Anke Lüdtke, 15.6.1940-1.5.2018

Hätte man mir gesagt, dass Du eines Tages sterben würdest - nicht mehr da sein, fort, tot - als wir jung waren, hätte ich vermutlich gelacht und gesagt, ach Quatsch, Du doch nicht! Noch nicht mal in fortgeschrittenen Lebensjahren. Du warst immer lustig, jung und schön. Stilvoll, kapriziös, von unfehlbarem Geschmack. Ja, Du warst meine Tante, auch wenn Du diese Bezeichnung abscheulich fandest. Ich auch. In der Tat benahmst Du Dich eher wie eine große Schwester, mit der ich in Omas Garten herumtobte, oder Schneemänner baute. Erinnerst Du Dich noch, wenn wir durch den Schnee sprangen, und „Es ist kalt, es ist kalt, in dem dunklen Winterwald“ sangen? Oder zum Deich gingen, Schlitten fahren? Du hast meine Hände, die immer wohltemperiert waren, ergriffen und in Deine Manteltasche genommen, um die Deinen zu wärmen. Und gingen wir an den Strand, verstandest Du es, meine Träume in den Sand zu bauen. 

Als ich klein war, bin ich morgens nach dem Wachwerden die Bodentreppe heraufgeklettert und habe mich zwischen Dich und die Wand, an der Dein Bett stand, gequetscht. Es brauchte etwas Zeit, Dich wachzubekommen. Geschafft habe ich es immer. Und dann hast Du die winzigen Kerzen der beiden erzgebirgischen Weihnachtsengelchen auf Deinem Nachttisch angezündet, und so lange diese brannten, hast Du mir Geschichten erzählt. Deine Vorstellungskraft war heiter und unbegrenzt. Aus Deinem Namen, Anke, machte ich „Akka“. Und Akka war alles für mich. Alles Lustige, Gute, Schöne, Fantastische, Märchenhafte. 

Irgendwann nahm Dein Mann Dich mir weg. Du gingst erst nach München zum Hanser-Verlag, dann nach Hamburg zu Oetinger. Erinnerst Du Dich an diesen dämlichen Familienstreit, durch den jahrelang niemand mehr miteinander redete? Der nur Zeit kostete, die unwiederbringlich verloren ist? Ich nahm mein Studium auf, und verlor mein Elternhaus, weil mein Lebensentwurf unvereinbar war mit der Vorstellung, die meine Mutter Karen, Deine ältere Schwester, davon hatte. Sie warf mich aus ihrem Leben, in dem ich erst nach dem erfolgreichen Abschluss meines Studiums wieder willkommen war. Was tatest Du? Du ludst mich ein, und stärktest mir den Rücken, ersetztest das Zuhause. 

Dann lag Karen plötzlich im Sterben. Gemeinsam haben wir sie begleitet, gemeinsam zu Grabe getragen. Der Schock, als Du mir mitteiltest, dass der Brustkrebs auch nach Dir griff, war groß. Du hast Dich tapfer gewehrt. Wir haben versucht, ihn wegzulachen. Zu ignorieren. Aber das funktionierte nur für einen begrenzten Zeitraum. 

Ich habe es nicht verstanden, dass Du mir nicht erlaubt hast, von Dir Abschied zu nehmen. Ich bin eigens zu diesem Zweck 870 km zu Dir gefahren. Ich habe vor Deiner Tür gestanden, und Du sagtest zu mir, schade, ich habe keine Zeit! Vielleicht später. Später? Du hattest recht, auf eine ironische Weise. Du hattest tatsächlich keine Zeit. Keine Zeit mehr, nämlich. Wir wussten ja beide, dass es ein ‚Später‘ vermutlich nicht geben würde. 

Der Anruf mit der Mitteilung, dass Du nicht mehr am Leben bist, verwandelte mich schlagartig in ein sechzigjähriges Waisenkind. 

