der Bettdecke her führen zu einem Monitor, auf dessen Bildschirm verschiedene Linien laufen und Zahlen zu lesen sind, die wohl andeuten, daß das Leben noch nicht erloschen ist.
 
Auf dem Nachttisch stehen mehrere nierenförmige Schalen mit Pflegeutensilien, ein Foto in einem kleinen Lederrahmen, das in dieser Umgebung ganz deplatziert wirkt. Man sieht, daß sein angestammter Aufenthaltsort ein Bücherregal, ein kleiner, runder Tisch mit Häkeldeckchen in der Nähe des Fensters neben dem Sessel, vielleicht ein Klavier ist. Eine junge Frau ist darauf zu sehen, im Hintergrund ein Straßencafé. Die Aufschrift  auf der Markise, unter der sie sich aufhält, lautet 'Çayevi Büfe'. Die Frau auf dem Foto lacht vergnügt. Vor ihr, auf einem Holztisch, ein kleines, bauchiges Teeglas auf einem metallenen Untersetzer.

Noch ein Brief, offenbar von der Krankenversicherung. Dämlich, schießt es mir durch den Kopf. Als ob sie den lesen, geschweige denn, beantworten könnte! 
Was steht da? Frau Elke Raddatz, Goethestr. 27 ... 

In diesem Moment öffnet sich die Tür, und Professor Kluge betritt den Raum. Wortlos stürmt er an mir vorbei auf das Bett der Patientin zu. Er ergreift ihre Hand, vorsichtig, wegen der Kanülen. Der Assistenzarzt öffnet den Mund. Auf ein Zeichen von Schwester Jutta hin schließt er ihn wieder. 

Die Krankenschwester deutet mir das Ende der Besuchszeit an. Im Gehen sehe ich, daß der Chefarzt sich mit dem Handrücken über die Augen wischt. Weint er etwa?


"Hallo Gabi, ich bin es, Peter. Hast Du schon was wegen des grünen T-Shirts?" 
Die Stimme an anderen Ende der Leitung klang souverän.

"Blutgruppe A Rhesus negativ. Und genetisch stammt es von einer Frau. Ach ja: Einer schwangeren Frau, dem Hormonspiegel nach. Hilft dir das?"

"Danke, Gabi, Du bist ein Schatz! Sag mal, hast Du eine Ahnung, wie man Lippenstift- und Spinatflecken aus weißen Damastservietten wieder rausbekommt?"
"Ja, na klar. Lippenstift mit Alkohol oder Gallseife, und wenn die Gallseife noch nicht auch gegen die Spinatflecken geholfen hat: mit roher Kartoffel gründlich einreiben und dann in Seifenlauge damit!"

So, nun noch zu Ercan. Warum hat er mir nicht die Wahrheit gesagt? Ich biege um die Ecke der Schillerstraße, in der Kiosk und Laden liegen. Feuerwehr, Polizei, Krankenwagen. Da, wo der Kiosk stand, befindet sich jetzt nur noch eine qualmende Ruine. Geschmolzene Plastikbecker, verkohlte Magazine, nasse Asche. Auf einer Trage ein mit einem Tuch abgedeckter Körper. 

"Eine Explosion. War wie ein Erdbeben. Offenbar die Propangasflasche."
Ich sehe mich um. Ole Harms, der Gemüsehöker.
"Sie haben natürlich nichts gesehen, Herr Harms, oder?"
"Nein, wie denn auch? Ich arbeite hier und spioniere nicht den Leuten nach!"

Ich will nach Hause. Gottseidank nicht mehr weit. Zwei Querstraßen weiter, Bachstraße. 

Beim Öffnen der Tür schlägt mir ein vertrauter, säuerlicher Geruch entgegen. Auf der Couch liegt, leise schnarchend, Linda. Jeroen sieht mich resigniert an. 
"Nach mehr als vier Gläsern Côte d'Or kotzt sie eben", flüstert er.

"Was gibt's 'n da ssu flüssern", lallt unsere neue Duz-Freundin. "Un' warum hassu die häßlichen blauen Schuhe an?"

( Tja, verehrte Leserin, geehrter Leser, ein bedrückendes Kapitel, nicht wahr? Steckt Schwester Jutta mit im Komplott? Weint der Chefarzt vor Glück über eine neue Privatpatientin? War Ercans Tod ein Unfall? Wer ist die junge Frau auf dem Foto? Und vor allem: Wird die Gallseife helfen?




Ach Gott, die Plastiküberzieher von der Intensivstation. Die habe ich völlig vergessen, kein Wunder. Erst die komatöse Frau Raddatz und die unbekannte junge Frau auf den Foto, dann die unbekannte, offenbar blutende Schwangere, dann Ercans Tod, und nun hat sich schon wieder die alkoholisierte Linda in mein Privatleben geschoben, aber dem schiebe ich einen Riegel vor. Nicht mit mir, Damen und Herren. 

"Linda? Linda! Du mußt jetzt heimgehen! Ich muß mir einen Plan für die Recherche zurechtlegen, da brauche ich Ruhe."
"Laß sie doch sich hier ausschlafen. Sie stört doch nicht."

Doch, Jeroen, sie stört mich. Das hier ist MEINE Wohnung, und ich bin befangen. Ich laufe gern mehr oder weniger unbekleidet herum, ich möchte in Ruhe Essen, und ich möchte Dich auch mal ohne Zeugen in den Arm nehmen. 

"Laß mich das mal machen, ja? Ich bring sie nach Hause, sobald es geht. Und ich rede mit ihr, daß sie nächstens vorher anruft, ob's paßt. Gut?"

Ja, natürlich gut. Neidvoll erkenne ich wieder mal, daß er viel freundlicher, sachlicher, überlegter ist als ich. Vermutlich hat das was mit seinem unerschütterlichen Selbstbewußtsein zu tun. Stellen sie sich vor: Neulich übernachten wir in einem Hotel. Er ist gewohnt, für sein Training morgens so einen Proteinshake mit etwas Apfelsaft zu sich zu nehmen. Den Plastikbecher hatte er dabei, aber keinen Saft. Den nähme er mit zum Frühstück, dort gäbe es ja Saft. 

Ich habe mit ihm diskutiert, das Zeug mit Wasser auf dem Zimmer zu trinken, weil mir das irgendwie peinlich war. 

Um es kurz zu machen: Er nahm das Ding mit, und niemand nahm auch nur im mindesten Notiz von uns. Naja.

"Ja, gut. Aber vorher anrufen, und absolutes Alkoholverbot, daß das klar ist! Sag mal, haben wir Gallseife?"
"Na klar. Liegt auf der Waschmaschine, neben dem Pulver. Man kriegt damit ganz gut Flecken raus!"

Ich glaube, er ist mir über. 

Ich nehme einen DIN-A-4-Boden und einen Füllfederhalter. 

