Viel zu schön, um tot zu sein
Gestern also haben wir Anke zu Grabe getragen. Vielleicht hätte sie sich drüber geärgert. Anonym, sollte es sein. Und jetzt wissen doch 7 Menschen, wo genau sie ruht, zu Füßen einer wunderbaren,
riesigen Buche, die in friedlicher Erhabenheit auf einer Wiese uns alle überdauern wird.
Wir haben um unsere Fassung gekämpft. Der Abschied fiel uns schwerer, als gedacht - und uns war klar, dass er uns sehr schwer fallen würde.
Meine liebe, wunderschöne Tante ist bereits zu dem geworden, zu dem wir alle werden: Erde, Asche, Staub. All dies liegt nun in einem schlichten, weißen Gefäß, das eine Picasso-Zeichnung und
ein winziges Gesteck aus ihren Lieblingsblumen, blauen Stiefmütterchen, als unaufdringlichen Schmuck trägt. Das Gefäß steht auf einem schwarzsamtenen Podest, das von Kerzen umgeben ist, auf
Augenhöhe.
Minutenlang hängen wir unseren Gedanken nach. Mein Kopf ist voll mit Bildern, von Weihnachten, Schlittenfahren am Deich, Vorlesen, Geschichten erzählen, Familienfesten. Von ihrer Stimme,
deren Klang ich verlieren werde, wie schon den von Oma oder Mama. Auch sie wird verstummen, eines Tages, in meinen Ohren, auch wenn ich ihre Sätze im Herzen behalte.
Ihr sinnloser Versuch, bei fröhlichen Runden mit einem Witz aufzutrumpfen, die Pointe zu verpatzen und im verzweifeltem Bemühen, die Geschichte zu retten sich rhetorisch völlig zu verzetteln
und dabei viel witziger zu sein als der Scherz selbst.
Der Verlauf ihrer feministische Emanzipation, mit der sie die ungeliebten 50er Jahre abstreifte wie einen Handschuh.
Ihre Bemühungen, ihr MacBook zu beherrschen - sie besuchte Kurse, die der Apple-Store im AEZ anbot. „Da duzen sich alle“, stellte sie, fast 70jährig, fest. „Das mach ich jetzt auch. Ich sag
immer, hallo, ich bin die Anke!“
Und, ganz besonders, vor allem anderen, ihr großes Herz, das einem 20jährigen, zu Weltschmerz neigenden Medizinstudenten aus Berlin in ihrem Haus in Volksdorf immer wieder eine Heimat gibt,
als dessen Mutter ihm diese verweigert.
Wir setzen uns in Bewegung. Der freundliche Bestatter trägt, würdig voranschreitend, das Gefäß. Ein Erdhügelchen und ein in diesem steckender kleiner Spaten weisen darauf hin, dass dort der
Schlusspunkt gesetzt werden wird. Kein Ausrufezeichen, das hätte sie peinlich und aufdringlich gefunden. Sie hätte es ohnehin gehasst, derart im Mittelpunkt zu stehen.
Einfach ein Punkt. Das reicht.
Wir garnieren die Öffnung in dem Grün mit unseren weißen Rosen. Uwe, der nach meiner Mutter nun bereits seine zweite Schwester zu Grabe trägt, erzählt, dass Anke zu weißen Blumen einmal
gesagt hätte, „Weiß peitscht in der Natur ganz ungemein“. Er hält einen herzförmigen Kieselstein in der Hand, den er am Donaustrand des Klosters Weltenburg fand. Anke habe sich gewünscht,
dort noch einmal hinzufahren.
Es ist ein wunderbarer, sonniger Tag. Blauer Himmel, ein paar Quellwolken. Eine leichte Brise erfrischt uns, die Buche spendet Schatten. Vogelgesang. Ankes Platz. Genau Ankes Platz, da sind
wir uns einig. Viel zu schön, um tot zu sein. ‚Es ist schwer, wenn man im Frühling stirbt“, singt Klaus Hoffmann.
Nein. Sie hätte sich nicht geärgert. Sie hätte die Stirn gerunzelt, und ein wenig mit Kanut, der ihren letzten Willen großzügig interpretiert hat, gehadert. Aber dann hätte sie es gemocht.
Ich bin da ganz sicher.
Wir brechen auf. Nach kurzer Wegstrecke drehen wir uns noch einmal um. Ein grün gewandeter Friedhofsgärtner rakelt unsere Rosen in das Erdloch. Recht hat er, immerhin handelt es sich um eine
anonyme Bestattung.
Man soll sich nicht umdrehen. Wie bei Orpheus. Nicht zurückschauen. Nur nach vorn. Leben. Mehr wird nicht verlangt. Einfach nur sein Bestes tun. Nur leben.
Tschüss, Anke!