K(l)eine Rechtfertigung


Ich muss da noch mal was loswerden. Eine Freundin hatte nach prägender Musik in die Runde gefragt, und ich hatte als erstes und vielleicht prägnantestes Erlebnis Benjamin Brittens „The Young Persons Guide to the Orchestra“ genannt, das ich mit 6 bei den Salzburger Festspielen hörte. 


Damit habe ich ein freundlich-dezentes Feedback bekommen, aha, mit goldenem Löffel im Mund geboren, könnte als Arroganz ausgelegt werden, Vorsicht. 

Deswegen würde ich gern die ganze Geschichte erzählen:


Nein, der Löffel war aus Blech. Wir waren arm. Die Machtansprüche meiner Mutter innerhalb ihrer Beziehung hatten meinen Vater vertrieben, als ich ein Jahr alt war. Der ihr vom Gericht zugesprochene Unterhalt betrug DM 20.-. Wir zogen bei Oma ein, und meine Mutter gab, um Geld zu verdienen, Nachhilfestunden in Latein, Englisch und Deutsch ( ratet mal, in welchen Fächern ich in der Schule besonders gut war! ). 


Ihr Hauptanliegen waren mein Fortkommen und meine Ausbildung, meine ‚Karriere‘, also, aber das sagte man damals noch nicht. Eine sehr schwere Bürde Zeit meines Lebens. Das Geld, das ihr zur Verfügung stand, wurde in Reisen, Bücher, Theaterkarten und Museen investiert. Salzburg hatte sie sich zusammengespart und noch was von Oma geliehen. 


Sie hatte einen Hang zu besonders guten Hotels, auch wenn wir uns das maximal 2 Tage leisten konnten. Und so kam es, dass wir im ‚Goldenen Hirschen‘ in der Getreidegasse abstiegen. Von unserem Zimmer aus sah man auf die Pferdeschwemme, das Große Festspielhaus lag um die Ecke herum. 


Ich bin im Konzert eingeschlafen, restlos überfordert. Bei Beethovens 9.. Mama war das etwas peinlich, weil ich angeblich schnarchte - was ich bis heute nachdrücklich bestreiten möchte. Sie brachte mich in der Pause zum Hotel hinüber, und ich hatte Hunger. Mama bestellte Würstchen, und diese wurden in einer glänzenden ovalen Messing-Terrine, in heißem Wasser schwimmend, sehr stilvoll serviert. Diesen Anblick habe ich immer noch vor Augen. So einen Aufwand hatte ich bis dahin noch nie erlebt - weder im Bezug auf Würstchen, noch im Hinblick auf mich. 


Machen wir einen Zeitsprung. Ich bin inzwischen 14 und habe im Musikunterricht in der Schule von Herrn Bergmann einen Film über die Instrumente des Orchesters vorgeführt bekommen, begleitet von einer wunderbaren Musik, die mir bekannt vorkommt. Ich erkläre meiner Mutter, dass ich unbedingt eine Schallplatte brauche. Als ich ihr erzähle, welche es ist, ist sie verblüfft. Sie produziert aus ihrem ‚Erinnerungsschränkchen‘ ein Programmheft. Das von den Salzburger Festspielen 8 Jahre zuvor. Ich lese die gespielten Musiken. An erster Stelle steht „The Young Persons Guide to the Orchestra“.


„Daher kennst du das Stück“, behauptet sie. 


Nein, schade. Mit goldenen Löffeln kann ich nicht dienen. Was mich bis heute überrascht, ist, dass es offenbar so etwas wie ein musikalisches Gedächtnis gibt. Ich hätte den Zusammenhang ohne den Hinweis meiner Mutter selbst nicht mehr herstellen können. 

Ich hoffe, Ihr versteht, warum diese zwei Tage Salzburg meiner Kindheit so eine große Bedeutung für mich haben. 



Peik



Sie hätten auch so gehandelt.


Ich bin sogar sicher. Stellen Sie sich vor: Sie befinden sich auf einer Fahrt durch den Harz, genauer gesagt, Quedlinburg. Was steht da? Auf dem Schild am Zaun? Peik Jennings, Installationen aller Art? Nachdem die erste Überraschung sich gelegt hat, fragt man sich wieder einmal, ob es Zufälle gibt. Ich meine, ‚Peik‘ ist ja nun wirklich kein alltäglicher Name, oder?