1) Was ist mit dem Blutfleck im grünen T-Shirt?
2) Was ist das für eine graue Limousine?
2a) Wer entführte Erich, und warum?
2b) Wer fuhr Frau Raddatz an?
3) Warum hat Ole Harms nichts gesehen?
4) Wer tötete Ercan, oder war es ein Unfall?
5) Kennt Professor Kluge Frau Raddatz?
6) Wer ist die junge Frau auf dem Foto?
7) Goethestr. 27

Ich brauche einen Plan ... vermutlich wäre es am besten, in der Goethestraße anzufangen. Gut, daß keiner, auch Schwester Jutta nicht, daß ich mir den kleinen Schlüsselbund im roten Etui aus dem Nachttisch von Frau Raddatz - sagen wir mal, entliehen habe. De facto ein Einbruch. Aber wie sag man? Wenn's der Wahrheitsfindung dient?

Ach ja, Schwester Jutta! Die hab ich beinah vergessen! Was war mit diesem Anruf? 'Ole', hatte sie gesagt ... der Vorname des Gemüsehändlers war doch Ole! Woher kannte sie ihn? Warum rief er sie genau zu diesem Zeitpunkt, der Explosion des Kiosks nämlich, an? 

Und gänzlich unverständlich die Sache mit dem Shirt, das Erich, der Verschwundene, getragen hat. Der Blutfleck stammt von einer Frau, und zwar von einer Schwangeren. 

Ein Stöhnen, und ein "Aua-aua-aua" reißen mich aus meinen Gedanken. Ach Gott, unser Logierbesuch. Die hatte ich völlig vergessen.

"Habt ihr Aspirin?"

Madame Ericson sitzt auf dem Sofa, bleich, hält sich den Kopf. 

"Geschieht Ihnen ganz recht!"
"Dir!"
"Wieso mir?"
"Geschieht 'dir' ganz recht! Wir duzen uns! Schon vergessen?"

Ach so. Ja. Vergessen, in der Tat.

"Warum muß ich in der ganzen Stadt den einzigen Privatdetektiv mit Alzheimer finden", ächzt meine Duzfreundin. 

"Also, ich darf doch wohl sehr bitten ..." 
Empörend, wirklich. 
Ich werfe die Brausetablette in ein Glas mit Wasser. Sprudelnd liegt sie zunächst auf dem Boden, um sich dann zu erheben und an die Oberfläche zu tanzen.

"Ich trinke nie wieder!"
"Eine gute Idee", pflichte ich ihr bei. "Hast du mal in den Spiegel geschaut? Wie der Tod auf Latschen, sagt man in Berlin!"

"Hast DU mal in den Spiegel geschaut?"
Touché! Damit hatte sie mich.

Als junger Mann, soweit man alten Fotos trauen kann, sah ich mal ganz gut aus. Dann kam die Sache mit dem Knie, Sport - den ich sowieso nie mochte - fiel weg ... und Marzipan  tat das übrige. Und jetzt bin ich ein alter Sack! Sogar ein übergewichtiger alter Sack! Da gibt's nichts schönzureden! 

Mit fast 60 hast Du mehr vom Leben hinter als vor dir! Und jetzt stehe ich mit lauter anderen dicken alten Männern kurzatmig in einem Geschäft für Übergrößen und kaufe graue Bademäntel aus Waffelpiqué ...

Eine Hand berührt meine Schulter.
"Woran denkst du?"
"Ach, nichts. An den Fall."

Jeroen sieht mich an.
"Dussel", sagt er.
Es gibt keine Worte dafür, wie froh ich bin, daß er bei mir ist. 
Bestimmt sage ich sie deshalb so selten.
Viel zu selten.

"Ich glaub, mir wird schon wieder schlecht!"
Ach Leute, nimmt das denn kein Ende? Ich reiße das Fenster auf und brülle, "ins Bad, aber hurtig!"
Hurtig! Irre was für Wörter in meinem Kopf beheimatet sind ... da! Schon wieder! 'Beheimatet' ... Irgendwann mal, wenn ich Zeit habe, schreib ich alles auf!

Jeroen trägt Linda zurück ins Wohnzimmer. Sie hat ihren Kopf matt an seine Schulter gelegt, die Augen geschlossen, erschöpft, zerbrechlich wie die Porzellanfiguren aus Meißen, die ich von meiner Großmutter geerbt habe. Sie stehen dekorativ auf dem Sideboard und sind eigentlich nur Staubfänger, aber was soll man machen? 

Jeroen tupft mit einem Frottierhandtuch das schweißnasse Gesicht des Opfers trocken. Dann geht er in die Küche und bringt nach kurzem Rumoren einen Gefrierbeutel mit Eiswürfeln, den ein in ein Geschirrtuch einschlägt und ihr auf den Kopf legt. 

"Aaahhh, das tut gut! Danke, Jeroen!" 


Ich stehe vor dem Städtischen Krankenhaus. Es ist 22 Uhr. Die Schicht von Schwester Jutta muß gleich vorbei sein. Keine Besucher, nur noch Personal kommen und gehen durch den Haupteingang, der neuerdings überdacht ist, und von Rauchern belagert. 

Da kommt sie, mit zwei Kolleginnen. Sie unterhalten sich, Jutta lacht und macht eine wegwerfende Handbewegung. 
" ... Quatsch, hab ich gesagt. Wäre ich Pflegedienstleitung, würde ich mal mit dem Oberstadtdirektor den Personalschlüssel überarbeiten!"
Die Kolleginnen stimmen ihr zu, dann
"Tschüss, bis morgen!" und "Machts gut, aber nicht zu oft!"

Ich folge Jutta vorsichtig in Richtung Innenstadt. Sie legt ein ziemliches Tempo vor, ich gerate etwas außer Atem, mein linkes Knie schmerzt. 

Da tritt aus einem Hauseingang plötzlich ein Schatten hervor.
"Guten Abend, Schwester Jutta!"
Jutta stößt einen kleinen Schrei aus. Sie versucht, dem Schatten zu entkommen, aber er ist schneller als sie. Er hat sie am Arm gepackt und reißt sie zurück. 
"Warum hast du deine Anweisung noch immer nicht ausgeführt ?"
"Ich kann doch nicht ... "
"Bleib stehen! Natürlich kannst du! Bis morgen ist alles erledigt, haben wir uns verstanden?"

Sie nickt.
"Lassen sie mich los! Sie tun mir weh!"
Er lacht. Ein heiseres, häßliches Lachen. 
"Mach keinen Fehler. Du weißt: Er versteht keinen Spaß!"

Der Kerl verschwindet ins Dunkle, aus dem er gekommen ist. Jutta lehnt sich schwer atmend an eine Hauswand.  Einen Moment später ertönt das Geräusch von Laufen auf dem Pflaster. Ich höre erneut eine Männerstimme. 
"Jutta! Wer war das?"