Ich wollte, ich könnte die ganzen Märchen mir dem Jenseits, dem Paradies, dem ewigen Leben glauben. Wie gern würde ich Dir sagen, nimm Oma ganz lieb in den Arm, und danke ihr für Ihre unendliche Liebe, und die vielen Dosen Mockturtle. Und die Zwetschgenmarmelade. Und sag Deiner Schwester, wie verletzt und enttäuscht ich immer noch bin. Und dass ich dies Gefühl nie ganz loswerden kann, so sehr ich mich auch bemühe. Auch wenn ich ihr verziehen habe. Wenigstens beinahe. So gut ich kann, eben. 

Ich fühle mich gerade sehr traurig. Und sehr allein. Auch wenn das gar nicht stimmt. Aber was soll ich denn machen? Ich sitze hier, schluchze, und heule mein iPad nass. 
Das ist alles, was bleibt. Wunderschöne Erinnerungen, Dankbarkeit, aber auch das einsame Gefühl, Dich nicht mehr zu haben, und der eigenen Vergänglichkeit. 

Tschüss, Akka. Gehab Dich wohl. Ich hab Dich lieb gehabt, und werde diese Liebe in mir tragen, so lange ich lebe. 

Danke. Danke für alles.


Ja, gestern waren wir also bei Kanut. Erstaunlich. Er sieht etwas klapprig aus, aber nicht so schlecht, wie befürchtet. Es ist so, wie er sagt: Man denkt, jeden Moment kommt Anke um die Ecke, etwas verschwitzt, ein paar ihrer Haare an der feuchten Stirn klebend. An ihrem Bett noch die Hausschuhe, als habe sie sie unlängst von den Füßen gestreift. Ein Kuschel-Lämmchen am Kopfende des Betts. Tabletten auf dem Nachttischchen, vermutlich wird sie die später einnehmen. Auf dem Tisch ein Sträußchen weiße Campanula, von der Nachbarin. Anke hätte es gemocht.

Kanut ist heiser. Allzu oft hat er die sechzigjährige Geschichte zu Ende erzählt. Er entspricht von seiner philosophischen Haltung her seinem Alter. Er ist nicht weinerlich oder pathetisch. Er verhält sich ungeheuer passend. Ruhig, heiter beinah. Er muss jetzt erst einmal die Reste essen, von Ankes tiefgekühlten Einkäufen. Hilfen lehnt er ab. Er sei verwöhnt worden, räumt er ein, und müsse seine Selbstständigkeit neu entdecken. 

Nur er und die Teilnehmer an der anonymen Urnen-Beisetzung werden wissen, wo auf dem Areal Anke liegen wird, an der Buche. Er habe sich das Plätzchen neben ihr schon reserviert, dann „gibt’s keinen Ärger mit der Leich'“. Und man kann dort auch sitzen. Er wird immer sonntags dorthin fahren. Und, wenn es ihn nach ihrer Nähe verlangt. 

Auf dem Weg hinaus fällt unser Blick in ihr Zimmer. Auf die Staffelei. Die Frau mit den wehenden Haaren, an der Brüstung, vielleicht der ‚Alten Liebe‘, die über das Meer in die Unendlichkeit schaut. „Ihr Zimmer“, sagt Kanut. 

Das wird es wohl bleiben. 


Viel zu schön, um tot zu sein

Gestern also haben wir Anke zu Grabe getragen. Vielleicht hätte sie sich drüber geärgert. Anonym, sollte es sein. Und jetzt wissen doch 7 Menschen, wo genau sie ruht, zu Füßen einer wunderbaren, riesigen Buche, die in friedlicher Erhabenheit auf einer Wiese uns alle überdauern wird.

Wir haben um unsere Fassung gekämpft. Der Abschied fiel uns schwerer, als gedacht - und uns war klar, dass er uns sehr schwer fallen würde. 