Ja, auch Sie hätten in Ermangelung eines Schreibwerkzeuges den Fotoapparat gezückt und ein Bild für das Schild geopfert, auf dem sich Ihr eigner Vorname mit einem fremden Nachnamen vereinigt. Und Sie hätten all dies, einem kleinen Prolog gleich, der Erzählung Ihres Lebens vorangestellt, denn:


Der Vorname „Peik“ hat mich Zeit meines Lebens zu etwas Besonderem werden lassen, auch wenn mir das Bewusstsein, wirklich etwas Besonderes zu sein, völlig abgeht. Ja, gut, als einmaliges Geschöpf ist ja nun jeder etwas Besonderes, aber nur eine winzige Ergänzung für das Gefüge der Zeit. Endlich und irgendwann vergessen. Anders als jene, die Kompositionen, Bauwerke, Literatur vererben und sich damit den Nachruhm sichern. Nein, zu denen gehöre ich sicher nicht. Als Arzt konnte ich gelegentlich im Leben der anderen Besonderen Spuren hinterlassen - was vermutlich den Sinn meiner Existenz ausmacht und mir immer wieder erlaubte, mich besonders zu fühlen - was dann aber schnell durch die Tagesroutine eingeebnet wurde.


Wissen Sie eigentlich, oder können es sich zumindest vorstellen, wie schwierig es ist, sich als ein „Peik“ zu behaupten? Völlig alleingelassen mit einem Vornamen, der Sie zu etwas Exotischem, Außenstehenden macht? Mit dem man besser nichts zu tun hat, wenn man ein Michael, Wolfgang oder Rainer ist? Immer sofort zu erkennen, Verwechslungen ausgeschlossen. Nur gelegentlich mit dem Geschlecht - weiß man doch nicht sicher, ob es sich bei „Peik“ nun um einen Jungen oder ein Mädchen handelt, was immer wieder Anlass zu Ärger, Neckereien, Trauer und Scham gibt. Immerhin, bei einem Wolfgang unterstellt man das sofort, dass es sich um einen Jungen handelt, einen starken, kräftigen Jungen, vermutlich. Ein „Peik“, wenn er denn überhaupt ein Junge ist, kann doch nur schwach und unmännlich sein.


Und wenn dann keiner mit einem spielen will, wird man eben besonders, schon, weil einem kaum etwas anderes übrig bleibt. Man ragt wie ein Leuchtturm aus der Masse der Michaels, Wolfgangs oder Rainers heraus, dadurch, dass man sich ein grimmiges und bissiges Temperament erwirbt, versucht, etwas besser zu sein als die anderen, und da, wo man nicht besser sein kann, weil das Talent fehlt, doch wenigstens originell.


Ich denke, Sie hätten ebenso gehandelt, und nach einigen Wochen Bedenkzeit dem anderen Peik geschrieben.


Und ich sehe Ihre Enttäuschung über die Nachricht seiner Ehefrau. Ihr Mann sei mit Ende 40 vor Rostock anlässlich eines Segelunfalles ertrunken. Spannend: Auch für Ihn, der in der anderen Hälfte Deutschlands aufwuchs, war das Buch von Barbra Ring der Namensgeber. Es fühlt sich ein wenig so an, als habe man einen Freund gefunden, um ihn gleich wieder zu verlieren. Ein Alter Ego, die andere Hälfte, nach der man doch sein Leben lang auf der Suche ist. Ohne die man nicht ganz, nur halb ist ... oder …?


Mit meinem Nachnamen, Volmer, verhält es sich unterschiedlich. Die Mutter meines Vaters, Lieselott Anders, lernte 1930 einen attraktiven jungen Mann, einen Polen aus Danzig, kennen, mit dem sie sehr bald Tisch und Bett teilte. Herr Borucki ( bitte um polnische Aussprache, also "Borutz-ki" ) wollte wegen der politischen Verhältnisse nach Polen zurück, Lieselott in Cuxhaven bleiben. Wer hätte auch ahnen können, daß der Krieg, vor dem er floh, ihm dorthin folgen würde! Das Kind Jürgen erblickte am 10. April 1931 die Welt. In dem Folianten diesen Jahres, der auf dem Standesamt Cuxhaven einzusehen ist, steht ein handschriftlicher Eintrag eines Beamten, der mit Feder und Tinte festhielt, daß im Herbst 1931 ein Herr Willi Volmer vor ihm, dem Standesbeamten, erklärte, durch Eheschließung mit Frau Lieselott  Jürgen an Sohnes Statt anzunehmen. 

So wurde aus mir ein Volmer, und ein Deutscher, obgleich ich von Hause aus ein Borucki bin, und ein Achtel Pole.