( Ja, verehrte Leserin, geehrter Leser, wer mag das gewesen sein? Und wer ist der heranstürmende Kavalier, der das wissen will? Und wer ist dieser 'Er', der keinen Spaß versteht? Welchen Job soll Jutta erledigen? Was erwartet mich in der Goethestraße? Und vor allem: ist der Gefrierbeutel dicht genug, wenn das Eis schmilzt? )



"Es tropft! Es tropft wie verrückt! Das schöne Kissen!"

Ich komme gerade noch rechtzeitig heim, um Zeuge des erschrockenen Ausrufs meiner neuen Freundin zu werden. Die Eiswürfel sind geschmolzen, und sind gerade dabei, auf dem hinreißenden, teuren Versace-Kissen einen Wasserfleck zu hinterlassen. Das wird einen Rand verursachen. Egal. Ist zu verschmerzen, ist zu ersetzen. 
Moment mal. Was hab ich da eben gedacht? Und zu meiner Überraschung höre ich mich fragen:

"Wie geht's Dir denn, Linda? Du siehst besser aus! Richtig wieder Farbe hast du im Gesicht!"
"Ja, danke. Und wenn ich je wieder ein Glas von dem Wein verlange, erschießt mich. Oder werft mich aus dem Fenster. Oder am besten beides, in dieser Reihenfolge. Ich trinke nie wieder!"

Jeroen lacht heiter und zeigt dabei seine bildschönen, wohlgeformten weißen Zähne zwischen den vollen Lippen. Er hat einen charmanten Überbiß, ganz dezent. Sehr apart. Wenn er lächelt, entsteht ein Grübchen, allerdings nur rechts. Komisch, nicht? Links noch nicht mal andeutungsweise, als ob da die Nerven nicht mitspielen. Aber gerade diese Asymmetrie macht ihn so einmalig und attraktiv. Finde ich. Leider auch viele andere, was in der Vergangenheit immer wieder zu Problemen und Auseinandersetzungen zwischen uns geführt hat. Es hat etwas gedauert, bis ich glauben konnte, daß er für die Flirtversuche anderer taub und blind ist, und nun, da ich älter werde, nagt er gelegentlich wieder an mir. Der Zahn der Eifersucht, nämlich. Aber er ist dann böse mit mir, weswegen ich es nicht zeige.

"Wenn's bei einem Glas bliebe, wäre es ja kein Problem, Linda", grinst er fröhlich. 
"Schwierig wird es ab Glas Nr. 4!"

Linda zieht sich zurück, um, wie sie es nennt, die Kriegsbemalung zu erneuern. Die Frau, die aus dem Bad zurückkehrt, ist eine Überraschung. Schick geschminkt, die inzwischen wieder getrockneten Haare geordnet, erinnert sie nur noch schwach an das alkoholisierte Wrack, das kürzlich Jeroens schönes Curry erbrach, oder zart und zerbrechlich auf seinen Armen ruhte. Mein grauer Bademantel ( Waffelpiqué, sie wissen schon! ) steht ihr besser als mir. Die kastanienbraunen Haare bilden einen sehr reizvollen Kontrast. Allerdings hat sie die Ärmel mindestens dreimal umkrempeln müssen, die Taillenweite durch Falten reduziert. Zudem rafft sie das Ding wie weiland die Damen ihre zu langen Röcke. 

"Kinder, Kinder! Das ist eine Einzimmerwohnung, kein Bademantel!" 

Ich habe inzwischen Tee zubereitet. Assam. Mit Kandis und Zitrone. Obwohl - ich soll ja keinen Kandis, wegen Übergewicht, und außerdem war mein Vater Diabetiker, und wann immer ich beim Arzt bin, warte ich ängstlich speziell auf dieses Ergebnis, das aber - ich klopfe auf Holz - bisher immer in Ordnung war. 

Zeit, zu resümieren. Offenbar wird Schwester Jutta erpreßt, und Frau Raddatz, die Bewußtlose, schwebt in Lebensgefahr. Irgendjemand muß zu ihr und sie bewachen. 

"Das kann ich übernehmen", schlägt Linda vor. 
"Ich bin weiß Gott ausgeschlafen!"
"Das ist wohl wahr! Und vielleicht kannst du, so von Frau zu Frau, was über Schwester Juttas Herrenbekanntschaften herausfinden!"

Und ich begebe mich mal in die Goethestraße. 

Das Haus liegt ungefähr in der Mitte der Straße, rechterhand, vom Kleistplatz herkommend. 
Klassizistische Fassade, wie die meisten Häuser hier, vor noch nicht allzu langer Zeit frisch weiß gestrichen, leider energiesparende Thermopenfenster mit Plastikrahmen. Sehr gepflegter, kleiner Vorgarten. Vor dem Haus stehen die blaue Tonne für den Papier- und die braune für den Biomüll.

Ich muß mich etwas durch die 5 Schlüssel, die sich am Bund befinden, durchprobieren, dann finde ich den für die Eingangstür. Dem Klingelschild nach lebt Frau Raddatz im 3. Stock links. Kein Fahrstuhl. Der Briefkasten quillt nicht über, offenbar kommt jemand, der hier nach dem rechten sieht. 

Auf der Fußmatte, die vor dem Eingang liegt, ist das Wort "Willkommen" zu lesen. Auch hier muß ich wieder probieren. Gerade, als ich den passenden Schlüssel finde, öffnet sich die Tür gegenüber. Ich habe den Namen auf dem Klingelschild gelesen. Bätjer. Dietmar Bätjer. 
"Guten Morgen, Herr Bätjer!"
"Nanu? Kennen wir uns?"
"Nein, aber meine Tante redet in höchsten Tönen von ihnen! Sie müssen der weltbeste Nachbar sein!"
"Sind sie sicher, daß ihre Frau Tante mich meinte? Normalerweise ärgert sie sich über den vielen Besuch, den ich habe, das bringe Dreck ins Haus, und wegen meiner Musikanlage - besser, wegen der Lautstärke, hat sie mir schon zweimal die Polizei auf den Hals geschickt!"
"Äähh, ja, das mag sein ... aber trotzdem, sie mag sie sehr ... ich glaube, sie findet sie auch als Mann attraktiv!"

Warum kann ich nicht die Klappe halten? Herr Bätjer ist mindestens 80, kahl, stechende, wasserblaue Haifischaugen, und maximal 1,70 m groß. Irgendwie unsympathisch. 
Er sieht mich zweifelnd an. "Es war schon immer etwas Besonderes, einen guten Geschmack zu haben", grinst er, wobei eine gewaltige Zahnlücke zwischen den beiden Schneidezähnen im Oberkiefer sichtbar wird.
Ich lächele zurück. 
"Dann woll'n wir mal Blumen gießen! Frisch ans Werk", sage ich munter. Der Nachbar wünscht mir viel Freude.