Meine liebe, wunderschöne Tante ist bereits zu dem geworden, zu dem wir alle werden: Erde, Asche, Staub. All dies liegt nun in einem schlichten, weißen Gefäß, das eine Picasso-Zeichnung und ein winziges Gesteck aus ihren Lieblingsblumen, blauen Stiefmütterchen, als unaufdringlichen Schmuck trägt. Das Gefäß steht auf einem schwarzsamtenen Podest, das von Kerzen umgeben ist, auf Augenhöhe. 

Minutenlang hängen wir unseren Gedanken nach. Mein Kopf ist voll mit Bildern, von Weihnachten, Schlittenfahren am Deich, Vorlesen, Geschichten erzählen, Familienfesten. Von ihrer Stimme, deren Klang ich verlieren werde, wie schon den von Oma oder Mama. Auch sie wird verstummen, eines Tages, in meinen Ohren, auch wenn ich ihre Sätze im Herzen behalte. 
Ihr sinnloser Versuch, bei fröhlichen Runden mit einem Witz aufzutrumpfen, die Pointe zu verpatzen und im verzweifeltem Bemühen, die Geschichte zu retten sich rhetorisch völlig zu verzetteln und dabei viel witziger zu sein als der Scherz selbst. 
Der Verlauf ihrer feministische Emanzipation, mit der sie die ungeliebten 50er Jahre abstreifte wie einen Handschuh. 
Ihre Bemühungen, ihr MacBook zu beherrschen - sie besuchte Kurse, die der Apple-Store im AEZ anbot. „Da duzen sich alle“, stellte sie, fast 70jährig, fest. „Das mach ich jetzt auch. Ich sag immer, hallo, ich bin die Anke!“
Und, ganz besonders, vor allem anderen, ihr großes Herz, das einem 20jährigen, zu Weltschmerz neigenden Medizinstudenten aus Berlin in ihrem Haus in Volksdorf immer wieder eine Heimat gibt, als dessen Mutter ihm diese verweigert. 

Wir setzen uns in Bewegung. Der freundliche Bestatter trägt, würdig voranschreitend, das Gefäß. Ein Erdhügelchen und ein in diesem steckender kleiner Spaten weisen darauf hin, dass dort der Schlusspunkt gesetzt werden wird. Kein Ausrufezeichen, das hätte sie peinlich und aufdringlich gefunden. Sie hätte es ohnehin gehasst, derart im Mittelpunkt zu stehen. 

Einfach ein Punkt. Das reicht. 

Wir garnieren die Öffnung in dem Grün mit unseren weißen Rosen. Uwe, der nach meiner Mutter nun bereits seine zweite Schwester zu Grabe trägt, erzählt, dass Anke zu weißen Blumen einmal gesagt hätte, „Weiß peitscht in der Natur ganz ungemein“. Er hält einen herzförmigen Kieselstein in der Hand, den er am Donaustrand des Klosters Weltenburg fand. Anke habe sich gewünscht, dort noch einmal hinzufahren. 

Es ist ein wunderbarer, sonniger Tag. Blauer Himmel, ein paar Quellwolken. Eine leichte Brise erfrischt uns, die Buche spendet Schatten. Vogelgesang. Ankes Platz. Genau Ankes Platz, da sind wir uns einig. Viel zu schön, um tot zu sein. ‚Es ist schwer, wenn man im Frühling stirbt“, singt Klaus Hoffmann. 

Nein. Sie hätte sich nicht geärgert. Sie hätte die Stirn gerunzelt, und ein wenig mit Kanut, der ihren letzten Willen großzügig interpretiert hat, gehadert. Aber dann hätte sie es gemocht. Ich bin da ganz sicher. 

Wir brechen auf. Nach kurzer Wegstrecke drehen wir uns noch einmal um. Ein grün gewandeter Friedhofsgärtner rakelt unsere Rosen in das Erdloch. Recht hat er, immerhin handelt es sich um eine anonyme Bestattung. 

Man soll sich nicht umdrehen. Wie bei Orpheus. Nicht zurückschauen. Nur nach vorn. Leben. Mehr wird nicht verlangt. Einfach nur sein Bestes tun. Nur leben.

Tschüss, Anke!