Lieber Peter,

Es war ja zu befürchten. Alles ist gescheitert. Aber wirklich gesagt: ALLES. Dabei hatte ich mir so viel Mühe gegeben. Für strahlenden Sonnenschein gesorgt, ein informatives Sightseeing-Programm ausgedacht, um Dir Gegend zu zeigen, mir rasch noch einige Fakten und Statistiken reingezogen, um auf kritische oder detaillierte Nachfragen kompetent antworten zu können ... Und dann kam alles ganz anders. 

Wer uns vorgestern und gestern beobachten konnte, sah zwei reizende, ältere, weißhaarige, bärtige Herren, die ihr Verfallsdatum offensichtlich überschritten hatten, allerdings herumalberten und lachten und vergnügt waren, und sich viel zu sagen hatten. Sehr viel. So viel, dass das Geplante mit der Heckenschere auf ein unvermeidliches Minimum gekürzt wurde, um Raum zu schaffen für Notwendiges. 

So kann's kommen, wenn man sich vor mehr als 40 Jahren zuletzt sah, nachdem man lange gemeinsam die Bank gedrückt hatte. Die Schulbank, nämlich. Du als Rebell, unangepasst und stur, ich als Klassenclown, der keinen Moment die Klappe halten konnte. Waren wir Schulfreunde? Nein. Wir waren Klassenkameraden, bestenfalls. Mitschüler. Wir waren zu jung, zu dumm, zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um über jemand anderen nachzudenken. Wir kannten uns, aber wir begriffen uns nicht. 

Wir haben ein großes Geschenk erhalten. Das Geschenk einer zweiten Chance. Wir haben uns Einblicke in unsere Leben gestattet, damals, und heute. Wir haben unsere Entwicklung verdeutlichen können, und wir durften lernen, uns zu verstehen. 
Hast Du das auch so genossen? Stück für Stück die Deckung fallen zu lassen, sich öffnen zu können? Auch Tatsachen zu erwähnen, die schmerzlich waren, wissend, auf wohlwollende Ohren zu stoßen? Bewertungen von Ereignissen und Menschen aus zwei Blickwinkeln vergleichend gegenüberzustellen? Vertrauen zu können? 

Wir waren Mitschüler. Bestenfalls Klassenkameraden. 

Inzwischen sind wir Schulfreunde geworden, quasi über Nacht. Es hat einen Augenblick gedauert, aber better late than never, wie der Angelsachse gern mal sagt. Ich danke Dir für alles, Peter. Besonders für das warme, fröhliche, freundliche Gefühl, das Du in meinem Herzen zurückläßt, und das mich glücklich macht. 

Auf dem Balkon steht noch Dein Aschenbecher. Du hast ihn nicht ganz voll gekriegt. Ich werde ihn dort stehen lassen, so lange wie möglich. Aus sentimentalen Gründen. 
Ey, und hör mal mit der Scheiß-Qualmerei auf! Ich brauch Dich noch, Du Knalltüte! 

Ich umarme Dich von Herzen.

Dein Peik




Oans, zwoa, gsuffa! 

Ich muss wohl 5 oder 6 Jahre alt gewesen sein, da besuchten Mama und ich Anke in München, die dort am Hanser-Verlag ihre Buchhändler-Lehre absolvierte. Meine Tante bewohnte mit ihrem Mann eine winzige Wohnung in Schwabing, in einer sehr bunten Ecke. Da beide, Anke und Kanut, arbeiteten, besichtigten Mama und ich auf eigene Faust die Stadt, ich wurde ins Deutsche Museum, die Alte Pinakothek und nach Hellabrunn in den Zoo geschleift, damit das Kind was lernt. 

Das macht natürlich hungrig, und da als preiswerteste Version der stilvollen Nahrungsaufnahme der Biergarten erschien, begaben wir uns in den Nächstgelegenen. Mama, außer Rand und Band, bestellte eine Mass. Nicht wahr, immerhin war man in München. Wenn schon, denn schon. Das gehört eben dazu, dort. 

Nicht bedacht hatte sie, dass Alkohol daheim praktisch nicht vorkam. Auch Zigaretten nicht. Für derlei Extravaganzen gab es einfach kein Geld. Wasser, Sinalco, Kakao, und meistens Omas selbstgemachte Säfte aus Äpfeln, Birnen und Johannisbeeren. Das wurde getrunken. Zu Silvester wurde unter der damals 15-köpfige Familie eine Flasche MM-Sekt „für höchste Ansprüche“ aufgeteilt. Weil man das eben so machte. Das war es. 