Entweder ist Frau Raddatz die unordentlichste Frau der Welt - was wenige wahrscheinlich ist, da Fensterscheiben, Herd und Spiegel in Flur, Gäste-WC und Bad blank gewienert sind - oder ein jemand hat hier unter Zeitdruck und ohne Rücksicht etwas gesucht. Bücher vor den Regalen auf dem Boden, Wäsche aus dem Kleiderschrank gerissen, die Türen vom Spiegelschrank im Bad offen, der Inhalt über Waschbecken und Fußboden verteilt. 

Ich betrete die Küche. Ein seltsamer Geruch berührt meine Nase. Knirschend steige ich über zerbrochenes Geschirr und Glasscherben, das Tiefkühlfach ist zwar geschlossen, aber Spinat, Eiswürfelbereiter aus Aluminium, ein Toastbrot und ein Becher Vanilleeis modern auf dem Fußboden davor. Mein Blick fällt auf den Küchentisch. Ich kann es nicht glauben. Ekelhaft! 

( So, verehrte Leserin, geehrter Leser. Ich muß leider aus dem Haus, deswegen mache ich für heute hier Schluß. Was meinen sie? Was entsetzt den dicken Detektiv, der jetzt noch zum Einbrecher geworden ist? Warum hat Herr Bätjer nichts gemerkt, und wer hat in der Wohnung was gesucht?  Und vor allem: Kann Linda Schwester Jutta das eine oder andere Geheimnis entlocken - so von Frau zu Frau? )



 


Schwester Jutta bereitet sich auf ihre Schicht vor. Sie hat heute etwas länger geschlafen, Spätschicht, von 14 bis 22 Uhr. Ist sie ausgeschlafen? Eher nicht. Hoffentlich kommt die Nachtwache etwas eher, damit die Übergabe pünktlich stattfinden und sie rechtzeitig aus dem Haus kann. 

Mit einem weißen Haarband hält sie ihre blonde Haarpracht davon ab, unkontrolliert in Stirn und Gesicht zu fallen, und pflegt sich ausgiebig mit Reinigungsmilch. Rückfettend. Dann ein erfrischendes Gesichtswasser, und danach ein Serum, das sie im Teleshop wohlfeil erworben hat. 

In der Pubertät, als Teenager, hatte sie ein schreckliches Akne-Problem, und nichts half, alles hatte die Haut ausgetrocknet. Die eitrigen Pusteln machten sie zum Gegenstand des Gespötts und unverhohlenen Abscheus. So sehr hat sie darunter gelitten, daß sie niemals ohne das morgendliche Pflegeritual die Wohnung verläßt. Nicht einmal zum Briefkasten zu gehen, oder den Müll runterzubringen, gestattet sie sich. 

Ein Blick zur Uhr zeigt ihr, daß es langsam Zeit wird. So, unkompliziert: Jeans, und das schicke Top in floraler Optik aus Viscose mit raffinierten Spitzenapplikationen. Auch aus dem Teleshop. Verflixt. Im Krankenhauskiosk unbedingt die aktuelle Frauenzeitschrift kaufen, da steht die neue Diät drin. Vier Kilo in einer Woche, steht auf dem Cover, das muß reichen. Zu viel Mon Chéri auf Station! Warum bringen die Angehörigen bloß immer Mon Chéri mit? 

Den Kiosk in der Beethovenallee, gegenüber von Ole Harms' Gemüseladen, gibt es ja nicht mehr. Ach, Ercan!

Ich befinde mich in der Küche der Goethestraße 27. ich kann es fast nicht glauben, daß auf dem Küchentisch eine offene Schachtel mit Mon Chéri steht. Grauenvoll! Ich meine, mal abgesehen von der Verwüstung, die mein Vorgänger hier hinterlassen hat, sind Einrichtung und Ausstattung der Wohnung schlicht, aber geschmackvoll. Und dann das! Was treibt einen Mensch zum Kauf von Mon Chéri? Einsamkeit? Verzweiflung? Unzufriedenheit mit seiner derzeitigen Lebenssituation, oder gar mit sich selbst?

Ich richte im Wohnzimmer einen der umgefallenen Bilderrahmen auf. Da! Offenbar aus der gleichen Serie wie das Bild auf dem Klinik-Nachttisch. Auch auf den anderen immer wieder dasselbe Motiv. Wieder das Straßencafé, wieder die junge Frau. Die Glasscheibe ist zerbrochen. Vorsichtig schäle ich das Foto heraus. 'Istanbul, Mai 2012' ist mit einem Bleistift geschrieben. Ich verstaue es in meiner Jackentasche. Wen stellt es dar, und wer hat es geknipst?

Sorgfältig schließe ich beim Verlassen der Wohnung die Tür. Hinter mir steht plötzlich der Nachbar.

"Herr Bätjer, haben sie mich aber erschreckt!"

Der Angesprochene lächelt sein breitestes Zahnlückenlächeln.

"Ein reines Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen, nicht wahr, Columbo?"
Ich fahre zusammen.
"Wieso, Columbo?"
"Das war ein Spaß, nur ein Spaß! Trägt dieser Fernsehfritze nicht auch so einen Trenchcoat? Ihrer ist allerdings vier Nummern größer!" 
 
Er bricht in fröhliches Gelächter aus.
"Kennen Sie die junge Frau auf dem Foto?"

Ich halte ihm meine Beute unvermittelt unter die Nase. Seine wasserblauen Augen blicken kalt. Das Lachen weicht aus seinem Gesicht und macht einem schmallippigen Stirnrunzeln platz. 

"Von Ansehen kenne ich sie. Die war manchmal bei Frau Raddatz. Aber in welcher Beziehung sie zu ihr steht - keine Ahnung. Wissen sie, leben und leben lassen. Ich kümmere mich nicht um die Privatsachen der Nachbarn."
"Natürliche nicht", beeile ich mich, zu sagen, und stecke das Bild in die Tasche zurück.

Ich werde den Gemüsehöker fragen. Ach, wenn ich gerade da bin ...
"Jeroen, ich bin's! Du, ich will noch zum Gemüseladen. Soll ich was mitbringen? Nur Zitronen? - Was gibt es heute? Oh, lecker! Ich mach ganz schnell, ja?"

Getragen von dem Gedanken an Bratkartoffeln, selbstgemachte Sülze und Remoulade, natürlich auch selbstgemacht, eile ich - so schnell mein Knie es zuläßt - aus der Goethestraße zur Beethovenallee. Ach, Jeroen. 

"Tante Elke!"

Linda Ericson bewegt sich an der Grenze der Übertreibung. Durch die Glasscheibe blickt sie wie ein amerikanischer Stummfilmstar auf die Patientin.
"Laßt mich zu ihr!"
"Bitte legen sie Kittel, Haube und Mundschutz an, auf die Überschuhe und Handschuhe können wir inzwischen verzichten, aber - Hände desinfizieren, beim Rein- UND Rausgehen!"

Linda folgt Schwester Juttas Anweisungen. Die Schwester fragt ihre Kollegin: "Kluge ist schon durch mit der Visite, oder? Dann muß ich nur noch Pneumonie- und Dekubitusprophylaxe?"
"Genau. Und Medikation nach Plan, und natürlich das Einfuhr-Ausfuhrprotokoll!"
"Na denn: Schönen Feierabend! Hast du Wochenende frei?"
"Ja, ich hab Montag spät! Ruhigen Dienst!"

Linda hat sich einen kleinen Sessel gesichert und sitzt am Bett der Patientin, deren Hand haltend. Schwester Jutta nickt wohlwollend lächelnd, zu ihr herüber. 
"Wollen sie was zu trinken?"
Linda strahlt sie dankbar an.
"Vielleicht ein Wasser?"

Sie erhebt sich und folgt der Fachkraft. 
"Oh, Mon Chéri!"
"Mögen sie die?"
"Ich ernähre mich praktisch davon!"
"Bitte, bedienen Sie sich! Ich bin froh, wenn das Zeug verschwindet. Sie kennen das ja: Fünf Minuten im Mund, lebenslang auf den Hüften!"

Schwester Jutta hängt Jeans und Top auf einem Bügel und öffnet die Tür zu ihrem Spind.

"Wirklich süß, das Top! Das steht Ihnen bestimmt ganz ausgezeichnet! Woher haben sie das?"
"Teleshop! Aber nicht verraten!"
"Auf keinen Fall! Wie raffiniert, diese Spitzenapplikationen! Welcher Shop ist das denn? - Das ist Viscose, nicht? Deswegen fließt der Stoff auch so elegant! - Ihr Mann muß doch hin und weg sein!"

"Ich bin nicht verheiratet", schmunzelt Jutta.
"Na dann eben ihr Freund!"
"Ach, der hat für sowas keine Augen! Für den gibt es nur seinen Laden! Von morgens früh zum Großmarkt bis zur Abrechnung abends!"
"Jaja, so sind die Kerle! Schrecklich! Aber wehe, wir achten mal nicht auf unser Äußeres! Dann schielen sie nach dem jungen Gemüse!"

Schwester Jutta grinst fröhlich.
"Wenn sie wüßten, wie recht sie haben!"

 Ich habe Ole Harms 10 Zitronen abgekauft. Ich meine, es sind schöne, große Zitronen, aber ... 2 Euro pro Stück? Also 4 Mark? EINE Zitrone? 4 Mark? Ein Bekannter sagte neulich, hör endlich auf, umzurechnen ... aber 4 Mark ... eine Unverschämtheit.

Zu Hause stehen Sülze und eine kleine Schüssel mit Jeroens köstlicher Remoulade bereits auf dem Tisch. 
"Schön, daß Du da bist! Ich schmeiß die Kartoffeln in die Pfanne!"
Er nimmt mich kurz in den Arm, bevor er in die Küche geht. Und kurz danach erfüllt der verführerische Duft gebratener Kartoffelscheiben mit Speck und Zwiebeln den Raum.

Es klingelt an der Tür.
Kann man nicht mal in Ruhe essen?

"Laß nur, ich gehe!"

Linda stürmt an mir vorbei direkt ins Bad. Der säuerliche Geruch von Erbrochenem mischt sich mit dem der Bratkartoffeln.
Und: Das war es dann mit dem Abendessen. Vielen Dank. 

"Mein Gott, Linda! Diese Kotzerei mußt Du Dir dringend abgewöhnen! Warum den nun schon wieder?"
"Zu viel Mon Chéri! Eineinhalb Schachteln! Von Frau zu Frau!" stößt sie hervor. Jeroen hält ihr die kastanienbraunen Haare aus der Schußlinie, und trägt sie anschließend ins Wohnzimmer. Ich habe in der Küche bereits den Eisbeutel gerichtet. Er schaut mich überrascht an. 
"Danke!"
"Jaja, schon gut", wehre ich ab.
Gleich darauf erfüllt leises, rhythmisches Schnarchen den Raum.

( Verehrte Leserin, geehrter Leser, ich leg mich auch hin. Ich hatte mich so sehr auf die Bratkartoffeln gefreut, und dann ... aber bei aller Enttäuschung hatte ich heute irgendwie ein ... Ja, mein Gott, nun gucken sie nicht so! ein zärtliches Gefühl für Linda, wie sie da so hilflos und blaß in den Armen meines Mannes lag. 
Egal. Ich leg mich hin, und die Fragen, was Linda herausbekommen hat und wer die junge Frau, die im Mai in Istanbul war, ist, klären wir später. Vor allem aber: Müssen Zitronen wirklich 2 Euro das Stück kosten?



Lars Seemann zieht einen Zettel aus der Jackentasche. Hier irgendwo muß es sein. Sein Auftraggeber hatte ihm nüchtern die Beseitigung eines Menschen aufgetragen. Sein Handwerkszeug, eine auseinandergebaute Walther WA 2000 mit Zielfernrohr und Schalldämpfer, trägt er in einem formschönen Karbonkoffer in seiner Rechten. 

Da! Grillparzerring Ecke Kafkaweg! Das ist es! Die Straßenbeleuchtung vom Grillparzerring her ist sicher sehr hell, der Kafkaweg eine eher düstere Seitenstraße. Zwischen 22:30 und 23:00 Uhr wird die Zielperson hier den Hauseingang ansteuern. Noch fast 5 Stunden Zeit. 

Lars Seemann ist ein attraktiver Mann. Alle hatten gedacht, daß aus ihm ein Model werden und sein Gesicht von Litfaßsäulen und aus Werbespots auf das staunende Publikum herabsehen würde. Zum Erstaunen aller jedoch machte er eine Banklehre, die er mit einigem Erfolg zu Ende führte. Jetzt ist er stellvertretender Filialleiter. Und Auftragskiller. Seit drei Jahren. Aufträge hatte er erst einen. Er war dafür bezahlt worden, den Dackel eines Rentners in seiner Nachbarschaft zu eliminieren. Ein bösartiges Vieh, das jeden Passanten mit Knurren und Kläffen kommentierte. 

Die Investition in die Walther wäre gar nicht nötig gewesen. Beim rückwärts Einparken war ihm der Hund versehentlich unter die Räder seiner Limousine  geraten. Durch die getönten Rückscheiben hatte er den kurzbeinigen Kläffer nicht richtig sehen können.
Immerhin, 150 Euro. Er hatte mit seinem Auftraggeber verhandelt, aber auch eingesehen, daß man als Anfänger nicht mehr verdienen könne. 
"Lehrjahre sind keine Herrenjahre", hatte Frau Reichwein, eine ziemlich resolute Dame, betont. Das war in der Sparkasse nicht anders gewesen. 
Und auch jetzt, mit den neuen Auftrag, wird sich das Präzisionsgewehr noch nicht amortisieren. 