Ja, und nun kam, neben einem halben Backhendl mit Salat, von dem ich das Bein haben durfte, besagte Mass, die Mama möglichst souverän leerte - man wollte ja nicht als Landpomeranze verlacht werden. 

Der Effekt war erstaunlich. Meine Mutter, die sonst zum Lachen in den Keller ging ( auch zum Weinen ), kicherte, lachte, sprach unbekannte Menschen an, schwankte bedenklich, als wir die Einrichtung verließen, und sang. Bitte, sie sang! Auf offener Straße, völlig ungeniert! Sie taumelte, und trällerte fröhlich. Ich höre das noch heute, jetzt gerade, wo ich dies niederschreibe, auch. „What shall we do with the drunken sailor ...“

Ja, was sollte ich tun? Sie reagierte nicht auf meine hilflosen, verzweifelten Versuche, sie durch Anstupsen, Ziehen an Arm und Kleidung, Bitten in der ursprünglichen, vertrauten Zustand zurückzuversetzen. Ich hatte nicht bloß Angst. Mich hatte Bestürzung erfasst, ein Schock, Panik. Mama benahm sich nicht mehr in vertrauter Weise. Ich kannte sie nicht mehr, und ich war in einer riesigen, fremden Stadt, allein, auf mich gestellt, und hilflos. Irgendwie schafften wir den Rückweg, gerade noch so rechtzeitig, dass Mama sich ihres Anteils des Hähnchens, von Fremden unbeobachtet, entledigen konnte. 

Ich habe mit, sagen wir mal, Rauschmitteln nie persönlich zu tun gehabt. Ich fühle mich unwohl, wie damals in München. Ich erinnere mich an die Examensfeier bei meinem Studienfreund Friedrich. Plötzlich konzentrierte sich die Aufmerksamkeit aller auf so eine komische Zigarette, die ganz offensichtlich ein Anfänger gerollt hatte, so konisch deformiert, wie sie aussah. Es roch so ekelhaft, plötzlich. Die unechte Heiterkeit der feiernden Absolventen kannte kaum Grenzen. Ich hatte Peggy gefragt, was denn plötzlich los sei. Nie habe ich in ein überraschteres Gesicht geblickt. „Im Ernst? Das weißt Du nicht?“ Und dann brach sie in ein hemmungsloses, schrilles Gelächter aus.  Ich hielt es für besser, nunmehr zügig aufzubrechen. 

Ich habe diese Angst nie verloren. Einmal habe ich es versucht. Mit Wein. Nach ganz viel „Jetzt stell Dich nicht so an“'s. Es schmeckte mir nicht, es bekam mir nicht. Und ich bin nicht in der Lage, im Genuss alkoholischer Getränke einen funktionellen oder gustatorischen Vorteil zu erkennen. Ich bin gesellig, mein Selbstbewusstsein reicht aus, um auch mit Unbekannten zu reden. Ich brauche Alkohol nicht, um Hemmschwellen zu senken, ich muss mir niemanden schön saufen, ich will nichts vergessen, und an Problemlösungen gehe ich grundsätzlich anders heran. 

Wenn nun jemand meiner Freunde gelegentlich ein Bier, ein Wein, irgendwas Kurzes zu sich nimmt, ist das in Ordnung für mich, solange ich nicht mittun muss. Danke, ich nehme ein Wasser. Wenn ich außer Rand und Band bin, sogar mit Kohlensäure. Also, ‚medium‘. Auch THC kann ich tolerieren. Es gibt chronische Schmerz- oder Krebserkrankungen. Und ich muss ja nicht dabei sein, also, erzählt es mir gar nicht. 
Wenn sich dieser Alkohol- bzw. Drogenkonsum allerdings zu einer Gewohnheit entwickelt, einer Selbstverständlichkeit, ohne die es nicht mehr geht, aus welchen Gründen auch immer - habe ich ein Problem. Das ist so. 
Es handelt sich um ein Gefühl, das in mir entsteht. 
Das Gefühl eines kleinen, hilflosen Jungen vom Dorf, der plötzlich beobachten muss, dass seine stabile, zuverlässige Welt, so schwierig sie auch ist, abhanden kommt. 

Und der sich ängstlich fühlt, weil er alleine ist, in einem Leben, das gerade auseinanderzubrechen droht. 

Entschuldigung, aber damit kann ich einfach nicht umgehen.