Lars Seemann steigt in den Bus, der ihn vom Grillparzerring direkt nach Hause bringt. Über Hauptbahnhof, leider, aber ohne Umsteigen. Da kann man die Karre schon mal stehenlassen. 

Linda zieht sich abermals zurück, um, wir erinnern uns, die Kriegsbemalung zu erneuern. Die Frau, die aus dem Bad zurückkehrt, ist eine Überraschung. Schick geschminkt, die inzwischen wieder getrockneten Haare zu einem imposanten Knoten gewunden, erinnert sie nur noch schwach an das alkoholisierte Wrack, das sich in der Klinik einer wahren Mon Chéri-Orgie hingegeben hatte. 

"Na, wieder gut, Linda?"
Ich schenke ihr einen blumigen Ceylon ein und lasse eine Aspirin in ein Glas mit Wasser fallen. 

"Die Schwester wird erpreßt. Ich bin sicher, daß sie erpreßt wird. Ständig klingelte das Telefon, und sogar dieser rothaarige Gemüsehändler tauchte auf..."
"Na klar! 'Nein, Ole. Ich habe doch gesagt: Nicht im Dienst. Bist du total übergeschnappt?' und 'Schlag dir das aus dem Kopf. Die Polizei ... ' hat sie gesagt, als ich das erste Mal Frau Raddatz besuchte! Und jetzt war er sogar da?"

"'Er war da' trifft es nur ungefähr. Die beiden kennen sich lange. Ich bin sogar sicher: Zwischen Jutta und Ole läuft was! Vertraut meinem weiblichen Instinkt! - Ach so, mir fällt gerade noch ein: Frau Raddatz ist von der Intensiv auf die Normalstation verlegt worden. Sie ist aufgewacht. Deswegen habe ich mich auch zurückgezogen. Wäre peinlich gewesen, wenn sie meine Geschichte von der besorgten Nichte nicht bestätigt hätte, oder?" 

Da hat sie recht.

So. Gleich morgen. Erst Ole Harms, dann zu Frau Raddatz. Wo ist Erich Fuhrt? Warum ist Ercan tot? Wer fuhr Frau Raddatz an? Welcher Rolle spielt Herr Bätjer? Worin besteht die Verbindung zwischen ihnen? Es muß doch eine einfache Erklärung geben! 

22:00 Uhr. Eine silbergraue Limousine biegt vom Grillparzerring in den Kafkaweg ein. Lars parkt den Wagen rückwärts ein. Gottseidank ist kein Dackel unterwegs. Da kann er für nichts garantieren. Im Rückspiegel kontrolliert er sein Aussehen. Seine Mutter hatte schon immer gesagt:
"Junge, egal, was du tust, aber achte auf dein Äußeres. Laß dich nicht gehen!"
Zum Friseur mußte er bald. 
Nichts zu sehen im Rückspiegel. Diese verfluchten getönten Scheiben! Nie wieder! Besonders, wenn eine Straße so düster ist wie diese hier. 
Verdammte Müdigkeit. Er hatte versucht, zu Hause sich noch etwas hinzulegen, hatte aber aus Sorge, zu verschlafen, kein Auge zugetan. Hätte er bloß die kleine rote Thermoskanne mit Kaffee mitgenommen! Wann kommt die Zielperson endlich?!
Ein Scheißjob. Der eine wie der andere. Tagsüber sitzt man in der Filiale und verweigert  Leuten, die man kennt, Kredite, die zum Überleben dringend gebraucht werden, und abends nimmt man Leuten, die man nicht kennt, das Leben. Verwandte Berufe, oder? Die Übergänge zumindest sind fließend.

Dabei hätte aus ihm etwas werden können.
In der Schule war er der Erste, der eine feste Freundin hatte. In der Tanzschule rauften sich, wenn der Lehrer "Damenwahl" ausrief, alle Mädchen seinetwegen, um sich der Konkurrenz zu entledigen. Dennoch hatten seine Beziehungen nie lange gehalten, bis auf die eine ... 

Aber das durfte nicht bekannt werden. Er hatte Unregelmäßigkeiten bei Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten, in diesem Fall, Rückzahlung eines Darlehens, gedeckt. Aber er war verliebt. Und er war auch nur ein Mann. Und als sie dann auch noch schwanger wurde ... 

VERDAMMT! Die Zielperson! Und er hat die Walther noch nicht zusammengebaut!

Hastig reißt er den formschönen Karbonkoffer vom Rücksitz und öffnet mit zitternden Fingern die Verschlüsse. Wie war das noch? Den Lauf eindrehen. Er nimmt das Stahlrohr, es entgleitet ihm und fällt in den Fußraum seines Wagens...

Es ist sowieso zu spät. Bis er das Ding zusammen hat, ist die Zielperson, die gerade die Treppe zum Eingang hinaufsteigt, längst in ihrer Wohnung verschwunden, vermutlich schon unter der Dusche. 

Er macht einen Satz aus dem Auto.

"Hallo! Moment, bitte! Moment ... "
Die Zielperson hält inne. 
"Ja? Wer sind sie?"

Mit einem Satz ist Lars, der Auftragskiller, bei ihr, packt sie am Arm, den er nach hinten verbiegt, und legt seinen freien Arm um ihren Hals ...

Jeroen schreibt eine Liste. Offenbar eine Namensliste. Großer Gott! Mein 60. Geburtstag! Er wird doch nicht ...

"Jeroen, du wirst doch nicht ..."
"Natürlich nicht. Wie kommst du bloß auf sowas?"

Er ist so ein schlechter Lügner. Grottenschlecht, wirklich. Katrin und Rowbin, Ingela und Karsten, Hannes und Philipp, Birte und Martina, lese ich. Was soll das sein? Ein Einkaufszettel? 

"Du weißt, ich hasse Überraschungen, oder?"
"Ja, ist mir bekannt."
"Keine Feier, kein Brimborium!"
"Natürlich nicht."

Warum kann ich ihm nicht glauben?
"Warum kann ich Dir nicht glauben?"
"Weil Du ein Dussel bist."

Lacht, und gibt mir einen Kuß auf die Nasenspitze. 

( Oh weh. Verehrte Leserin, geehrter Leser, ich persönlich fand ja schon Ercans Ableben betrüblich. Aber jetzt? In einem Kapitel ein treues Haustier UND ein nichtsahnender Mitmensch, der vielleicht gerade von der Arbeit kommt und sich heiter überlegt, womit er sich an seinem freien Wochende zerstreuen möchte? Nun gut. Wird Frau Raddatz sich an den Unfallhergang erinnern? Warum verheimlicht Ole Harms die Beziehung zu Schwester Jutta? Und vor allem: Hätte die kleine, rote Thermoskanne das Ende dieser Geschichte beschleunigt?





Ich kaufe einen aparten Strauß Blumen. Pinkfarbene Anemonen, Freesien und Rosen, Ton in Ton. Ein Strauß, wie er nicht passender in ihrem Wohnzimmer hätte stehen können. Sogar die Vase habe ich vor Augen. Ein wunderbares Stück, Gottseidank heil geblieben. Ganz schlicht, weiß, ein zartes Mohndekor, Trompetenform. Der Vorlage von Schinkel entsprechend. KPM, natürlich. Fast schade, daß die Blumen diese Vase nie kennenlernen werden. 

"Bitte entschuldigen Sie den Überfall, Frau Raddatz! Ich freue mich, daß es Ihnen wieder besser geht!"
"Kennen wir uns, junger Mann?"

Überraschung und Mißtrauen schlagen mir entgegen. Mein Blumenstrauß bleibt gänzlich unbeachtet. 

"Frau Raddatz, mein Name ist Bond. Ich bin Privatdetektiv und untersuche einen möglichen Entführungsfall, das Verschwinden eines Obdachlosen. Sein Verschwinden hängt fraglich mit ihrem Unfall zusammen. Haben sie ..."

... noch irgendwelche Erinnerungen, will ich sagen. Die Patientin läßt mich den Satz nicht vollenden. 
"Bond? Etwas Lächerlicheres ist ihnen nicht eingefallen? Ich bin eine alte Frau, und ich lag wohl einige Tage im Koma. Deswegen bin ich nicht senil!"
"Liebe Frau Raddatz ..."
"Ich bin nicht ihre 'liebe Frau Raddatz'! Verschwinden sie!"
"Bitte, Frau Raddatz ..."
"Verschwinden sie, oder ich klingele nach der Schwester!"
"Aber ..."
"RAUS!!! HILFE!!! HIIILFEE!!!"

Die Lautstärke ihrer Forderung treibt mich zur Tür. Ich halte inne. Schnell gehe ich zum Tisch, auf dem ich die Blumen deponiert habe. Ich ergreife den Strauß und gehe ohne ein Wort des Grußes. Alte Hexe!

Draußen begegne ich der Stationsschwester. 
"Na? Haben Sie unser Sonnenscheinchen kennengelernt?" 
Sie lacht vergnügt.
"Als Koma-Patientin war sie deutlich angenehmer! Aber der Chef hat einen Narren an ihr gefressen, keiner weiß, warum!"
"Hat sie ihnen gegenüber etwas über den Unfallhergang erzählt, Schwester ... ääh, Ellen?"
Schwester Ellen hebt bedauernd die Schultern. 
"Retro- und anterograde Amnesie. Nichts zu machen. Vielleicht kommt die Erinnerung später zurück."

Die Erinnerung ja, ich nicht. Ganz sicher. Nicht nur vielleicht. Immerhin habe ich die Blumen gerettet. So. Jetzt zum Gemüseladen. 

Selbstverständlich hat Schwester Jutta keinerlei Mühe, sich aus dem etwas amateurhaften Würgegriff ihres Angreifers zu befreien. Lars Seemann spürt plötzlich ein starkes Brennen in den Augen, zusätzlich Atemnot und Jucken in der Nase. Und dann gehen bei ihm endgültig die Lichter aus, als Jutta nach gezielter Anwendung des Pfeffersprays noch ihr Knie mit aller Kraft dem Auftragskiller zwischen die Beine rammt. Er geht zu Boden. Lautlos sinkt er in sich zusammen.

Er kommt deswegen wieder zu sich, weil ihm jemand mit einem feuchten Waschlappen die Augen und das Gesicht abtupft. Verdammt, tun ihm die Nüsse weh! Da, wo er sonst den Bauch fühlt, ist nichts mehr. Nur ein schwarzes Loch ... Ihm ist schlecht. Kotzübel.
Schwester Jutta tupft. Vorsichtig, fast zärtlich.

"Was sollte der Quatsch? Das hier ist ganz allein ihre Schuld!"
Jetzt leistet sein Opfer schon Erste Hilfe bei ihm. Soweit ist er schon gekommen. Er ist wirklich der lausigste Auftragskiller der Welt. Ob man die Walther bei Ebay einstellen kann? 

"Ja, ich weiß", sagt er zerknirscht. 
"Tut mir auch leid, wirklich."
"Kommen sie. Gehen wir hoch in meine Wohnung. Ich glaube, untenrum können sie auch etwas Abkühlung vertragen!"

"Ich merke, Herr Harms, daß ich langsam ärgerlich werde. Sie verschweigen ihr Verhältnis mit Schwester Jutta, sie belügen mich über das Verschwinden von Erich Fuhrt, vermutlich haben sie auch Ercan auf dem Gewissen! Es ist an der Zeit, die Wahrheit zu sagen!"

Ich habe mich vor ihm in bedrohlicher Pose aufgebaut, ihn am Revers seines graugrünen Kittels gepackt, der einen ziemlich reizvollen Kontrast zu seinen roten Haaren darstellt.

"Ok, Sherlock Holmes, ok. Deine Hauptfrage ist doch die nach Erich Fuhrt, oder?"
Ich nicke.
"Also: Er wurde nicht entführt, und es geht ihm gut. Reicht das?"


Er ist wirklich attraktiv, denkt Schwester Jutta. Wirklich SEHR attraktiv. Na gut, zum Friseur könnte er mal wieder. Aber dies kantige, männliche Gesicht, dazu die schönen, feingliedrigen Hände mit den langen schlanken Fingern, der athletische, muskulöse Körperbau, starke Schultern ... da fühlt man sich einfach sicher, als Frau. 

"Ich hab von gestern noch Hühnerbrühe im Kühlschrank. Ich mach sie dir in der Mikrowelle heiß, ja? Du hast bestimmt Hunger!" 

Seinen Kopf unterstützt sie sorgsam mit einem Kissen, die heiße Brühe flößt sie ihrem Opfer mit einem Löffel ein. Er sabbert etwas, die Lippen sind noch geschwollen vom Spray. Vorsichtig tupft sie seine Mundwinkel mit einer Serviette. Eine wundervolle Frau, denkt er. Was für eine wundervolle Frau.


Gut, daß Peter nicht zu Hause ist. Jeroen hat alle Hände voll zu tun. Telefonat, abhaken, Telefonat, streichen, Telefonat, mit Textmarker hervorheben ... aber wie oft wird man schon 60 im Leben, oder? 

"Kann ich was helfen", erkundigt sich Linda, die in der Küche klar schiff gemacht hat. 
Jeroen denkt kurz nach. Dann gibt er Linda einen Zettel mit einer Adresse. "Kannst du das organisieren?" 


"Und woher, Herr Harms, wollen sie das wissen?" 
"Meine Schwester hat es mir erzählt. Schwester Jutta."
"Wozu brauchen sie eine Krankenschwester?"
"Sie ist nicht meine Krankenschwester. Sie ist meine Schwester!" 
"Und woher weiß ihre Schwester das?"
"Weil 'Erich Fuhrt' in ihrem Krankenhaus liegt."

Ich merke so etwas wie Ungeduld in mir aufsteigen. 
"Ich will die ganze Geschichte. Sonst erzählen Sie sie auf dem Polizeirevier."

Ole Harms setzt sich auf eine umgedrehte Apfelkiste. 

"Du warst doch in der Goethestraße, oder?"
"Das ist wahr." 
"Hast du den Bätjer gesehen, der gegenüber von der Raddatz wohnt?"
Ich bejahe auch dies.
"Also: Zwischen den beiden herrscht Krieg. Es wird immer schlimmer. Bätjer hat versucht, ein Komplott gegen die alte Hexe zu organisieren, und als sie angefahren wurde ... "
"Ein Attentat?"
"Ach Quatsch! Reiner Zufall! Der Fahrer des Wagens ist viel zu dämlich, um jemanden zu töten! Nein, die Raddatz kam in die Klinik, und er hat Jutta unter Druck gesetzt, sie aus dem Koma in ein besseres Leben zu befördern! Gedroht hat er ihr. Aber Jutta hat sich nicht beeindrucken lassen. Außerdem hatte Bätjer noch das Problem mit Erich ..."

"Aha. Was ist also mit Erich?"

"Wie soll ich dir das erklären? Erich heißt nicht Fuhrt, sondern Bätjer. Jenny Bätjer. Sie ist nicht sein Sohn, sondern seine Tochter. Getarnt mit angeklebtem Bart und Sonnenbrille. Und sie war schwanger, was sie hinter ihrer Maskerade geschickt versteckte. Außer, daß sie immer dicker wurde."
"Wozu die Verkleidung?"
"Der alte Bätjer durfte nichts wissen. Der Vater des Kindes ist Professor Kluge, der Chefarzt der Klinik. Und Kluge ist der Bruder von der Raddatz. Jenny hat Kluge ja in der Goethestraße kennengelernt. 
Ein Kind vom Bruder seiner Erzfeindin - das geht überhaupt nicht!"
"Und wieso verschwand Erich ... also, Jenny ... so plötzlich?"

"Das Kind war eine Steißlage. Eines Tages kommt Jenny in meinen Laden, mit einer Blutung. Mit ihrem T-Shirt haben wir diese notdürftig gestoppt. Da kam Seemann vorbei, ich habe mit dem Inhalt des Verbandskastens aus der Limousine eine Tamponade gemacht, und er hat sie in die Klinik gebracht."

"Und warum mußte Ercan sterben?"
"Kismet! Der alte Propankocher! Ich hatte ihn mehrfach gewarnt, aber er wollte nicht auf mich hören!"

Ja. Aha. Da hätte ich aber auch wirklich von allein draufkommen können. Zwingende Logik. 
"Was wurde aus dem Baby?"
"Ein Junge. 52 cm lang, 3350 g schwer. Kerngesund."


"Ich bin froh, daß ich die Walther nicht rechtzeitig zusammengesetzt habe!"
Lars hat Juttas Hand ergriffen und sie sanft gestreichelt. Mit ihren vollen, weichen Lippen berührt sie vorsichtig seine Schläfe

"Sag mal, könntest du dir vorstellen ... "
"Mit dir kann ich mir alles vorstellen!"
Jutta lächelte. 
"Wenn man bedenkt, daß du mich vor wenigen Stunden noch ermorden wolltest ..."
Lars kicherte.

"Siehst Du, das ist der Unterschied. So viele Männer wollen ihre Partnerinnen am Ende der Beziehung ermorden. Das haben wir bereits zum Anfang unserer Beziehung erledigt. Ab sofort sind wir nur noch glücklich! Depressionen und Streitereien sind an der Garderobe abzugeben!"



Man kennt das ja, oder? Man wacht morgens auf, und irgendein komisches Gefühl im Magen sagt einem: es wird etwas passieren. Dazu muß man kein Hellseher sein. Bin ich auch nicht. Gottseidank. Aber leider: Ich werde 60. 

Es bringt nicht nur Nachteile mit sich, zu altern. Man wird klüger, freundlicher, weiser. Auch etwas selbstbewußter. Aber leicht ist was anderes. 
Und nun muß ich auch noch befürchten, daß an diesem wunderbaren, sonnigen Aprilsonntag mein Lebensgefährte sich irgendwas ausgedacht hat, was ich vielleicht gar nicht mag, weil ich so ungern im Mittelpunkt stehe. Ich weiß ja, daß er das macht, weil er mich liebt, aber warum können wir nicht einfach ins Café, frühstücken, und das war's? 

"Du, hast Du Lust, ins Café, frühstücken?"

Na also, geht doch! 

Wir betreten das Café. Alle Tische besetzt. Moment! Ich traue meinen Augen kaum. All unsere Freunde. Alle. Freunde und Verwandte. Jeroen, der Dussel, hat das komplette Café gemietet. Für mich. Ich bin sprachlos. Bloß nicht losheulen. Ich habe sowieso nah am Wasser gebaut, und mit dem Alter wird das schlimmer. Er fällt mir um den Hals. 

"Happy Birthday, Alter Sack!"

Er tut immer das Richtige. Er ist einfach wunderbar. Er ist mein Grund, zu Leben. Und heute sage ich es ihm. Später. Nicht vor allen Leuten.

Sogar Linda ist gekommen.
"Du, es gibt hier belgische Schokolade, rate mal, wie die heißt: Côte d'Or!"

Wir lachen uns kaputt. 

Da klingelt Jeroens Mobiltelefon. Er meldet sich, hört geduldig zu, sagt "Moment, bitte!" und deckt mit der Hand das Handy ab.

"Eine Frau Raddatz. Während ihres Klinikaufenthalts wurde ihre Wohnung aufgebrochen und verwüstet, vermutlich ihr Nachbar. Sie sucht einen Privatdetektiv!" 

( So, verehrte Leserin, geehrter Leser, das war's. Komische Geschichte, oder? Irgendwie schräg, nicht wirklich logisch, etwas unglaubwürdig. Aber kommt es immer darauf an? Und vor allem: Ist nicht heiter viel schöner?
Passen Sie gut auf sich auf! Und bleiben Sie albern! )



Mein Strauß hätte in dieser Vase wirklich prima ausgesehen!
Mein Strauß hätte in dieser Vase wirklich prima ausgesehen!
Endlich mal Côte d'Or ohne Alkohol! Allerdings: Linda wird zunehmen!
Endlich mal Côte d'Or ohne Alkohol! Allerdings: Linda wird zunehmen!